Knaller an der Zeitungsfront

Monday, March 26, 2007

"Wenn er das ernst meint, ist er verrückt" (Welt am Sonntag)

"Wenn er das ernst meint, ist er verrückt"
Der Kabarettist und Boxexperte Werner Schneyder über Henry Maskes Kampf gegen Virgil Hill und warum der Ex-Weltmeister danach aufhören muss

Werner Schneyder erlangte in den 90er-Jahren Kultstatus als Kommentator der Kämpfe von Henry Maske. Sein Fernsehpublikum begrüßte der Österreicher stets mit der Anrede: "Liebe Box-Freunde, Box-Skeptiker, Box-Gegner". Von allen habe er etwas, sagt der jung gebliebene 70-Jährige.

Herr Schneyder, Joyce Carol Oates hat in ihrem Essay "Über Boxen" geschrieben: Boxen hat sehr viel mit Lügen zu tun. Man kultiviert systematisch eine doppelte Persönlichkeit - eine gesellschaftlich akzeptable und die andere, die sich im Ring zeigt. Sind Boxer Lügner?

Das glaube ich nicht. Sie treffen eine Verabredung und benehmen sich innerhalb der Verabredung so, wie sie sich verabredet haben. Das Ballyhoo vor einem Kampf ist keine größere infantile Lüge als die Werbung in unserem Sozialleben.

Warum aber gibt es gerade im Boxen diese Comebacks?

Weil Boxen eine besonders narzisstische Angelegenheit ist, bei dem es ins Heldenhafte geht. Was ich aber in Anführungszeichen setze. Insofern ist das Ganze von Dummheit bestrahlt. Diese Eitelkeit, dieses Nicht-abtreten-Wollen, dieses Ich-bin-immer-noch-der-Dollste-Gefühl, ist im Boxen so ausgeprägt wie in keiner anderen Sportart. Kein Becker, kein Muster, kein Sampras der Welt würde das Gefühl haben, er könnte noch Roger Federer schlagen.

Warum nicht?

Weil er darüber nachdenkt und zu dem Schluss kommt, er kriegt die Bälle um die Ohren. Ich glaube allerdings, bei einem wie Henry Maske ist es ein wenig differenzierter zu sehen als bei Schulz. Schulz hat sich einem 31-Jährigen gestellt, das zeugt von einer Risikobereitschaft, die an Naivität grenzt, um es nett auszudrücken. Maske bedient sich eines Marketingtricks, indem er gegen einen Gleichaltrigen boxt. Das ist ein Seniorenmatch, das ist so, als würde eine Mannschaft von Alt-Internationalen gegen die Ex-Europameister spielen.

Virgil Hill ist aber erst voriges Jahr wieder Weltmeister geworden.

Nichtsdestotrotz ist er als Boxer alt. Maske ist ein ehrgeiziger Trainierer, wird eine fabelhafte Kondition haben, rechnet sich aus, dass sein 43-jähriger Gegner auch keine entschieden größere Physis hat als er. Andererseits ist natürlich unzweifelhaft, dass ein paar Jahre Trainingspause - und hier handelt es sich gleich um zehn - nicht aufholbar sind. Schon gar nicht im Boxen.

Die Boxexperten schütteln auch nur mit dem Kopf. Es jubeln lediglich jene, die damit verdienen.

Es ist dem Boxen immanent, unverantwortliche Dinge zu tun, wenn es ein Geschäft ist. Klar sagen alle Ratgeber - in Anführungszeichen - das Management, die Leute, die mitverdienen: Junge, du bist toll, du bist unverbraucht, du haust noch immer alle vor dir her. Maske hatte ursprünglich gesagt, dass er nur diesen einen Kampf machen möchte. Jetzt sinniert er schon darüber, bei einem Sieg dort weiterzumachen, wo er vor zehn Jahren aufgehört hat. Das ist doch völliger Blödsinn. Wenn er das ernst meint, ist er verrückt. Ein exzellenter 25-Jähriger haut ihn aus den Socken. Das ist Naturgesetz.

Unterliegt Maske der gleichen Selbsttäuschung wie Axel Schulz?

Man kann es nicht ganz vergleichen, aber es handelt sich um eine ähnliche perspektivische Täuschung, der insbesondere Boxer unterliegen. Schulz hätte selbst in seiner besten Zeit größte Schwierigkeiten gehabt, Minto zu schlagen. Genau den gleichen Verdacht habe ich bei Henry Maske. Aber wie das Wort Verdacht sagt, ich bin mir nicht ganz sicher. Maske hat doch verlauten lassen, dass er sich in Testwettkämpfen gewissenhaft geprüft hat. Ich halte ihn für so bewusst und intelligent, dass er in der Lage ist festzustellen: Bin ich nach acht Runden platt, oder bin ich es noch nicht?

Was spricht denn für diesen Kampf?

Aus meiner Sicht gar nichts. Meine These lautet deshalb: Da will das eitle Kind im eitlen Manne noch einmal zu pathetischer Musik einmarschieren, es will noch einmal die Hymne seinetwegen gespielt hören, es will noch einmal seinem Volk schwitzend und atemlos erklären, wie gut er war, wie unglaublich stark der Gegner und wie fabelhaft er selbst. Und dann will dieses im Gesicht leicht verschwollene Machokind im Abgehen noch einmal den Rängen zuwinken.

Das klingt sehr zynisch. Gönnen Sie Maske den Erfolg nicht?

Natürlich. Ich halte ihm sogar ein bisschen die Daumen. Wenn er genug Kondition hat, passiv boxt, wenn es kein sehr kämpferischer, sondern ein von Taktik und Kalkül geprägter Kampf wird, und der Wolke immer sagt: Ruhig, ruhig atmen, ruhig - wer weiß, ob Henry da nicht eine Siegchance hat.

Empfänden Sie Mitleid, wenn er verliert?

Ja, weil ich ein Mensch bin, und weil ich ihn mag.

Haben Sie jemals gedacht, dass Maske nach seinem tränenreich inszenierten Rücktritt 1996 in den Boxring zurückkehren würde?

Nein. Was kann einem auch Besseres passieren, als aus solch einer Karriere als eleganter, nicht deformierter, geistig offenbar gesunder Mann mit Wer-bewert herauszukommen. Ich habe mal gesagt: Eines Tages wird der liebe Max Schmeling sterben, und dann gibt es eine Vakanz im öffentlichen Image. Vorzeigeboxer ist eine gesellschaftliche Position. Und die ist für Maske frei. Die riskiert er jetzt.

Inwiefern?

Wenn er eine schlechte Figur abgibt oder verliert oder nur mühselig gewinnt. Ich habe die ganze Zeit gehofft, und tue das noch immer, dass es zu einer Absage des Kampfes kommt. Denn Maske kann nichts gewinnen - außer Geld.

Ist denn Image so wichtig?

Für Maske ganz speziell. Er ist ein Mann, der gern irgendwo hinkommt, und die Leute sagen hört: Schau, da ist Henry Maske. Und zwar mit einem bewundernden, respektvollen Ton. Der Gentleman-Boxer, der in der RTL-Ära das Boxen so aufgewertet hat, dass wie zu Schmelings Zeiten die Kunstszene, die Gesellschaftsszene wieder am Ring sitzen wollte. Auch bei Schulz, der jetzt alles verspielt hat.

Und was droht Maske?

Das Schlimmste, was einem eitlen Menschen drohen kann: Nämlich, dass die Leute nicht mehr sagen: Toll, der Maske - sondern: Hat er das notwendig gehabt?

Das fragt man sich doch schon jetzt.

Was glauben Sie, wie sehr man sich das erst fragt, wenn der Kampf nicht gut wird. Wo steht denn geschrieben, dass Hill gewinnen will?

Hat Hill möglicherweise so viel Geld bekommen, dass er nicht gewinnen darf?

Im Berufsboxen schließe ich nichts aus. Das gilt aber auch für Pferde- oder Autorennen. Oder Radsport. Wenn man sich die Wettskandale im deutschen und italienischen Fußball anschaut, kommt man zwangsläufig zu dem Schluss, im Berufssport ist nichts mehr auszuschließen. Und das Berufsboxen ist seit jeher ein bevorzugter Platz für Manipulationen.

Sie haben alle zwölf WM-Kämpfe von Maske kommentiert. Freuen Sie sich, ihn wieder im Ring zu sehen?

Ganz klar: nein.

Aber beim Maske-Comeback sitzen Sie sogar als Experte für RTL wieder am Ring. e

Das ist Quatsch. Ich wurde von RTL eingeladen und komme als stinknormaler Zuschauer, weil ich hautnah erleben möchte, ob ich meine Gedanken bestätigt bekomme oder nicht. Es stimmt aber, dass mir RTL ursprünglich die ganze Reportage angeboten hatte.

Und warum machen Sie es nicht?

Nach dem Kampf Schulz gegen Klitschko habe ich gesagt: Ich kommentiere kein Berufsboxen mehr. Für kein Geld der Welt. Der damalige RTL-Chef Hans Mahr hat mich für wahnsinnig erklärt, weil ich doch auf eine - für mich - riesige Gage verzichtet habe, aber einen Rücktritt vom Rücktritt gibt es für mich nicht. Ich kann doch nicht sagen, dass der bei Boxern falsch ist, wenn ich ihn mitmache.

25. März 2007, 00:00 Uhr

Die Importweltmeister (Welt am Sonntag)

25. März 2007,
Die Importweltmeister
Der Internetboom geht in die zweite Runde. Leider fällt den Deutschen immer noch wenig dazu ein. Sie klauen lieber Ideen aus den USA

Von wegen "Land der Ideen"! Wenn es um das Internet geht, recycelt der Deutsche lieber die Einfälle anderer. Diesen Eindruck jedenfalls vermitteln die Start-ups der neuen Generation, die sich das Label Web 2.0 angeheftet haben. Überall wird kopiert, was das Zeug hält: Das amerikanische Videotauschportal YouTube erlebt seine deutsche Inkarnation als MyVideo. Die Studenten-Community StudiVZ entpuppt sich als Eins-zu-eins-Kopie des US-Vorbilds Facebook. Und das soziale Netzwerk Xing (ehemals OpenBC) vollzieht erfolgreich nach, was Firmen wie LinkedIn vorgemacht haben.

Es soll die Version 2.0 der Internetwirtschaft sein, doch die Strategie der Gründer stammt noch aus der alten New Economy: US-Webideen kopieren, in Deutschland hochziehen, wenn alles gut läuft, mit Profit an den Ideenlieferanten verkaufen. Oder an sonst wen. Der heilige Gral der sogenannten Copycats scheint immer noch das Auktionshaus Alando zu sein: Dieser deutsche Klon des US-Auktionshauses Ebay wurde Ende der 90er nur vier Monate nach der Gründung vom großen US-Vorbild übernommen - für 43 Millionen Dollar.

Diese Rechnung scheint allerdings heute kaum noch aufzugehen: "Selbst in Deutschland liegen die US-Angebote vor den Nachahmern", sagt Rainer Wiedmann von Aquarius Consulting. Das Münchner Beratungsunternehmen hat in einer Studie die aktuelle Web-2.0-Szene untersucht und herausgefunden, dass trotz der diversen nationalen Konkurrenten die allermeisten Surfer immer noch das Original aus Übersee bevorzugen. Unter den zehn beliebtesten Web-2.0-Portalen in Deutschland etwa finden sich nur drei heimische Anbieter.

