Knaller an der Zeitungsfront

Tuesday, July 29, 2008

Der Große Vorsitzende (Tagesspiegel)

Der Große Vorsitzende
Noch 27 Tage bis Olympia. Müh-Ling trainiert heute: Maoismus

Seine Leiche schwimmt in einem trüben Formaldehyd-Aquarium. Vor dem Glaskasten teilen Volkspolizisten den Besucherstrom in zwei Prozessionen, die links und rechts an Mao vorbeidefilieren. Im Akkord legen die Chinesen gelbe Plastiknelken nieder, die nachts zurück in die Verkaufsstände am Mausoleums-Eingang wandern. Der Gründungsvater des chinesischen Kommunismus ist tot, um ihn herum zirkuliert ein ökonomisches Perpetuum Mobile. Ist ja Kapitalismus jetzt.

Die Partei sagt: Mao lag zu 70 Prozent richtig und zu 30 Prozent falsch. Unmittelbar nach dem Tod des Großen Vorsitzenden wurde dieser ideologische Wechselkurs ausgegeben, offiziell notiert Mao bis heute unverändert. 70 zu 30: Was sagt das über die chinesischen Geldscheine aus, die immer noch Maos Konterfei tragen. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum die Chinesen immer so skeptisch ihre Banknoten prüfen. Einen gefälschten 100-Yuan-Schein wird man in Peking mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht los. Man kann ihn höchstens den Ausländern andrehen, von denen allerhöchstens 30 Prozent einen echten von einem falschen Mao unterscheiden können.

Eine französische Galeristin im hippen Pekinger Künstlerviertel „798“ erzählt, sie sei neulich von der Polizei gezwungen worden, ein pietätloses Mao-Porträt abzuhängen. Sie erzählt die Geschichte lachend, fast kokett. Jede dritte Galerie im Viertel verkauft ungehindert Mao-Porträts, mal in knalliger Andy-Warhol-Manier, mal als ironische Cola-Reklame, mal in der Heldenpose des Kulturrevolutionärs. Die westlichen Sammler, heißt es, kaufen das Zeug wie bekloppt. Die Touristen sowieso. Im Backpacker-Viertel zieht jeden Abend ein greiser Chinese von Hostel zu Hostel und verkauft MaoMemorabilia. „Look-a, look-a!“, sagt er. „Mao book-a! Mao clock-a! Mao shirt-a!“ Die Leute reißen ihm das Zeug aus den Händen. Mao sells.

Amerikanische Finanzpolitiker sind der Ansicht, der chinesische Yuan sei massiv unterbewertet, manche sprechen von bis zu 30 Prozent. Ich dagegen finde Mao zu 70 Prozent überbewertet.Am 7. Juli trainierte Müh-Ling das Zählen, als nächstes lernt er, wie man sich chinesisch entschuldigt. Seine Kolumne wird uns bis zum Beginn der Olympischen Spiele in Peking begleiten.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 12.07.2008)

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