Knaller an der Zeitungsfront

Saturday, August 09, 2008

Allein gegen alle (fr)

Radeln in New York
Allein gegen alle
Radfahrer haben heute Vorfahrt in New York, wichtige Straßen sind für Autos gesperrt. Unser Autor Sebastian Moll fährt jeden Tag mit dem Rad, ihm gefällt der Überlebenskampf.

Es sind zwei Wörter, die in New York zum Radfahren unbedingt dazugehören. Der kurze Fluch: "Fuck you." Erst vor ein paar Tagen habe ich das wieder gemerkt, als einer dieser idiotischen Taxifahrer im Zentimeterabstand an mir vorbeirauschte, nur, um mich an der nächsten Kreuzung beim Abbiegen zu schneiden und vor die unsägliche Entscheidung zu stellen: entweder scharf zu bremsen oder auszuweichen und damit eine Kollision mit einem parkenden Auto zu riskieren. Ich fluchte laut: "Fuck you." Wie ein Echo antwortete der Taxifahrer: "Fuck you." Und dann raste er mit quietschenden Reifen davon.

Gewöhnlich bin ich kein besonders zorniger Mensch, aber als Radfahrer in New York ist dieses "Fuck you" meist das Einzige, was einem bleibt. Es ist der verzweifelte Aufschrei des schonungslos Ausgelieferten, gerichtet oft an niemanden Bestimmtes, sondern an die ebenso anonyme wie gleichgültige Übermacht der Autofahrer um einen herum.

Es ist ein gnadenloser Überlebenskampf, in New York Rad zu fahren, und man gerät in Not, wenn man versucht zu erklären, warum man das nicht nur tut, sondern es auch noch aufregend findet. Warum man beispielsweise das Konzert von Autohupen und Trillerpfeifen (damit machen Hotelportiers, die auf Taxis warten, auf sich aufmerksam) genießt, als wäre es eine Mahler-Symphonie; warum man das Bouquet von schwarzem Rauch, Fleischgerichten aus exotischen Restaurantküchen und faulendem Müll einsaugt, als wäre es die reinste Atlantikluft; warum es sogar auf seine Art Spaß macht, wie ein Matrose vor sich hin zu schimpfen und beschimpft zu werden; warum es so ein unvergleichliches Triumphgefühl ist, allen Schlaglöchern und sich plötzlich öffnenden Autotüren zum Trotz 30 Blocks lang nicht ein einziges Mal den Fuß auf den Asphalt zu setzen.

Vielleicht kann man die Faszination so erklären: Ich gehe vollkommen auf im Treiben dieser so chaotischen Stadt. Ohnehin ist Fahrradfahren für mich die einzige Art, eine Stadt wirklich zu begreifen. Ich habe noch nie eingesehen, warum man sich in einem Auto - von der Außenwelt abgeschirmt - in einer Metropole bewegen soll, oder, alternativ, unterirdisch eine Großstadt als Abfolge neonbeleuchteter Bahnsteige erleben soll, die sich nur durch die Namensbezeichnungen auf den Stationsschildern voneinander unterscheiden. Gleich, ob ich in München oder Frankfurt gelebt, Paris oder Berlin besucht habe, das Rad erschien mir immer als das beste Fortbewegungsmittel.

Insofern war es für mich auch klar, dass ich mir ein Rad besorgte, als ich vor sechs Jahren nach New York zog. Zumal der Stadtplan Manhattan als optimales Fahrradrevier ausweist. Die Fläche der Stadtviertel, in denen man sich in New York meistens bewegt, also zwischen Battery Park im Süden und der 110ten Straße im Norden, sowie von Flussufer zu Flussufer beträgt gerade mal 10 x 3 Kilometer, und auf dieser Fläche gibt es nicht eine einzige Erhebung, für die man eine Gangschaltung benötigte.

Aus der Lenkerperspektive stellte sich die Sache zunächst anders dar. Schon die erste Testfahrt mit meinem stolz für 30 Dollar von einem Trödler auf der Lower East Side erstandenen Schrottrad sollte mich Demut lehren - Manhattan ist mitnichten für Radler konzipiert. Was hatte ich mir auch gedacht? Wie sollte die verstopfteste Großstadt der westlichen Hemisphäre auch ein Biotop für Pedaleure sein? Der erste Versuch, sich im New Yorker Verkehr zu behaupten, endete im frustrierten Lösen einer Monatskarte für die Subway.