Warum gelingt es den Deutschen nicht, zum amerikanischen Wettbewerb aufzuschließen? "Das ist das Gesetz der großen Zahl", meint Frank Böhnke von Wellington Partners, einem der bekanntesten Wagniskapitalgeber hierzulande. Der Finanzprofi hat schon den ersten Goldrausch miterlebt und gehört zu den Veteranen der Branche. Dass Deutschland seitdem nicht aufgeholt hat, führt er vor allem auf die schiere Masse der Angelsachsen zurück: 300 Millionen Menschen in den USA, Kanada und Großbritannien stehen 100 Millionen im deutschen Sprachraum gegenüber, ergibt Faktor drei, rechnet Böhnke vor. Hinzu komme, dass in den USA mehr Menschen schnelle Internetanschlüsse hätten und diese stärker nutzten. "Alles in allem ist der US-Markt um den Faktor fünf größer."

Überdies spielt die geografische Lage gegen Deutschland. Anders als oft gedacht, macht es nämlich auch im elektronischen Geschäft einen Unterschied, wo der Unternehmer sitzt. "Im Silicon Valley haben Sie direkten Zugriff auf Yahoo und Google, diese Firmen vereinen drei Viertel des Suchmarktes auf sich", sagt Investor Böhnke. Hintergrund: Die meisten Web-2.0-Geschäftsmodelle basieren auf Werbeeinnahmen, die wiederum von den Suchmaschinen kommen. Im Vorgarten der Schwergewichte zu sitzen, ist da sehr von Vorteil.

Aber es ist nicht nur der Standort, der den Unterschied macht. "Die deutsche Finanzierungsszene ist zu konservativ", meint Berater Wiedmann, "ein YouTube hätten Sie bei uns nicht finanziert bekommen." Tatsächlich ist die Zahl der Wagniskapitalgeber, die sich noch an Internetfirmen beteiligen, von 100 zur Jahrtausendwende auf ein gutes Dutzend zusammengeschrumpft, schätzt Wellington Partners. Und die verbleibenden Abenteuerlustigen öffnen die Kasse nur zaghaft. "Es vergehen mindestens drei Monate, bis Geld fließt", schätzt Wiedmann. In der Welt des Netzes, wo täglich neue Konkurrenz auf den Markt drängt, ist das eine halbe Ewigkeit.

Paradoxerweise schadet es gerade bei der Kapitalbeschaffung nicht, sich in ausgetretenen Pfaden zu bewegen. Das musste auch Stephan Uhrenbacher, Gründer des Unternehmens Qype, erfahren. Der 37-Jährige hatte vor zwei Jahren die Idee, eine elektronische Version der Gelben Seiten aufzubauen, in denen man Kommentare zu Gaststätten und Geschäften abgeben kann. Zunächst brachte Uhrenbacher die Seite mit eigenen Mitteln ans Netz. Just in dem Monat, als der Gründer auf die Suche nach zusätzlichem Fremdkapital ging, startete in den USA mit Yelp ein ähnlicher Dienst. "Hätte es die nicht gegeben, wäre es uns deutlich schwerer gefallen, Geld zu bekommen", sagt Uhrenbacher. Denn die Investoren fragten nach einem Beweis, dass das Geschäftsmodell funktionieren kann. Weil der Qype-Mann auf ein US-Unternehmen verweisen konnte, stiegen die Chancen, ebenfalls finanziert zu werden. Obwohl die Amerikaner weder sein Vorbild noch erfolgreich waren.

In einem sind sich die Experten allerdings auch einig: Sprachbarrieren, Marktgröße, das etablierte Computertechnik-Soziotop und der Zugang zu schnellem Geld reichen als Erklärungen für die Erfolgs- und Ideenarmut der Deutschen auch in dieser zweiten Runde des Internetbooms nicht aus. Letztendlich gibt ein recht banaler Faktor den Ausschlag, der im Web 2.0 aber besonders wichtig ist: der Mensch. "Sich miteinander verbinden, das können die Amerikaner viel besser", sagt Experte Wiedmann.

Bis der Importweltmeister von Ideen im Web zum Impulsgeber wird, kann es also noch dauern. "Der Aufstieg von der vierten Liga in die Champions League dauert nun mal lange", sagt Böhnke. Dennoch: Bei der nächsten Gründerwelle in fünf Jahren könnte die Alte Welt mehr als nur ein Sparringspartner für das schwergewichtige US-Netzgeschäft sein. "Firmen aus Skandinavien und Deutschland werden stärker wahrgenommen", sagt Uhrenbacher von Qype.
Tatsächlich tauchen zunehmend Global Player mit deutschsprachigen Wurzeln auf - Jajah etwa, ein von zwei Wienern gegründetes Internettelefonie-Unternehmen. Finanziert wird Jajah von großen Westküsten-Kapitalgebern. Dafür mussten die Gründer ihr Hauptquartier allerdings im kalifornischen Mountainview aufschlagen.

Monday, March 12, 2007

Vibrationsalarm auf dem Schulhof (Berliner Zeitung)

Vibrationsalarm auf dem Schulhof
Barcelonas Lionel Messi trägt mit drei Toren gegen Real Madrid zur totalen Reizüberflutung bei
Ronald Reng

BARCELONA. Die Herzen von 100 000 Zuschauern rannten, der Verstand der Mitspieler raste. Nur Juliano Belletti ging. Wenn das Camp Nou, die größte Arena Europas, schreit vor Freude, gibt es kein Entkommen, der Jubel reißt einen fort. Belletti jedoch war die Ruhe im Rausch. Gemächlich schritt er nach dem 3:3-Ausgleich seines FC Barcelona in allerletzter Minute des Urduells gegen Real Madrid von seinem Abwehrposten zum Tor. Er nahm Leo Messi, langsam, bedächtig, und hob ihn in den Himmel. Von dort muss er kommen.

Es gibt Fußballer, die muss man nur einmal sehen und wird sie nie vergessen. Leo Messi, aus Argentinien, 19 Jahre und der Körper eines kleinen Jungen, Leo Messi, der schon Barças erste beiden Tore erzielt hatte, wie er in der letzten Minute den direkten Weg zum Tor sucht, einen Madrider Verteidiger nach dem anderen ins Leere grätschen lässt. In solchen Augenblick begreift man, was Einzigartigkeit ist. "Auf dem Rasen", sagte Messi, "denke ich nicht. Ich spiele."
Es war der passende Schlusspunkt, der Irrsinn in seiner absoluten Schönheit, zu einem Spiel, das eine einzige Reizüberflutung war. 2:1 führte Real nach 13 Minuten, 5:2 hätte Barça nach einer halben Stunde führen müssen, und so ging es weiter: Tore, Tempo, Traumpässe, viel zu viel von allem.

Wer das Spiel kalt analysierte, erschrak. Es war Schulhoffußball, sorglos, letztendlich: unreif. In einer Woche, in der Barça gegen Liverpool und Real gegen den FC Bayern im Champions-League-Achtelfinale ausgeschieden sind, verstärkte die Partie den Verdacht: Obwohl sie beide weiterhin zur Spitzengruppe der Liga gehören - Barça fünf Punkte vor Real -, wird der spanische Meister im Juni vielleicht Sevilla heißen, sehr wahrscheinlich Valencia, nur im Fall einer Überraschung Barça und sicher nicht Madrid.

Die Verzweiflung ist selten ein guter Berater, aber selbst ein rationaler Trainer wie Barças Frank Rijkaard hört auf sie, seit die diesjährige körperliche Schwäche seiner Elf gegen Liverpool schreiend offensichtlich wurde. Er pfuschte an der Taktik herum, nachdem das 4-3-3-System ihm zwei Meisterschaften und den Champions League Titel 2006 garantiert hatte. Gegen Madrid spielte er mit drei Verteidigern, das funktioniert nur, wenn zwei schnelle Außen im Mittelfeld der Abwehr helfen. Barça spielte ganz ohne Außen im Mittelfeld. Es war ein Einladung zum Auskontern.

Madrids erste beiden Tore durch Ruud van Nistelrooy waren das Resultat, genauso wie die Rote Karte für den in der dünn besetzten Abwehr überforderten Oleguer. Das Erschütternde war, dass Real auch diese Einladung zur Wiederauferstehung ausschlug. Seit vier Jahren kommen und gehen die größten und tollsten Trainer und Spieler, und dieser Verein schafft es, jeden einzelnen klein zu machen. Nun ist Real Madrid nur noch eine Selbstquälgruppe der manischen Depressiven. Aus Fabio Capello, der einmal ein geradliniger, um nicht zu sagen brutaler Trainer war, ist ein Mann ohne Richtung geworden.

Spiel in Übergeschwindigkeit

Selbst zu zehnt behauptete Barça weitgehend den Ball. Doch in der Nacht des rasenden Verstands mochten die wenigsten unterscheiden, dass Real nur den passiven Part gab. Barça, angeführt von Ronaldinho, spielte in Übergeschwindigkeit, in Wirklichkeit viel zu schnell für sich selbst. Und so vibrierte alles. Mit solch taktischer Unordnung kann man nichts gewinnen. Die Einzigartigkeit ist aber noch immer in dieser Mannschaft. Wenn Barça nächstes Jahr, anders als diesmal, eine richtige Saisonvorbereitung absolviert, wird es wieder leuchten.

Juliano Belletti hielt Leo Messi noch immer hoch, eine kleine Ewigkeit schon, und der FC Barcelona erkannte endlich seine Richtung wieder: Zum Himmel!
Berliner Zeitung, 12.03.2007

Friday, March 09, 2007

Der Urknall (Berliner Zeitung)

Der Urknall
Dem Stürmer Roy Makaay reichen elf Sekunden, um die Titelträume des FC Bayern zu nähren
Boris Herrmann

MÜNCHEN. Elf Sekunden, da bleibt nicht viel Zeit, um Großes zu vollbringen. Die Schauspielerin Ellen Burstyn wurde einmal für eine elfsekündige Nebenrolle mit einer Emmy-Nominierung belohnt. Das schaffen nur Menschen, die in der Lage sind, ihre Fähigkeiten zu bündeln. Menschen wie Roy Makaay. Man wird den Niederländer künftig in einem Atemzug mit Ellen Burstyn nennen müssen für sein Tor beim 2:1-Sieg gegen Real Madrid, dessen Überraschungseffekt dem Urknall in nichts nachstand.

Allein für die Tatsache, dass er sich zu gegebener Sekunde bereits an der Strafraumkante eingefunden hatte, gebührt Makaay Respekt. Er hatte seine Intuition und seine Sprintstärke beizeiten gebündelt und war vors Tor der Madrilenen gewetzt. Kaum dort angekommen, flog ihm auch schon eine Flanke des Kollegen Hasan Salihamidzic vor den Fuß, die er mit dem rechten Innenrist im linken unteren Eck verstaute - zum schnellsten Tor der knapp 15-jährigen Geschichte der Champions League. Aber auch die Spanier waren in den ersten elf Sekunden nicht untätig. Sie hatten bis dahin bereits einen Anstoß ausgeführt, auf Gago zurück gegeben, einen Querpass auf Roberto Carlos gespielt und den Ball vertändelt.

