Knaller an der Zeitungsfront

Tuesday, October 14, 2008

Techtelmechtel (Frankfurter Rundschau)

"Schmidt liest Proust"
Techtelmechtel

Was als Blog vor zwei Jahren zu wuchern begann, ist ein vergleichsweise übersichtliches 600-Seiten-Buch geworden: "Schmidt liest Proust" dürfte die abgefahrenste Publikation dieses Herbstes sein. Und die Verleger von Voland & Quist sollten dafür einen Orden bekommen.Wer Proust schon kennt, wird beschenkt, und die anderen - hoffentlich - verführt, ihn kennenzulernen. Mit einer Mischung aus niedrigstapelnder Nonchalance und Lesebühnen-Schnodderigkeit traktiert Jochen Schmidt, Mitbegründer der legendären "Chaussee der Enthusiasten", den französischen Supermythos. Das tut er schlicht und ergreifend, indem er "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" durchliest (in der DDR-Lizensausgabe seiner Eltern). Bildungshuberei geht ihm völlig ab; bei Schmidt wird die Kokotte Odette zum "Techtelmechtelprofi", und Tante Léonie ist ihm schlicht eine "Hypochonderin".

Das tägliche Pensum von 20 Seiten bewältigt Schmidt mit zunehmender Begeisterung. Am Ende ist er richtig stolz auf seine "Lebensleistung". Ja: "Man könnte sagen, dass man nicht sterben sollte, ohne Proust gelesen zu haben. Aber in Wirklichkeit ist man dann noch gar nicht geboren." Von gelegentlichen Disziplindellen abgesehen, über die wir pingelig informiert werden, zieht Schmidt sein Experiment durch - egal, ob er auf seinem Ostberliner Balkon den Pennern lauscht oder auf der Krim Russischkurse belegt.

Seine scheinnaive Intelligenz ist schlicht hinreißend, als Prousts größtes Talent erkennt er die Komik. Im Juli 2006 hat der Verfasser von "Triumphgemüse" begonnen, "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu lesen, im Januar 2007 macht Schmidt seinen letzten Eintrag.
Das letzte Wort lässt er Proust: "Wie viele gewaltige Kathedralen bleiben unvollendet!" I.H.

Das Buch
Jochen Schmidt: Schmidt liest Proust. Mit CD. Verlag Voland & Quist, Dresden 2008, 608 S., 19,90 Euro.