Doch der Gedanke ans Radfahren ließ mich nicht los. Schließlich waren da auch die Fahrradkuriere, die sich scheinbar mühelos durch den Verkehr schlängelten und mit 40 Sachen über den Times Square pfiffen. Es konnte nur eine Frage der Technik sein und der "Attitude" - jener typischen New Yorker "Hoppla, jetzt komm ich"-Einstellung, die man als Zugezogener erst üben muss. Also versuchte ich es noch einmal. Und tatsächlich fiel irgendwann der Groschen. Mittlerweile beherrsche auch ich die Kunst, mit dem eigentlich träge die breiten Avenues herunterrollenden Verkehr mitzuschwimmen. Der Frust ist einem tiefen Glücksgefühl gewichen, das sich jedes Mal einstellt, wenn es mir gelingt, mich wie ein Surfer durch den Verkehr treiben zu lassen.

Es ist allerdings in den vergangenen Jahren auch deutlich einfacher geworden, in New York Rad zu fahren. Der Moloch ist dem Fahrradfahrer heute wesentlich freundlicher gesonnen, als er das noch vor fünf Jahren war. Man liegt heute als Radfahrer in New York im Trend, wird umgarnt nicht nur von der Fahrrad- und der Fahrradmode-Industrie, sondern sogar vom Bürgermeister selbst.

Als Teil seines ehrgeizigen Plans, New York zur grünsten Stadt Amerikas zu machen, will Michael Bloomberg neue Radwege in den fünf Stadtteilen anlegen lassen. An wichtigen U-Bahn-Stationen wurden große Fahrradständer aufgestellt, im Zentralpark verleiht die Stadt Räder. Und nicht nur heute, sondern einmal pro Woche im August wird eine Route vom Südzipfel Manhattans bis an die 72. Straße komplett für den Autoverkehr gesperrt.

Eine erstaunliche Entwicklung: Noch vor zehn Jahren waren die "Critical Mass-Rides" - die monatlichen Fahrraddemonstrationen gegen den Autoverkehr in US-Städten - Veranstaltungen randalierender Anarchos, die mit Massenverhaftungen endeten. Heute fahren regelmäßig Politiker wie der Ex-Präsidentschaftskandidat Al Sharpton oder der Talking-Heads-Musiker David Byrne bei "Critical Mass" mit, die Fahrten sind zum gesellschaftlichen Event geworden. Und kein Promi versäumt es mehr, sich von Paparazzi beim Einkaufen auf dem Rad erwischen zu lassen - ob das nun Madonna oder Gisele Bündchen in Manhattan ist, die Clintons auf den Radwegen rund um ihren New Yorker Wohnvorort Chappaqua radeln oder Barack Obama an seinem wahlkampffreien Wochenende mit Familie am Lake Michigan in Chicago.

Wie sehr sich das Radfahren in New York von der anarchischen Aktivität zum Trend entwickelt hat, lässt sich auch an der Mode der "Singlespeed"-Räder ablesen. Um das Selbstmörderische ihres Jobs zu unterstreichen, begannen New Yorker Radkuriere vor 20 Jahren, mit Fahrrädern ohne Gangschaltung und ohne Bremse durch die Stadt zu jagen. Ihre Dienstfahrten wurden zum Flirt mit dem Tod - man handelte sich entweder Bewunderung ein, wenn man mit Geschick und Glück wieder einen Tag überlebt hatte, oder landete auf der Intensivstation. Es war - ganz im Geist des Punk - eine Anklage gegen die menschenverachtende Umgebung unter vollem Einsatz der eigenen Gesundheit. An Wochenenden veranstaltete die Szene wilde Rennen im Straßenverkehr, nach denen bei viel Dosenbier neben dem Sieg auch spektakuläre Unfälle und die übelste Verletzung prämiert wurden.

Diese Rennen gibt es noch immer. Es gibt aber auch Singlespeed-Räder in den Boutiquen der schicken Viertel Williamsburg oder SoHo zu kaufen. Die Kunden sind bevorzugt Designer, Architekten und sonstige stilbewusste urbane Jungprofessionelle, die sich in denselben Geschäften gleich komplett im Radkurier-Look einkleiden. Die Kunstfertigkeit der Kuriere, sich mit den schwer beherrschbaren Rädern im New Yorker Verkehr zu behaupten, kann man dort allerdings nicht kaufen. Und so geben, wie die Shop-Besitzer berichten, nicht wenige Käufer die teuren Räder schon nach ein paar Tagen wieder zurück. Denn trotz Bloomberg-Plan ist New York noch lange nicht so Fahrrad-freundlich wie etwa Münster oder Kopenhagen. Es bleibt ein Abenteuer, den Broadway hinunter zu radeln, wenn es nicht gerade Samstag ist und Mayor Mike ihn für ein paar Stunden für Autofahrer gesperrt hat. Ein berauschendes Abenteuer allerdings. Diese Mischung aus Spiel und Kampf, aus Sport und Transport macht süchtig. Meine U-Bahn Karte liegt jedenfalls seit langem ungenutzt in der Schublade.