Reise nach Jerusalem

"Das war ein schönes Tor", sagte Salihamidzic mit gewissem Recht, die Verwandtschaft von Schönheit und Geschwindigkeit vorausgesetzt. Und Bayerns Innenverteidiger Daniel van Buyten fügte an: "Ich glaube, das hat sehr gut angefangen." Das kann man wohl sagen. Vor allem, wenn man nicht Fabio Capello heißt und Real Madrid trainiert. Ganz der italienischen Fußballtradition verpflichtet, hatte er einen Doppelriegel, bestehend aus vier Verteidigern und drei verteidigenden Mittelfeldspielern, aufgeboten. Sein Plan war es offensichtlich, ein 0:0 über die Zeit zu retten, das Real Madrid zur Qualifikation für das Viertelfinale gereicht hätte. Nach elf Sekunden war der Plan hinfällig. Der Blitztorrekordler Makaay freute sich nicht schlecht darüber, "dass Capello mit dieser Aufstellung keine Chance hatte". Der Coach selbst sagte später kleinlaut: "Ich habe eben gedacht, dass es eine gute Idee ist." Gute Ideen hatte aber schon lange keiner mehr bei Real Madrid. Deshalb steht der FC Bayern auch im Viertelfinale - und nicht etwa weil die Mannschaft dort zwingend hingehört. Nationalverteidiger Philipp Lahm, dem der Teilerfolg offenbar nicht zu Kopf gestiegen war, sagte: "Wir sind jetzt nicht gleich der Titelfavorit. So schnell geht das nicht. Vor ein paar Wochen waren wir noch ganz unten.

Die Bayern tun gut daran, sich nicht zu lange auf dem Sieg auszuruhen. Sie sollten sich fragen, weshalb es so lange dauerte, bis der Verteidiger Lucio das 2:0 erzielte (66.), weshalb sie danach trotzdem noch einmal zittern mussten und weshalb es allmählich zum Leitmotiv ihrer Spiele wird, dass sie scheinbar sichere Siege noch fast aus der Hand geben.

Diesmal hatte selbstredend auch Schiedsrichter Lubos Michel seinen Anteil, der sich in der 83. Minute zum Dramaturgen des Tages aufschwang, als er nach einem Schwächeanfall von Robinho auf Elfmeter entschied. Bevor allerdings Ruud van Nistelrooy zum 1:2 verkürzen konnte, schwächten sich die Münchner erst einmal noch selbst. Chef-Aggressor Mark van Bommel handelte sich einen Feldverweis ein, der so überflüssig war, wie Schwimmwesten auf einem Flug von Berlin nach München. Es erinnerte stark an das beliebte Spiel Reise nach Jerusalem, wie er mit Diarra um den besten Platz am Strafraum rangelte, nachdem ihn der Referee bereits verwarnt hatte. So musste Van Bommel untätig von außen zuschauen, wie Madrids Sergio Ramos kurz vor dem Ende noch ein Tor erzielte, das Madrid ins Viertelfinale gebracht hätte, aber wegen Handspiels nicht gegeben wurde. Verständlich, dass Van Bommel später PR in eigener Sache betrieb und herausstellte: "Das Tor zum 2:3 in Madrid war unheimlich wichtig, sonst wären wir heute rausgeflogen."

Roy Makaay war etwas ganz anderes wichtig. Er sagte laut und deutlich: "Real Madrid hat auch mal die Champions League gewonnen, als sie nur Vierter oder Fünfter in der Primera División wurden."

Berliner Zeitung, 09.03.2007

Das Ende der Scheibe (Frankfurter Rundschau)

Generation Online
Das Ende der Scheibe
VON JOACHIM WILLE

"Die war'n voll mit Staub", sagt Mario Z. Der Abiturient, Führerschein-Neuling, Musikfan und hobbymäßiger Saxophon-Spieler aus einer Kleinstadt bei Frankfurt, hat seine Musik-CDs entsorgt, ganz nach hinten in den Schrank, der letzten Station vor der Mülltonne. Denn: "Braucht doch keiner mehr." Nur die Sammlung Beatles-CDs, Geschenk der Eltern zum 18., steht, voller Pietät, noch im Regal. Aufgeklappt und eingelegt hat Mario sie nur selten. Der CD-Spieler, jener flache schwarze Kasten, der in der Generation der Eltern-Generation samt fetter Verstärker und klobiger Lautsprecher-Boxen zum unverzichtbaren Wohnzimmer-Möblement gehört, ist schon seit Herbst in den Keller verbannt.

Das Aus für die Musik aus der Konserve? Kein Jan Delay, keine Shakira, nichts mehr von Seeed, nichts von Bounty Killer, was früher mächtig wummernd das Haus vom ersten Stock bis Keller beschallte, kein Hip- Hop, kein Dancehall, kein Funk? Natürlich nicht. "Ich hab 30 Gigabyte Musik im PC", sagt Mario. Das sagt alles für den, der weiß, dass ein Drei-Minuten-Titel im gängigen mp3-Format rund drei Megabyte verbraucht. Über 10 000 Songs, von Bob Marley seligen Angedenkens bis zur Rhein-Main-Regionalband Cashma Hoody, deren eingeschworener Fan Mario ist, warten auf der Festplatte des Computers darauf, angeklickt und über die kleinen Surround-Boxen angehört zu werden.

Mario hat mit den silbernen Tonträgern (fast) nichts mehr am Hut. Einen CD-Laden hat der 19-Jährige in seinem Leben kaum von innen gesehen. Original-CDs mit richtigem Cover kaufte er überhaupt nur zwei, vor Jahren "mal ne Bravo-Doppel-CD", einen Hit-Sampler, zuletzt die neue Disc von der Lieblingsband, bestellt im Internet-Shop der Gruppe. Mario mag ein besonders schwerer Fall von CD-Verweigerer sein - und damit mehr oder minder bewusst Nägel in den Sarg der Musikindustrie hämmern. Doch bei den Freunden ist es nicht anders.

"Seit wir zu Hause schnelles Internet haben, gehe ich kaum noch zu Saturn oder Media-Markt", sagt Kumpel Tom F., der musisch breit interessiert ist und in der Theater AG seines Gymnasiums mitspielt. Eine komplette CD als mp3-Datei herunterzuladen, dauert zwei, drei Minuten, wenn man einen schnellen Server erwischt hat. Kazaa, Emule oder Torrent - so heißen die illegalen Tauschbörsen, bei denen sich viele junge Leute bedienen, obwohl es wegen des beinharten juristischen Kampfs der Konzerne gegen die Musikpiraten alles andere als ungefährlich ist. 90 Prozent oder noch mehr, schätzt Sebastian, setzten sich an den Computer, statt CDs zu kaufen. Gigabyte-weise schieben sich die User die Daten übers Netz oder mobile USB-Festplatte zu. Legale, aber teure Downloads, die es inzwischen gibt, haben kaum eine Chance. Das Credo der "Generation Online", die im mp3-Zeitalter aufgewachsen ist: Musik hat frei verfügbar zu sein, und sie darf nichts kosten.

Die Musikindustrie hat das in die Krise gestürzt. Die begann in den 90er Jahren mit dem Kopieren von Original-Musik-CDs auf immer billigere CD-ROMs im Computer. Die Schulhöfe mutierten zur Silberscheiben-Börse. Motto: Einer kauft die neue CD von Take That, Blur oder Radiohead und fünf zahlen ihm für das 1-zu-1-Duplikat fünf Mark. Das Booklet mit Bildern und den Liedtexten wurde kopiert, auf das Maß der CD-Hüllen zugeschnitten und in sie reingepfriemelt. Inzwischen hat sich das Musik-Tauschen bei den unter 30-Jährigen völlig entstofflicht. Nicht einmal auf Cover legen die Internet-Kids mehr Wert. Damit und mit der digitalen 100-Prozent-Multi-Kopie ohne Rauschen und ständig drohenden Bandsalat (wie früher bei aufgenommenen Kassetten) schrumpft das Hauptgeschäft der vier Musikmultis Universal, Sony-BMG, Warner Music Group und EMI, das Verkaufen von CDs für 12,99 bis 17,99 Euro pro Stück, wie Eis im Treibhaus-Klima.

Wer heute Schulhöfe, Diskos oder Jugendzimmer betritt, wird also Unzählige finden, die Alain Levy, dem Ex-Chef der EMI-Musiksparte, beipflichten. Der nämlich bekundete unlängst in einem Vortrag an der London Business School ebenso schlicht wie ergreifend: "Die CD in ihrer jetzigen Form ist tot." Ausgerechnet die ehrwürdige EMI, jene Firma, die die Beatles entdeckte und alle ihre LPs und CDs als Multi-Millionen-Seller herausbrachte, die mit Mainstream-Künstlern wie Robbie Williams, Norah Jones und Kylie Minogue einigermaßen gewappnet schien, stürzt beim Umsatz rasant ab. Das Weihnachtsgeschäft, sonst eine sichere Bank, verlief diesmal miserabel. EMI gilt schon länger als Übernahmekandidat. Doch Branchenkenner unken, dass die Musikindustrie insgesamt so nicht überlebensfähig sei.

Einer, der die Krise der Branche nicht auf Vorstandsetagen erlebt, ist Thomas Glück. Der bärtige Musikfreak ("Blues Rock, Progressive Rock, immer derselbe Geschmack seit Led Zeppelin, Rare Earth und Deep Purple") besitzt einen der letzten unabhängigen Plattenläden in Frankfurt - und er kann die Implosion der Käuferschaft in seiner Kasse sehen. Das Scheiteljahr war 1998. Vorher, seit Gründung seines "Musikladens" 1980, war es immer nur bergauf gegangen. Mitten in der City, in einer Passage an der Hauptwache, war Glücks Vorgänger mit seinen LP-Ständern gestartet. 1993 zog er in ein vergleichsweise opulentes 110-Quadratmeter-Lokal um, in eine Nebenstraße der Top-Einkaufsmeile Zeil. Der Umsatz entwickelte sich so prächtig, dass der Musikladen trotz (umgerechnet) 9000 Euro Monatsmiete fünf fest angestellten Mitarbeitern Lohn und Brot gab.

Dann, plötzlich, ging's bergab. Immer weniger Mark respektive Euro klingeln seither in der Kasse, teilweise stürzte der Umsatz um 20 Prozent im Jahr ab. Glück musste mit seinem Laden umziehen, quer über die Straße nur, aber in ein kleineres Geschäft. Statt vier Angestellten hat er demnächst nur noch eine Halbtagskraft und einige 400-Euro-Jobber. Statt 100 000 CDs und Vinyl-Schallplatten für Audiophile gingen 2006 noch gerade 35 000 über die Ladentheke. "Meine Kunden sind fast alle zwischen 30 und 70 Jahre alt", sagt der Ladenbesitzer. Das heißt: "Die jungen Leute kommen einfach nicht mehr." Glück, der bald 50 wird, ist nicht sicher, ob er es mit dem Plattengeschäft, das ihn und die Mitarbeiter ein Vierteljahrhundert gut ernährt hat, bis zum Ruhestand schafft: "Wer weiß, ob wir in zehn Jahren noch da sind."

Immerhin: Dank des guten Service hat Glücks CD-Bollwerk durchgehalten - anders als all die anderen Frankfurter Traditionshäuser der Branche, an die sich die ältere, grau und etwas faltig gewordene "Generation Schallplatte" wehmütig erinnert. Phonohaus, Montanus, Ralph's Records, Radio Diehl, City CD, IBS-Musicshop - alle pleite oder kurz davor dichtgemacht. Ebenso die in den 90er Jahren eröffneten Filialen der Multis Virgin und HMV Superstore, die mit ihren relativ teuren CDs auf dem sich damals entwickelnden deutschen Geiz-ist-Geil-Markt scheiterten.

Die Elektronik-Ketten Media-Markt und Saturn sowie das Kaufhaus Karstadt unterhalten noch ordentliche CD-Abteilungen, allerdings ebenfalls mit sinkendem Umsatz. Bei Karstadt ("World of Music") haben sie unlängst die CD- mit der Multimedia-Abteilung zusammengelegt. Hier Zahlen über die Umsatzentwicklung der Tonträger zu bekommen ist unmöglich. Man habe das nicht extra erfasst, sagt ein Sprecher in der Karstadt-Zentrale auf Anfrage.

Thomas Glück stemmt sich gegen den Ausverkauf von CD und LP. Er hat eine TonNische geschaffen, in der er und seine Kunden gut leben können. Doch bei dieser kulturhistorischen Tat sieht er sich ziemlich alleine gelassen. Besonders von den Bossen der Plattenfirmen, die eine völlig vernagelte Produktpolitik betrieben - in dem sie die entscheidende Zielgruppe restlos vernachlässigten: die mittelalte, finanziell potente "BBZ-Schicht" (Banker/Beamte/Zahnärzte). Jene also, die noch ordentlich CDs mit ordentlichen Booklets kaufen oder früher, als die Musik authentischer, echter war, mal gekauft haben. "Stattdessen bedienen sie die aussterbende Generation, die auf Florian Silbereisen, Margot Hellweg und Ernst Mosch steht, und die jungen MTV-Gucker, die zwar hören, aber nicht kaufen wollen."

Mario Z. erzählt von seinem Vater, der zu Hause noch ein Regal voll alter Vinyl-Platten aus der Jugend stehen hat. Schwarz, Loch in der Mitte, 30 Zentimeter Durchmesser. "Hören tut er sie nicht mehr", sagt er. "Aber wegschmeißen, das bringt er nicht übers Herz." Zu viele Erinnerungen hängen dran - an den bunten, großen Covern, den verkratzten Scheiben. Dieses Problem, zumindest dieses, wird Mario dereinst nicht haben.
(Namen der Jugendlichen geändert)

„Dieses Gefühl, nicht mehr allein zu sein“ (Tagesspiegel)

„Dieses Gefühl, nicht mehr allein zu sein“
Berlins bekanntester Blogger Johnny Haeusler über Medien, Macht und den täglichen Wahnsinn da draußen

Herr Haeusler, erleben Sie es oft, dass Leute nicht wissen, was ein „Blog“ ist?
Die wenigsten Leute wissen das, habe ich den Eindruck. Auch viele Leute, die täglich das Netz benutzen, wissen damit noch nicht wirklich etwas anzufangen.

Wie erklären Sie es einem Laien?
Ein Blog ist eine Website, auf der zu einem bestimmten Thema regelmäßig Texte veröffentlicht werden.

Und wer liest das?
Im Moment wohl hauptsächlich andere Blog-Schreiber und Journalisten. Blogs sind noch nicht beim wirklich passiven Leser angekommen.

Warum nicht?
Ich weiß es nicht. Wohl durch das Gerücht, Blogs wären inhaltsarm und man könne ihnen nicht trauen. Sicher auch, weil es in der Medienflut sehr schwer ist, die Aufmerksamkeit auf ein neues Medium zu lenken. Aber ich halte es nicht für eine missionarische Aufgabe, das Image oder die Verbreitung von Blogs zu verbessern. Blogs sind kein Produkt, sondern eine Kultur. Die kann man mögen oder eben nicht. Sollte sie Bestand haben, wird sie ihre Berechtigung finden.

Sind Blogs mehr als Selbstbespiegelungen der Autoren?
Viele davon ja, würde ich so sehen. Aber: Was ist ein Buch? Genauso schwer zu beantworten. Bücher können alles sein: eitles Zeug, Romane, Sachbücher. So ist das auch mit Blogs.

Warum bloggen Sie selbst?
Ich kann kaum etwas anderes als schreiben und reden, funktioniere in herkömmlichen Firmenstrukturen nicht, und ich mache gerne neue Dinge, von denen alle behaupten, dass man sie nicht machen kann. Kurz: Ich kann nicht anders.

Finden Sie das, was Sie machen, wichtig?
Ja, sehr. Für mich. Und da es ja mehrere Leute sind, die Spreeblick machen: für uns. Ob es aber für irgendjemanden anderes eine Relevanz hat, das wage ich nicht zu beurteilen. Und es ist mir tatsächlich egal, auch wenn das arrogant klingt. Natürlich nimmt man ein wenig Rücksicht inzwischen, im Großen und Ganzen aber tue ich bei Spreeblick nur, was ich für richtig halte. Und wichtig.

Werden Blogs eher überschätzt oder unterschätzt?
Aktuell werden sie überschätzt, auf Dauer jedoch unterschätzt. Wer glaubt, Blogs wären ein kurzfristiger Hype, auf den man sich jetzt schnell mal stürzen müsse, der irrt. Ich glaube, wir haben noch nicht gesehen, was man aus Blogs machen kann.

Was denn?
Ich kann mir das lokale Kiez-Blog genauso gut und wichtig vorstellen wie Sport-Blogs von Fans. Es gibt Mengen von inhaltlichen Bereichen, die von den klassischen Medien nicht mehr abgedeckt werden können, die ein vielleicht begrenztes, aber dennoch vorhandenes Publikum haben.

Blogs als Massenmedium?
Einzelne Blogs eher nicht. Dann wären sie kein Blog mehr, da sie sich zu stark nach den Lesern richten müssten. Diese Tendenz ist bei Spreeblick manchmal schon zu spüren. Nein, ich glaube, die Zeit ernst zu nehmender Massenmedien ist vorbei. Die sind nur noch Werbekanäle. Inhalte passieren in den Nischen.

Haben Blogs denn das Potenzial zum Informationsmedium, das mit klassischen Medien konkurrieren kann?
Ja. Die Mischung aus Konsumenten, gefährlichem und ungefährlichem Halb- und Ganzwissen, ein paar Journalisten dazu, die die Nase voll davon haben, dass ihre Artikel zusammengestrichen werden, Videos und Audio: Das ergibt ein potentes Korrespondentennetzwerk.

Sollten sich die klassischen Medien davor fürchten?
Natürlich nicht. Sie sollten es umarmen und integrieren.Blogs verbreiten Meinungen. Haben Blogs Macht?Das glauben nur Blogger. (lacht)

Sollten sie nicht?
Ich sehe das so: Wenn man überhaupt von einer Form von „Macht“ reden kann, dann liegt sie in den Händen der Gemeinschaft. Niemand tut oder lässt etwas, weil es bei Spreeblick steht. Einige aber schauen sich genauer an, was da steht. Und greifen es auf, falls sie das für nötig halten. Wenn an einem Thema tatsächlich etwas dran ist und es auch der Gegenprüfung von anderen Blogs standhält, macht es im Internet die Runde. Und womöglich geht es in die klassischen Medien. Es ist ein Prozess, der dafür stattfinden muss. Bei der „Bild“-Zeitung reicht eine Schlagzeile allein schon aus. Daher bin ich mit dem Begriff „Macht“ sehr unzufrieden. Macht haben wenige Massenmedien, wahre Macht ist dort, wo auch das wahre Geld ist. Einfluss vielleicht, aber Macht? Nee.

Kann sich der Einfluss verstärken? Wäre das wünschenswert?
Ja, ich glaube der Einfluss wird stärker, und ich finde das wichtig und gut. Damit meine ich nicht ausschließlich den Einfluss auf andere Medien, sondern vornehmlich den Einfluss auf den einzelnen Bürger. Der sich vielleicht überlegt, dass er auch etwas zu sagen hat. Und der nun die Mittel erhält, seine Stimme zu erheben und sogar gehört zu werden. Der plötzlich feststellt, dass er von etwas Ahnung hat und der andere auch daran teilhaben lässt. Ich höre immer wieder, das Tolle am Bloggen sei, wie man plötzlich merkt, dass man nicht mehr allein ist. Genau dieses Gefühl kenne ich auch. Der tägliche Wahnsinn da draußen, der manchmal so unkommentiert bleibt und der immer weniger Reaktionen hervorzurufen scheint: Es gibt noch andere, die ihn bemerken.

Man könnte fast den Eindruck gewinnen, die Gemeinschaft der Blogger sei eine große virtuelle Selbsthilfegruppe …
Ich glaube, der Eindruck ist nicht ganz falsch. Hilft ja sonst keiner!

Das Gespräch führte David Bauer
(09.03.2007)

Thursday, March 08, 2007

Die Rache des kleinen Mannes (Die Welt)

Stefanie Boewe
Die Rache des kleinen Mannes
Weil er nur 1,65 Meter groß ist, wurde Pointguard Earl Boykins lange unterschätzt. Jetzt steht er vor seiner größten Aufgabe: Er soll die chronisch verlierenden Milwaukee Bucks auf die Siegerstraße führen.

Von weitem hat es den Anschein, als hätte ein Spieler seinen Sohn aufs Feld geschmuggelt. Doch der nur 165 Zentimeter große Earl Boykins ist ein gestandener Profi in der National Basketball Association (NBA). Erst im Januar wurde er von den strauchelnden Milwaukee Bucks als Retter in der Not verpflichtet, um doch das Play-off zu erreichen. Dass ihr Retter sich nun am Daumen verletzte, versetzte den Bucks, die derzeit mit nur 22 Siegen bei 39 Niederlagen auf dem viertletzten Platz der Eastern Conference dümpeln, einen Schock.

Denn Boykins ist eine Attraktion – nicht nur wegen seiner zierlichen Gestalt, die ihn neben all den Zweimetergiganten kindlich wirken lässt. Der 30-Jährige ist ein filigraner Techniker, seine Kunststücke unter dem Korb lassen manchen Betrachter sprachlos zurück. „Er überrennt dich mit 200 Sachen, spielt dich auf einer Zehn-Cent-Münze schwindelig und schießt dich aus zehn Metern ab“, sagt Rick Carlisle, Trainer der Indiana Pacers über Boykins. „Er ist für jeden Gegner die ultimative Pest.“

Der Vergleich mit der Seuche ist für Boykins ein willkommenes Kompliment. Der nach Muggsy Bogues (1,60) kleinste Spieler der NBA-Geschichte hat eine Odyssee sondergleichen hinter sich und musste immer wieder um Anerkennung kämpfen. Zu oft wurde der kleine Mann übersehen, weil er nicht ins gängige Raster passt. In der NBA-Draft 1998 übergangen, spielte er sich erst über die unterklassige Canadian Basketball League (CBA) ins Bewusstsein der NBA-Scouts. Doch es dauerte weitere fünf Jahre und ebenso viele NBA-Stationen (Cleveland, New Jersey, Orlando, L.A. Clippers, Golden State), ehe Boykins sich 2004 schließlich bei den Denver Nuggets etablieren konnte.

Boykins’ Leben zeichnet die Geschichte eines unerschütterlich für seine Ziele arbeitenden Optimisten. Er war immer der Kleinste, er hat sich früh daran gewöhnt, damit umzugehen. Er wiegt nur 60 Kilogramm, schafft es aber, beim Bankdrücken 140 Kilogramm zu stemmen. Er beißt sich durch und straft Spötter mit Bestleistungen. Noch im Alter von drei Jahren wurde Boykins von seinem Vater in einer Sporttasche herumgetragen, „weil das praktisch war“ (Boykins). Immer wieder nötigt ihn das Sicherheitspersonal bei Auswärtsspielen beim Betreten des Kabinentraktes seinen Ausweis zu zücken, und bei seiner ersten Trainingseinheit bei den Golden State Warriors wurde er einst von einem Teamkollegen für einen Balljungen gehalten.

Mit dem Wechsel nach Denver änderte sich das Ansehen Boykins’ schlagartig. Mit durchschnittlich knapp 15 Punkten pro Spiel leistete der kleine Aufbauspieler seinen Anteil am plötzlichen Erfolg der Nuggets: Nach zuvor acht erfolglosen Jahren in Folge erreichte das Team aus der „Mile High City“ mit Boykins dreimal in Folge das Play-off. Sein Spitzname wandelte sich von „Earl, the Squirrel“ (Earl, das Eichhörnchen) zu „Earl, the Pearl“. Als die Nuggets ihren Publikumsliebling nach drei Jahren schließlich im Januar per Trade an die Milwaukee Bucks abgaben, um der Zahlung einer „Luxury Tax“ genannten Strafe für Überschreitung der Gehaltsobergrenze zu entgehen, hatte Nuggets-Trainer George Karl mit den Tränen zu kämpfen.

Voller Freude wurde Boykins hingegen in Milwaukee aufgenommen. In der Brauereistadt warten sie seit sechs Jahren darauf, in die zweite Runde des Play-off vorzudringen. Ein Spieler von Boykins’ Kaliber kam da gerade recht. „Er ist unberechenbar“; sagt Ton Battie, 2,11 Meter großer Center von Orlando Magic. „Du glaubst, du hast eine freie Passroute, und dann schnellt Earl aus dem Nichts dazwischen und stiehlt den Ball.“

Insgesamt 2,95 Millionen Dollar kassiert Boykins in dieser Saison, genau drei Millionen werden es im kommenden Jahr sein. Kein schlechter Lohn für einen, der stets als zu klein gilt. Doch: „Ich betrachte meine Größe nicht als Nachteil“, betont Boykins. Er grinst. „Ich sehe es so: Ich bin einzigartig. Das ist Shaquille O’Neal auch. Und der hat vier Meisterschaftsringe.“ Boykins hat mit den Bucks noch einiges vor. Eine Daumenverletzung wird ihn nicht von seinem Weg abbringen.

Cooler dichten (Der Tagesspiegel)

(08.03.2007)
Cooler dichten
Der Poetry-Slam-Champion Marc-Uwe Kling hat die Bühnendichter jetzt nach Kreuzberg geholt

Hinter der Bühne wird schon mal der Preis ausgetrunken, der eigentlich erst später am Abend überreicht werden sollte. „Willste’n Gin Tonic?“, fragt Marc-Uwe Kling. Er ist 24, Student und der amtierende deutsche Meister im Poetry Slam. Aber jetzt erzählt der Moderator und Veranstalter erst mal grinsend, die beiden Pullen Gin und Tonic seien als Gewinn der ersten regelmäßigen Kreuzberger Dichterschlacht vorgesehen. Sie soll künftig immer Dienstagabends im „Kato“ am Schlesischen Tor stattfinden. Und nun? „Och, wir haben noch ’n Korn und ’n Kindel.“ Recht übersichtliches Preisgeld also, das es für das Dichten am Mikro gibt. Im Oktober muss Marc-Uwe Kling seinen Titel vor 1800 Freunden gesprochener Poesie im Admiralspalast verteidigen. Als Lohn winken aber auch dort nur Ruhm und Ehre.

Ob sich mit Poetry Slam Geld verdienen lässt? In Stuttgart oder Mainz schon, meint einer, der gerade reinkommt, in Berlin nicht. „Danke, keinen Gin Tonic – ich trink keinen Alkohol.“ Robert Gaude, 27 und neu in Berlin, sieht aus wie ein Sportstudent und doziert wie ein Philosoph. Er dichtet bundesweit – in 100 deutschen Städten wird inzwischen geslammt. Im „Bastard“ in Prenzlauer Berg hat’s vor zehn Jahren in Berlin angefangen mit dem regelmäßigen Poetry Slam. Dann kam die „Scheinbar“ in Schöneberg als fester Austragungsort hinzu. Nun – längst überfällig – auch Kreuzberg.

Udo Tiffer, in schwarzem Anzug und weißem Hemd der schickste der eintreffenden Poeten, ist da skeptisch. Was Neues in Berlin zu etablieren, sei immer ein Risiko. Der 43-jährige Autor ist der Mann fürs Tiefsinnige und extra aus der Oberlausitz angereist. Ob er von Texten lebt? „Nee, ich lebe trotz Texten.“

Auf der Bühne stehen der Mikroständer, Tisch und Stuhl für den DJ und das war’s. Um 20 Uhr 30 ist die Slammerliste komplett: Zwölf Dichter treten gegeneinander an. Jeder hat fünf Minuten Zeit für seine gelesenen, gesprochenen, gerotzten Wortkaskaden. Und die füllen sie mit selbst geschriebenen Texten, die mal wie Kabarett, Knittelverse oder groovende Rap-Nummern klingen. Einer wirft sich sogar auf den Rücken und liest seinen Text über Papiertaschentücher mit den Füßen nach oben. Das Publikum amüsiert sich. An die 100 Leute sind da und küren die Sieger per Applausometer.

„Coole Location hier in Kreuzberg“, sagt Antonia Menslin. Sie ist Schönebergerin, 20, Studentin und oft beim Poetry Slam. „Das ist immer ein lustiger Abend.“ Aber wenig Frauen seien dabei. Stimmt. Die 31-jährige Iris Niedermeyer, die sich als Gerümpel-Comedian bezeichnet und über Wechseljahre geslammt hat, war die einzige. Wieso so wenig Frauen mitmachen? Antonia zuckt die Schultern. Ihre Freundin Constanze aus Wilmersdorf hat eine Erklärung: „Frauen stellen sich nicht wie Männer hin und finden sich witzig.“ Tilman Birr gewinnt die erste Kreuzberger Dichterschlacht im „Kato“ mit einem Text über die „Blutsauger von der GEZ“. Aus dem Studentenleben eben.
Gunda Bartels

Regelmäßige Poetry Slams: Bastard im Prater: jeden ersten Donnerstag im Monat; Scheinbar: jeden zweiten Montag; Kato: jetzt jeden ersten Dienstag. In Potsdam, im Spartacus, jeden ersten Mittwoch.

Die Hutprobe (Der Tagesspiegel)

(08.03.2007)
Die Hutprobe

Setz dir eine Kippa auf, dann sieht dich die Welt mit anderen Augen. Und du sie. Das sagte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin. Hat er recht?

Von Axel Vornbäumen


Sie werden sich unwohl fühlen, hatte Gideon Joffe gesagt. „Sie werden eine defensive Haltung einnehmen. Und irgendwann werden Sie beginnen, instinktiv auf den Boden zu sehen, um nicht zu provozieren.“

Wir hatten uns in einem Cafe in Mitte verabredet. Joffe war ein paar Minuten verspätet gekommen, in Begleitung von zwei Leibwächtern. Binnen Sekunden hatten sie die Situation im Cafe gescannt und dann einen anderen Tisch vorgeschlagen, einen, der von draußen nicht einsehbar war, in einer Nische. Aus Gewohnheit, hatte Joffe gesagt. Er ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Berlin.

Es hatte einen Anschlag gegeben auf einen jüdischen Kindergarten in Berlin, eine Brandflasche war nicht explodiert, doch der Sprengsatz hatte die Diskussion über Antisemitismus in Deutschland neu entzündet, über eine mutmaßlich neue Intensität des Schreckens. Eine zaghafte Debatte über Wahrheit und Wahrnehmung hatte eingesetzt, über objektive Sicherheit und subjektives Bedrohungsgefühl. Joffe hatte von einem „permanenten Gefühl der Unsicherheit“ der in Deutschland lebenden Juden gesprochen, von neuen Ängsten und davon, dass diese Ängste offenkundig nicht mehr ernst genug genommen würden von der breiten Mehrheit in Deutschland. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde hatte den „Kippa-Test“ vorgeschlagen. „Nicht-Juden sollten sich einfach mal eine Kippa auf den Kopf setzen oder einen Davidstern an die Kette hängen“, hatte er gesagt, „es wird nicht lange dauern, und Sie werden Erfahrungen gemacht haben mit Antisemitismus.“ Das sei keine Aufforderung gewesen, hatte Joffe gesagt, auch kein direkter Hilferuf, eher ein Ruf nach Verständnis.

„Sie wollen den Kippa-Test machen?“, hatte er am Telefon gefragt, und in seiner Stimme lag Erstaunen, „gut, dann treffen wir uns.“Es war bei dem Gespräch um Grundsätzliches gegangen, um Persönliches auch und um ganz Praktisches. „Die Entwicklungsstufe einer Demokratie erkennt man am Umgang mit den Minderheiten“, hatte Joffe gesagt, und: „Ändern Sie Ihren Alltag nicht, leben Sie normal weiter. Gut, Sie sollten im Restaurant nicht gerade Eisbein bestellen, das würde auffallen.“ Es war um Ängste gegangen, um die Grenzen der Wahrnehmung, um konstruierte Realität. Joffe hatte davon berichtet, dass Mitglieder seiner Gemeinde die Kippa nur noch aufsetzten, wenn sie sich hinter der Sicherheitsschleuse der Synagoge befänden, dass der Davidstern vielfach nur noch unter dem Pullover getragen werde. Die Insignien des Glaubens würden bewusst verborgen, eine Art anonymes Judentum entstehe. Ein Verdrängungsprozess, unbemerkt. Am Ende des Gesprächs hatte Joffe seine eigene Kippa aus der Innentasche des Jacketts geholt und gesagt: „Das wäre natürlich die Härte.“ Auf die Kippa waren hebräische Schriftzeichen gehäkelt, der Anfang des Glaubensbekenntnisses. „Dann wären Sie sofort erkennbar.“

Bin ich das jetzt denn nicht?

Ich sitze in der S-Bahn auf dem Weg zum Tagesspiegel. Meine Kippa ist schwarz, schlicht, vorhin, auf dem Weg zu S-Bahn, war sie mir einmal vom Kopf geflogen, der Wind. Für einen Moment hatte ich gedacht, ob das wohl lächerlich ausgesehen haben muss, unbeholfen. Nun aber spüre ich sie nicht, und unwohl fühle ich mich auch nicht, ganz ehrlich, jedenfalls noch nicht. Unsicher aber schon. Die ersten drei Stationen meiner morgendlichen Fahrt sind unspektakulär verlaufen, aber die Grenzen des Experimentes beginnen mir bereits bewusst zu werden. Normalerweise habe ich im öffentlichen Nahverkehr ein stabiles Desinteresse an meiner Umgebung, Alltagsstudien liegen mir fern. In der Regel lese ich, schaue allenfalls mal kurz hoch. Oft passiert das nicht. Nun frage ich mich, ob ich weiter lesen kann oder ob ich dadurch möglicherweise Signale des Antisemitismus verpasse. Ich packe die Zeitung weg. Ganz normal im Joffe’schen Sinne fahre ich damit nicht weiter.

Diverse Studien ermitteln regelmäßig einen antisemitischen Bodensatz, der in Deutschland irgendwo zwischen zehn und 15 Prozent liegt. Es ist eine Art Arschlochquote, die vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte eine besondere Bedeutung hat. Sie liegt im europäischen Mittel. Viele Ewiggestrige sind dabei, seit geraumer Zeit wird die Gruppe aufgefrischt – auch durch Zuzügler aus dem Nahen Osten, das ist eine andere Form von Antisemitismus.

Die S-Bahn-Waggons auf meiner Linie sind lang gestreckt. Wenn’s geht, sitze ich in Fahrtrichtung links, in einer der vier Vierergruppen. Sind sie voll besetzt, dann müssten, statistisch gesehen, zwei von den 16 Fahrgästen von judenfeindlicher Gesinnung sein. Ich schaue mich um. Sie geben sich nicht zu erkennen.

Es ist nicht so, dass der Kippa-Test gänzlich unumstritten wäre. In der Jüdischen Gemeinde gab es, vereinzelt, Bedenken, wie dies wohl wirken möge; und der Publizist Henryk M. Broder hatte sich über die „Kostümierung“ mokiert und in der ihm eigenen, provokanten Art gefordert, Kippas doch am besten an die gesamte Bevölkerung zu verteilen. Wer sich dann weigere, sie aufzusetzen, den könne man als Antisemiten identifizieren. Auch Michel Friedman, ehemals stellvertretender Vorsitzender des Zentralrates der Juden, war nicht restlos überzeugt. Der Test könne aufklärerisch sein, müsse es aber nicht zwangsläufig, hatte Friedman gesagt, ihn dann aber doch als wackeren Versuch gewertet „der gestörten Wahrnehmung in Deutschland“ zu begegnen, dass alles „normal“ sei. Friedman hatte dann noch erzählt, wie ihm tags zuvor in der Businessclass der Lufthansa ein Wildfremder sein Beileid ausgesprochen hatte, „weil Ihr Volk einen großen Mann verloren hat“. Der unbekannte Passagier hatte Heinz Berggruen gemeint. Solche Sachen. Nix ist normal, wollte Friedman damit sagen, man wird auch von den Gutwilligsten verfolgt.

Auch die Wahrnehmung ist anders.

Wie spüre ich Antisemitismus? Und, ganz wichtig, wo spüre ich ihn auf?

Es ist ein Experiment, es ist, ob ich will oder nicht, konstruierte Realität, ja, unterschwellig soll es sogar eine Form von Provokation sein. Es soll Reaktionen hervorrufen, früher oder später. Das ist die Ausgangshypothese. Bleiben sie aus, dann hat Joffe ein Problem. Ich aber auch, es droht der Vorwurf der Verharmlosung, zumindest der mangelnder Sensibilität. Wie intensiv muss ich suchen?

In „Die Hard“, dritter Teil, läuft Titelheld John McClane mit einem Schild um den Hals durch Harlem: „I hate niggers“ steht drauf. Es gibt sofort Ärger, na logo.

So eindeutig ist das mit der Kippa aber nicht. Sie ist im Dunkeln nicht zu erkennen, im Hellen schwer, manchmal erst im letzten Moment, ich bin gut 1,90 Meter groß. Vielleicht bist du zu groß, hatten Kollegen gemutmaßt, nachdem der erste Tag gänzlich unspektakulär verlaufen war.

Ich war ziellos durch die Stadt gestreift. Unsicher zunächst, ein bisschen beklommen. Über den Ku’damm zuerst, wo vor Jahren orthodoxe Juden einmal angegriffen worden waren und auch damals eine Debatte eingesetzt hatte, weil ein Polizist mit der These auffällig geworden war, dass ein Verzicht auf religiöse Bekleidung oder jüdische Symbole die Sicherheit in der Hauptstadt erhöhen könne. Die Massen waren mir entgegengekommen, doch Massen, weltstädtisch heterogen zusammengesetzt, sind unbedenklich. Jeder kann eintauchen, ich auch. Das merke ich schnell.

Ich war U-Bahn gefahren, S-Bahn gefahren, Bus gefahren – nichts. S- und U-Bahnen erweisen sich für den Kippa-Test als erstaunlich unbrauchbar. In Mitte ist das Publikum wohl zu weltstädtisch, in den Außenbezirken ist es zu müde. Viele haben die Augen zu, viele starren ausdruckslos vor sich hin, zu kraftlos für Feindseligkeiten. Im vollgepackten Bus der Linie M29 tritt mir ein Jugendlicher mit, sagen wir, Migrationshintergrund auf die Füße. Er entschuldigt sich sofort – das kann man nicht rechnen, so oder so, auch bei feinstem Messinstrument nicht. Zwei Tage später remple ich unbeabsichtigt einen Punk am Kottbusser Tor an und entschuldige mich. Auch der Punk winkt nur ab, wieder nix.

Ich bin in den Osten gefahren, an den Alexanderplatz, wo mir ein Mann auffiel, der im Kuhkostüm die Obdachlosenzeitung „Straßenfeger“ verkaufte. Mit der Rechten hielt er sich einen Euter vors Gemächt, mit der Linken hielt er die Zeitung hoch. Mir gehen „Straßenfeger“-Verkäufer mit ihrem Getue grundsätzlich auf die Nerven. Dieser aber ganz besonders. Ich bin an ihm vorbeigegangen, ohne ihm das zu zeigen. Die Gegend um den Hackeschen Markt ist unbedenklich, hatte Joffe gesagt. Sie ist am ersten Tag mein Rückzugsraum. In einem Café spüre ich dem Philosemitismus nach. Gibt es gesteigertes Wohlwollen mir, dem Kippa-Träger, gegenüber? Fehlanzeige. Ich spüre erste Nebenwirkungen. Wer aufpassen muss, wie die Umwelt auf einen reagiert, wird neugieriger, wie die engste Umgebung so ist. Am Nebentisch unterhalten sich zwei Mittfünfziger über Alltagskram. In Dresden haben sie einen neuen Puff, sagt der eine, als Sauna getarnt, 25 Euro Eintritt, die Mädels aus dem Osten. „Da geht Vati einmal die Woche hin.“

Es gibt eine weitere Nebenwirkung. Das Selbstbewusstsein steigt. Mit jedem Meter unbehelligt durchstreifter Öffentlichkeit entferne ich mich von Joffes Erwartungen, instinktiv nicht zu provozieren. Die herbe Ecke links und rechts der Warschauer Straße, der Wrangel-Kiez, der Wedding – nichts passiert. John McClane kommt mir gelegentlich in den Sinn, der filmische Tabubruch, der nur funktionierte, weil er so offensiv begangen worden war. Doch das ist hier nicht Sinn der Sache. Der Kippa-Test funktioniert nur, wenn er defensiv bleibt. Es gibt ungeschriebene Regeln des Alltags, Gesellschaft funktioniert bisweilen in einem unsichtbaren Korsett, für die einen ist es enger, für die anderen ein bisschen weiter geschnürt.

Ich mag den Osten, auch dort, wo er herb ist. Ich ziehe aber auch ansonsten nicht in Lichtenberg nach Einbruch der Dunkelheit um die Plattenbauten.

Im U-Bahnhof Pankstraße weht mir durch den Luftzug der einfahrenden U–Bahn die Kippa vom Kopf. Das ärgert mich. Noch während des Einsteigens bin ich mit ihrer Befestigung beschäftigt und setze mich hin, ohne vorher die Platzwahl zu überdenken. Eine größere Annäherung an die Realität geht nicht. Die U-Bahn ist recht leer. Mir gegenüber sitzt ein an den Händen und Unterarmen tätowierter Alkoholiker. Als er mich sieht, packt er seine Bierflasche weg. Mehr ist nicht.

Anderntags in Neukölln auf der Sonnenallee gibt es erste sichtbare Hinweise, dass das Ungewohnte befremdlich wirken kann. Die Grenzen zur gespürten Verachtung sind durchlässig. Ein Entgegenkommender geht fast im 270-Grad-Winkel um mich herum, dabei abfällig auf meine Kippa schauend. Wenig später spucken drei entgegenkommende junge Männer fast zeitgleich vor sich aus, irgendwo mittig sich und mir vor die Füße. Ich mag die Rotzerei schon bei Fußballern nicht, ertappe mich aber dabei, den kleinen Vorfall ganz zufrieden recht hoch auf der nach oben offenen Ereignisskala einzuordnen.

Was hatte Friedman gesagt? Es kann aufklärerisch sein. Muss aber nicht.

Noch während ich durch Neukölln laufe, ruft mich ein Mann aus der Jüdischen Gemeinde auf dem Handy an. Er geht seit Jahren nicht aus dem Haus, ohne seine Kippa unter einer Mütze oder einen Hut zu verbergen. Das Gefühl von Freiheit, sagt er, habe er nur in New York gespürt, nie aber in Berlin. Wir reden ein bisschen über meine Wahrnehmung. Das sei, sagt er, als ob ich eine Zeit lang mit dem Auto durch die Stadt gefahren wäre, ohne mich vorher anzuschnallen. „Da muss auch lange nichts passieren.“

Wednesday, March 07, 2007

Gefährliche Recherche (Frankfurter Rundschau)

Gefährliche Recherche
VON FLORIAN HASSEL (MOSKAU)

Es war eine Resonanz, wie sie sich ein Journalist nur wünschen kann. Am 12. Januar 2005 veröffentlichte Iwan Safronow, Militärexperte der Moskauer Tageszeitung Kommersant, zusammen mit Kollegen einen Artikel über geplante Lieferungen russischer Iskander-E-Raketen (im Nato-Jargon SS-26) an Syrien. Die Veröffentlichung sorgte für einen internationalen Skandal.

Israels Premier Ariel Scharon und US-Präsident George W. Bush protestierten bei Präsident Wladimir Putin gegen die Lieferungen der von mobilen Basen abschießbaren, manövrierfähigen Raketen, die einen 400 Kilo schweren Sprengkörper mit 10 bis 30 Metern Genauigkeit über 280 Kilometer ins Ziel transportiert. Syrien könne damit jeden Punkt Israels erreichen. Schließlich verkündete Putin bei einem historischen Israel-Besuch am 28. April 2005: "Ich habe mein Veto gegen das Geschäft eingelegt."

Die letzten Tage Safronows

Doch der brisante Deal - und nicht nur dieser - war damit möglicherweise nur aufgeschoben. Am Dienstag veröffentlichte der Kommersant eine Rekonstruktion der letzten Wochen Iwan Safronows, der am vergangenen Freitag bei einem zweifelhaften Sturz aus dem Fenster starb. Mitte Februar bereitete sich Safronow auf die Waffenmesse Idex-2007 in den Vereinigten Arabischen Emiraten vor. Dort wollte er eine ihm zugespielte, brisante Information überprüfen, sagte er seinen Vorgesetzten: dass Russland Syrien hochmoderne Kampfflugzeuge vom Typ SU-30 verkaufen wolle, die vor allem nach China und Indien exportiert werden und eine Reichweite von 1500 Kilometern haben. Außerdem wolle Moskau dem Iran moderne S-300-W-Raketen verkaufen, die der Abwehr von Flugzeugen, Marschflugkörpern und Mittelstreckenraketen dienen.

Damit westliche Länder den Kreml nicht wieder der Aufrüstung des syrischen und des iranischen Regimes beschuldigen könnten, sollten die Waffen über Weißrussland geliefert werden, so Safronows Informant. Nach mehreren Tagen Recherche auf der Idex-Waffenmesse in Abu Dhabi rief Safronow die Redaktion an: Er habe die Bestätigung für den explosiven Deal. Nach seiner Rückkehr nach Moskau werde er einen entsprechenden Artikel schreiben. Doch nachdem Safronow am 24. Februar nach Moskau zurückkam, meldete er sich erst einmal wegen starker Magenschmerzen krank. Der Militärspezialist ging zum Arzt, arbeitete aber von zu Hause weiter und half Kollegen, die ihn telefonisch um Rat fragten.

Am 27. Februar ging der immer noch krankgeschriebene Safronow zu einer Pressekonferenz - und erzählte dort Kollegen, er habe nicht nur die Bestätigung für die geplanten Deals: Russland und Syrien hätten bereits weitere Waffenverträge unterschrieben. Moskau habe sich verpflichtet, Damaskus das mobile hochmoderne Panzyr-S1-Luftabwehr-System für Nahziele aller Art (SA-19) sowie MiG-29-Jagdflugzeuge zu liefern - und endlich auch die ersehnten Iskander-E-Raketen. Das Panzyr-S1-System wird bereits an die Emirate geliefert, und auf der Messe in Abu Dhabi orderte offiziell auch Jordanien etliche Systeme.

Den fälligen Artikel indes wollte Safronow noch nicht schreiben. Seinen Kommersant-Kollegen sagte der Militärspezialist, er sei gewarnt worden, dass eine Veröffentlichung für einen neuen Skandal sorgen werde. Der Inlandsgeheimdienst FSB werde in diesem Fall ein Strafverfahren wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen einleiten und einen solchen Prozess "bis zum Ende bringen", sei ihm gedroht worden. Am gleichen Tag rief Safronow nochmals in der Redaktion an und kündigte an, er werde zumindest einen Artikel über die geplanten Waffenlieferungen über Weißrussland durchtelefonieren. Dies geschah nicht mehr. Drei Tage später war Iwan Safronow tot. Angeblich fiel er aus einem Treppenhaus-Fenster im fünften Stock seines Wohnhauses.

Seit 1994 starben 214 Journalisten

Russlands Verteidigungsministerium lehnte gegenüber der FR einen Kommentar zu den angeblich unterschriebenen Verträgen mit Syrien und dem Iran ab. "Wir sind nicht zuständig für Waffenverträge mit anderen Ländern." Die dafür zuständige staatliche Waffenexportagentur Rosoboronexport wollte die Verträge weder bestätigen noch dementieren. "Wir kommentieren keine Verträge mit Kunden." Die Moskauer Staatsanwaltschaft ermittelt im Fall Safronow wegen des Verdachts auf Selbstmord.

Die russische Journalisten-Gewerkschaft kündigte am Dienstag eine eigene Untersuchung zum Tod des Kommersant-Kollegen an. Seit 1993 seien in Russland 214 Journalisten bei der Ausübung ihres Berufs ums Leben gekommen, sagte Generalsekretär Iwan Jakowenko. "Wir sind (weltweit) auf dem zweiten oder dritten Platz hinter Kolumbien und vielleicht dem Irak. Nicht ein Fall eines gestorbenen Journalisten ist in unserem Land wirklich aufgeklärt worden."

Tuesday, March 06, 2007

Die Mülltaucher (Tagesspiegel)

(06.03.2007)
Die Mülltaucher
Ihr Essen holen sie aus Berlins Abfalltonnen – aber nicht, weil sie arm sind.
Über ein Leben gegen den Wegwerfwahn
Von Johannes Gernert

Nachdem er das erste Mal auf einem Brotberg herumgeklettert war, hat Batti geweint. Er fuhr vom Hof der Fabrik, wo der Container stand, an den geparkten Lastwagen vorbei, und wollte nur noch nach Hause. Am Gepäckträger hing der Beutel mit den Brotlaiben. Er begriff das einfach nicht: Wie konnten sie das alles nur wegschmeißen? Das gute Brot.

An diesem Wochenende ist er wieder in den Container geklettert, um Brot zu besorgen. Er steht auf einem Hügel voller Backwaren – auf Weißbrot, Schwarzbrot, Körnerbrötchen, süßen Teilchen. Batti, 25 Jahre alt, Wollpulli, sorgfältig rasierter Bart, will seinen richtigen Namen lieber nicht nennen. Die Polizei reagiert in der Regel zwar nur träge auf Müllsucher wie ihn. Aber ob der Abtransport von Ausschuss nun Diebstahl ist oder nicht, ist nicht abschließend geklärt, und Batti will lieber kein Risiko eingehen. Die Plane über dem Container ist dreckig, die Wände sind schwarz verschmiert. In der Ecke liegt ein Teighaufen. Es riecht vergoren, aber die Brotlaibe sehen frisch und appetitlich aus. „Der hier ist vielleicht ein bisschen zu braun“, sagt Batti. Es kann sein, dass andere vom Band gefallen sind und aussortiert wurden. Möglicherweise waren sie eine Idee zu schwer, zu leicht oder zu eckig. Er weiß, dass es Standards gibt für Gewicht, Form, Farbe, dass der kleinste Makel das frische Brot zu Müll macht. Und genau das will Batti nicht hinnehmen. Deshalb isst er den Müll. Er ernährt sich von dem, was die Brotfabrik, was die Supermärkte wegwerfen.

In seiner Wohngemeinschaft machen das inzwischen fast alle so und in vielen anderen WGs, die er kennt, auch. Sie nennen es „containern“, weil sie das Essen aus Containern holen. In etlichen deutschen Städten öffnen Menschen abends die Tonnen der Supermärkte und nehmen sich, was sie für essbar halten. Manche machen das seit zehn oder 15 Jahren. Aber erst jetzt gehen immer mehr von ihnen mit Internetseiten an die Öffentlichkeit. Seit Anfang des Jahres berichten Aktivisten auf verschiedenen Container-Blogs, zum Beispiel bei „container.blogsport.de“, von ihren Streifzügen. In Amerika nennen sich Gleichgesinnte „Dumpster Diver“, also Mülltaucher, oder „Freegans“ – freie Veganer. Sie ernähren sich von Obst und Gemüse aus Supermarktabfällen. In New York organisieren sie für Neueinsteiger sogar Führungen an den Müllsäcken von Märkten entlang. Oft haben sie Arbeit, eine Wohnung im bürgerlichen Viertel und nicht selten ein festes Einkommen. Sie wühlen nicht im Abfall, weil sie arm sind, sondern weil sie gegen eine Konsumkultur protestieren wollen, die sich einen solchen Wegwerfwahn leistet.

Auch Batti könnte sich Essen kaufen. Aber das möchte er nicht. Auf seinen Touren greift er in Tonnen, die dreckig sind und verwest riechen. „Das ändert meine Wertschätzung für das Essen aber nicht“, sagt Batti. Er zieht keine Plastikhandschuhe über wie andere. Er fasst einfach rein, es kostet ihn keine Überwindung.Als er seiner Mutter erzählte, wie er seine Lebensmittel besorgt, ist sie zu einem Supermarkt gegangen und wollte sich die Container ansehen. Seine Großmutter, die im Krieg Mangel erlebt hat, findet gut, was ihr Enkel macht. „Wenn es um Sparsamkeit geht, sind wir einer Meinung“, sagt Batti. Für seine Eltern hat er schon Gemüse aus der Tonne gekocht – und sie haben es gegessen.

Batti lebte in Dortmund in einem Elternhaus mit „vollem Kühlschrank, fettem Fernseher, vier Personen und fünf Autos“. Als er dann in Berlin studierte, fing er an, über diesen Überfluss nachzudenken. Er beschloss, von möglichst wenig Geld zu leben. Er hörte von Leuten, die sich ihr Essen aus Containern holen. Batti hat sich das gemerkt und es dann auch gemacht.

Der junge Mitarbeiter im grünen Polo-Shirt steht am Hinterausgang des Supermarkts, Fuß in der Tür, macht Pause, raucht und telefoniert. Batti sagt leise „hallo“. Der Junge nickt kaum. Batti nimmt sich eine Holzkiste und öffnet nacheinander alle drei blauen Tonnen, die in der Ecke stehen. Zügig packt er ein Netz mit Orangen, eine Packung Tomaten, Kartoffeln, Chicorée, einen Topf Kräuter, Kohlrabi, eine Papaya, einen Kopfsalat und eine Sternfrucht in die Kiste. Der Junge tritt die Zigarette aus und lässt die Tür hinter sich zufallen. Nicht alle Mitarbeiter sind so gleichgültig. Manche sehen Batti verächtlich an. Andere zerstechen Jogurtbecher, kippen Flüssiges oder Matschiges oben auf den Abfall oder bringen „Vorsicht Rattengift“-Schilder an.

Wie fast alle Container-Aktivisten lässt Batti leicht Verderbliches liegen. Das heißt: keine Eier, kein Fleisch, kein Fisch. Nur einmal hat er sechs Packungen Sushi mitgenommen, die am selben Tag abgelaufen waren. Die schmeckten noch. Pilze nimmt er auch nie mit, die seien schon im Supermarkt oft nicht mehr genießbar, hat er gelesen. Bei Schimmel entscheidet er von Fall zu Fall.

Nudeln, Reis, Salz, Milch und Eier kauft seine WG beim Ökobauern oder im Biogroßhandel. Nur an Brot mangelt es nie, Battis Brotberge werden nie kleiner. Es gibt darüber auch einen Kinofilm, der Batti und vielen seiner Freunde als Argumentationshilfe dient. Der lief erst vor kurzem, hieß „We feed the world“ und dokumentiert die Absurdität globaler Nahrungsmittelproduktion. Unter anderem zeigt er, dass Wien Tag für Tag so viel Brot wegschmeißt, wie Graz verbraucht. Wie viele Lebensmittel von deutschen Supermärkten weggeworfen werden, steht in keiner Statistik. Nur so viel: Im Jahr 2005 gaben Märkte dem „Bundesverband Deutscher Tafeln“ 100 000 Tonnen Lebensmittel, die dann an Bedürftige verteilt wurden. Die Spitze eines Müllbergs.

Am Abend freuen sich die anderen in Battis WG-Küche über das Gemüse. Batti kniet vor der Kiste, sortiert Tomaten aus und zupft welke Salatblätter ab. Er unterhält sich mit seinen Mitbewohnern über den tollen neuen Markt um die Ecke. Da wird noch sehr viel weggeworfen, weil sie die Kalkulation noch nicht so gut drauf haben. Batti wird die Kartoffeln kochen, Quark rühren und Salat machen. Später gibt es gebratene Äpfel. Seine Mitbewohner haben gestern ein paar Kilo aus dem Müll geholt.

Saturday, March 03, 2007

You couldn’t make it up (The Timess)

From Times Online
March 02, 2007
You couldn’t make it up
The internet encyclopaedia Wikipedia is one of the most visited sites on the web. Can you trust it?
Jenny Kleeman

How can you tell when you have arrived at a Wikipedia meet-up? Any of the groups in this busy London bar could be the people I am looking for, because Wikipedia could be written by anyone and everyone. I exchange bewildered looks with random drinkers until I come to a large gathering at the back of the bar: an incongruous mix of students, well-dressed women, Goths and middle-aged men. One of them has a ferret sleeping in his lap. These must be the people I have come to meet.

If you use the internet, you have probably used Wikipedia. The web-based encyclopaedia that anybody can edit ranks among the 12 most visited sites in the world, with traffic rising every month. Its content has been creeping into newspaper articles, GCSE coursework and academic dissertations. With no centralised moderator, it has been accused of being unreliable, sometimes unreadable, and even libellous.

But who are we actually relying on when we use Wikipedia? Little is known about the small army of regular volunteers who dedicate themselves to editing the site. I am here because I want to find out who they are — and why they do it. About 30 of the site’s most committed contributors are here tonight, many of them meeting for the first time. I get talking to Charles Matthews, a 52-year-old former Cambridge academic and the second most prolific Wikipedian in the world. Since he discovered the site in 2003, Charles has made more than 100,000 edits to the encyclopaedia, on topics ranging from mathematics to Quaker poets. He is eager to tell me how Wikipedia is changing the world.

“We’ve made knowledge cool,” he beams, from behind thick-rimmed glasses. “No young person would ever want to be seen walking around with an encyclopaedia under their arm. But thousands of them look at Wikipedia every week. That’s quite an achievement.” I ask Charles if I can spend an afternoon watching him work. “You want to come over to my house and see me at my laptop in my pyjamas?” he laughs. “You’re welcome to, if you think it would be interesting.”

Charles lives in Cambridge with his wife, two children, two Yorkshire terriers, and more than 5,000 books. They line four rooms of his house from floor to ceiling. There are 600 books on the game Go alone, in Japanese, Chinese and Korean. “There’s lots of useful information that you can get from books,” he smiles, “even if they’re not in English.” A former mathematics lecturer, Charles left academic life in 1998 when Cambridge University failed to give him tenure. He then became a writer, a voluntary worker and a house-husband. Since finding Wikipedia, he spends about 50 unpaid hours a week working on the site, making up to 200 edits a day. “I’m supposed to be cleaning the house,” he says, sheepishly.

A typical day will begin with Charles picking up a book, but he won’t read it, as such. “I’m just after the topics — I’m not that interested in what the authors are saying. You whiz through books to find clues about what people interested in certain areas should have heard of. You pick out the highlights, make a list of interesting topics, pop it into Wikipedia and then start working.” His study is strewn with handwritten lists, waiting to be entered into the site.

He plunders Cambridge’s secondhand bookshops, selecting his books according to what is in the index. Today, he is looking through something on the Ark of the Covenant in Ethiopia. “I just think we should have more articles on Ethiopia. This cost me four quid. I’ll go through this, get some value out of it, then I’ll give it to Oxfam. That’s the kind of recycling I do.” Talking to Charles is a lot like surfing Wikipedia — each question is answered with an example that takes him back to his laptop and off on another tangent. He enjoys pinning down facts through “detective work”, a mixture of skim-reading scholarly books and cross-referencing with Google. At the moment, he is particularly interested in minor poets. “You never run out of them.”

As a former academic, he seems uniquely qualified to assess the reliability of Wikipedia. “You shouldn’t use it as your unique source for anything — that’s never been what encyclopaedias are for. It’s there to give you quick access to a subject. But articles with a lot of references are probably quite reliable. I put references on my articles like Christmas tree decorations,” he says with pride.

While I admire Charles’s dedication, I don’t understand why he has been prepared to devote the past three years of his life to improving Wikipedia.

“I see it as voluntary work. Somebody has to be making sure that all the right things are going on. So I just have to put in the hours.” But what drives him to put in those hours? “I find I am stretched in all my directions,” he replies. “Some of the time it’s purely academic stuff; other times it’s writing, it’s copy editing, it’s making sense of badly written articles. And it’s satisfying to pin down facts.” While Charles may be royalty in the virtual world of Wikipedia, his wife does not see the point of his dedication. “She’s not in favour of it. It’s a bone of contention,” he sighs.
The next day I go to Chelmsfordto meet 17-year-old Sarah, who has responded to a note I left on a Wikipedia noticeboard. She has amassed nearly 6,000 edits since discovering Wikipedia ten months ago. Her bedroom is like any other teenager’s, with teddy bears, Buffy the Vampire Slayer DVDs and a calendar of the actor Jake Gyllenhaal. There is little to suggest that this is where she spends 50 hours a week updating the encyclopaedia — on top of her schoolwork.

“I’ve tried to break away from Wikipedia, and each time I fail miserably. I’m definitely a Wikiholic,” she says. Her conversation is peppered with Wikipedia acronyms, and she says she often finds herself accidentally typing e-mails in Wikitext, the markup language used to write Wikipedia articles.

“I get up at 8, check Wikipedia to see if there are any urgent messages I need to respond to, and then I go to school. Maybe I’ll check Wikipedia at break time, if there’s something I need to keep an eye on, if not I’ll just hang out with my friends.

“When I come back from school I’ll edit on and off until I go to bed,” she continues. “I volunteer at Oxfam on Saturdays, but I’ll edit from the moment I get up until I have to go to out, and then I’ll come back and edit until I go to bed — regularly until three or four in the morning.”

Sarah is taking A levels in history, English, Latin and RE, and has tried to write articles relevant to her syllabus so she can learn while she edits: “I’m trying to work on The Merchant’s Tale at the moment — that’s one of my set texts.” She used to edit Islamic articles, but gave up because they were “too contentious” and got her into week-long arguments with other editors. “Edit wars are the bad side of Wikipedia,” she laments. “You have to remain calm in the face of abuse.”
Unlike Charles, Sarah likes to focus on one article at a time, nurturing it over a period of weeks while it goes through the rigorous peer review process necessary for it to be Featured Article (FA) standard. Featured Articles are meant to demonstrate the best of Wikipedia and only a tiny proportion of articles — 0.077 per cent of the total number — have such status. Sarah has three: on Jake Gyllenhaal, the actor Austin Nichols, and the 2003 film Latter Days .

“No resource in the world is as comprehensive as my article on my idol, Jake Gyllenhaal. The pleasure you gain from that is amazing,” Sarah says. “There’s a lot of kudos in getting FA. I love it that millions of people are reading the edits that I’ve made. Although my friends think I’m mad.”

Her pantheon of heroes includes some unusual choices. She is a card-carrying Conservative — she shows me her card to prove it — and hopes to get the David Cameron article up to FA standard too. “I think he’s amazing. Tony Blair is a Featured Article, so why isn’t David Cameron? It’s just a matter of finding the time to do it. When I do, I’ll be sure to write to him and say, ‘Hey! Look what I did!’ ” Sarah has a condition called semantic pragmatic disorder, which makes social interaction difficult for her. “It’s on the autistic spectrum, but it’s very mild,” she says, advising me not to bother looking it up on Wikipedia because “the article is rubbish”. Wikipedia is allowing her to overcome it. “It’s really helped my social skills. They’ve improved so much. It’s easier to interact with people when you have their words on the screen. You learn how to talk back to them without offending them.”

Next year Sarah will go to university to study theology, and then she hopes to become an entrepreneur. “Impossible dreams make you accomplish stuff. You have to dream big,” she insists. “ ‘Imagine a world in which every person with a computer has access to the world’s knowledge’ — Wikipedia’s founder, Jimmy Wales, said that — that’s what we’re doing. We are educating people about topics that would never have occurred to them. We’re changing the world.”

Angela Beesley’s world has certainly been changed by Wikipedia. A former educational researcher, Angela, 29, has gone from humble Wikipedian to internet entrepreneur, working alongside Jimmy Wales. This has made her a kind of Wikicelebrity — there is even a Wikipedia article on her. She lives in Australia, but I manage to catch her for coffee in a Colchester café while she is back in the country renewing her visa.

While Sarah concentrates on perfecting specific articles, Angela prefers to fix problems in other people’s work. She has made 45,000 edits since she stumbled on the site in 2003. “It’s mostly copy editing, helping people with formatting and trying to keep the articles consistent,” she says with an Anglo-Australian twang. “I have a watch-list of articles I know are vandalised a lot, so I keep an eye on those. Vandals tend to blank the page, or write something silly about one of their friends so they can show it to them later.”

In 2004, Angela was elected to the board of the Wikimedia Foundation, the nonprofit organisation that runs Wikipedia. “It was good timing, because at the same time I got made redundant from my day job. When that happened, I was on Wikipedia from when I got up until I went to sleep. Then I ran out of money and had to think about what to do next.”

Angela even managed to find love on Wikipedia. Her boyfriend is a programmer and “a very prominent member of the Wikipedia community”, she smiles. They got to know each other through the site for a year before meeting in person, and eventually got together when Angela went to Australia for a conference. She has since moved in with him in Melbourne.

“The best thing about Wikipedia is feeling that you are part of a community,” she says as she finishes her latte. “It’s a nice community to be part of. People accept you because you are doing good work.”

Wikipedia on Wikipedia

Wikipedia is the largest encyclopaedia compiled. It has more than six million articles, with 1.6 million in the English language version

Wikipedia began in January 2001 as a feeder project for Nupedia, an encyclopedia that had been founded ten months previously by the web portal company Bomis Inc

By the end of 2001 it had grown to 18 language editions and 20,000 articles. In 2002 its co-founder, Jimmy Wales, announced that Wikipedia would not run adverts and its URL was moved from the .com domain to its current home, Wikipedia.org

There are 250 language editions of Wikipedia, including Afrikaans, Maori, Kiswahili and Esperanto
There are more than 3.4 million registered Wikipedians, although many more edit the site anonymously. Most are male
The most edited Wikipedia article is the entry on George W. Bush, which has been revised 33,566 times. Jesus is in fourth place, with 16,010 revisions, and Adolf Hitler is seventh, with 14,555. The page on Tony Blair is the 64th most edited article
The site hit trouble in November 2005 when John Seigenthaler Sr, an American journalist, found that his Wikipedia entry contained libellous statements: an anonymous user had edited his biography to imply that Seigenthaler was involved in the assassinations of John F. Kennedy and Robert F. Kennedy

The fact is, it’s rubbish

I have just learnt from the article on the left that there is something called semantic pragmatic disorder. Sarah advises us not to look for any information about the condition on Wikipedia “because the article is rubbish”.
My default position is that every article on Wikipedia is rubbish. When, for example, I need medical information, I go to a reputable medical site, such as the British Medical Journal or The New England Journal of Medicine. In a couple of minutes, via the BMJ, I have found what seems to be a good introduction to Sarah’s condition through the National Autistic Society.
God knows I am painfully aware of the shortcomings of newspapers when it comes to getting things right. But we do start from the premise that there is a fighting chance of accuracy emerging from the professional and commercial brutality that is the daily editorial process, rather than relying on a nether world of loner volunteer obsessives.
I often have only a minute or two to get a definitive steer on whether something presented to me as fact may be utter baloney. Why trust the vagaries of Wikipedia when there are web stalwarts such as the BBC, Know UK, the Internet Movie Data Base and the Ordnance Survey, to name but four that I consult regularly?
The published opinion of my colleague Rosemary Righter continues to hold sway in my view: Wikipedia lacks accountability, authority, scholarly credentials, accuracy and scrupulousness.
And I treasure the experience of another colleague, Martin Waller, who created the entirely fictional fat cat Sir Peter Pickles and chronicled his memoirs for several years. The moment came for the MP and serial board member to be laid to rest. His “obituary” was duly published in The Times. And witless Wikipedia put news of this “death” on the internet. Rest in pieces, Wikipedia. QED.

RICHARD DIXON Times Chief Revise Editor