Knaller an der Zeitungsfront

Saturday, April 28, 2007

Denkmalstreit in Tallinn eskaliert (Frankfurter Rundschau)

Moskau droht mit Sanktionen
Denkmalstreit in Tallinn eskaliert
Ein Toter, 44 Verletzte und mehr als 300 Festnahmen sind das vorläufige Fazit der Proteste gegen den von der estnischen Regierung verfügten Abbau des sowjetischen Kriegerdenkmals in Tallinn.

Tallinn (dpa)
Kopenhagen - Am Tönismäe, dem Park am Fuß des Tallinner Dombergs, steht nur noch der Sockel des Denkmals des bronzenen Soldaten. Die Statue selbst ist "in Polizeigewahrsam" an unbekanntem Ort. In den umliegenden Straßen erinnern zertrümmerte Fensterscheiben, geplünderte Kioske und ausgebrannte Autos an die gewaltsamen Unruhen, die die estnische Hauptstadt in der Nacht auf Freitag erschütterten."Blasphemisch" und "inhuman" nannte ein Sprecher des russischen Außenministeriums die geplante Umbettung der in Tönismäe begrabenen Kriegsgefallenen. Das Oberhaus des Moskauer Parlaments forderte Präsident Putin auf, die diplomatischen Beziehungen zu Estland abzubrechen, und beschimpfte die Esten als "provinzielle Neonazis". "Wir haben die Verhöhnung der Toten und des Sieges im Zweiten Weltkrieg satt", sagte Senatspräsident Sergej Mironow. Die Duma sprach sich für Wirtschaftssanktionen aus. Während der Bronzesoldat für die Russen den Sieg über den Faschismus verbildlicht, ist er für die Esten ein Symbol für die sowjetische Okkupation.
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In Tallinn hatten sich am Donnerstagabend mehr und mehr Demonstranten an den Zäunen versammelt, die die Polizei um den Ort der geplanten Ausgrabungen errichtet hatte. "Schande über Estland", skandierte die vor allem aus russischsprachigen Jugendlichen bestehende Menge. Als einige von ihnen begannen, mit Steinen zu werfen und die Absperrungen zu überwinden, setzte die Polizei Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer ein. Daraufhin zogen Gruppen Jugendlicher durch die Innenstadt. "Es ging ihnen nur noch um Zerstörung, das hatte nichts mehr mit dem Denkmalstreit zu tun", sagte Polizeisprecherin Tuuli Harson.Ein schwedischer Fernsehreporter, der selbst überfallen wurde, sprach von "betrunkenen Jugendbanden, die alles zerschmetterten, was ihnen in den Weg kam". Bei Zusammenstößen zwischen Polizei und Randalierern und bei Schlägereien gab es viele Verletzte, zwölf Polizisten mussten verarztet werden. Ein 19-jähriger Jugendlicher, der mit Stichwunden ins Krankenhaus eingeliefert wurde, erlag seinen Verletzungen. Um weiteren "brutalen Akten öffentlicher Zerstörung" vorzubeugen, beschloss die Regierung noch während der Nacht, den Abriss des Denkmals, der eigentlich erst nach Beendigung der Ausgrabungen stattfinden sollte, sofort durchzuführen. In der Früh war die zwei Meter hohe Bronzestatue entfernt. Sie soll auf einem Soldatenfriedhof einen neuen Standort finden.Die Umbettung der vor dem Denkmal Begrabenen setzte Verteidigungsminister Jaak Aavikso vorläufig aus. Die Gewerkschaften sagten die für den 1. Mai vorgesehenen Kundgebungen ab, um nicht neuen Konfrontationen Vorschub zu leisten. Das Innenministerium verhängte ein Ausschankverbot für Alkohol bis zum 2. Mai. Man fürchtet ein Wiederaufflammen der Unruhen spätestens am 9.Mai, dem russischen Gedenktag für den Sieg im Zweiten Weltkrieg.
Ex-Kanzler geißelt AbrissDer frühere deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) kritisierte unterdessen laut Agenturen den Abriss des sowjetischen Kriegerdenkmals scharf. "Es ist stil- und pietätlos, wie in Estland mit dem Gedenken an junge russische Soldaten umgegangen wird, die ihr Leben im Kampf gegen den Faschismus verloren haben", sagte er. Ein derartiger Umgang mit der Erinnerung an die Toten "widerspricht jedem zivilisierten Verhalten". Hannes Gamillscheg

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Lucarelli
"In Italien dürfen Fußballer nur an Fußball denken"
2005 war der Stürmer des AS Livorno Torschützenkönig der Serie A, berühmt aber ist der 31-Jährige, "Kommunist von Geburt an", für seinen Kampf gegen rechte Gewalt. WELT ONLINE sprach mit Cristiano Lucarelli über Freikarten für Kinder, Che Guevara und den FC St. Pauli.

Foto: ANSA
Kommunist auf dem Fußballplatz: Cristiano Lucarelli
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Cristiano Lucarelli zählt zu den berühmtesten Fußballern Italiens. Einerseits trifft der 31-jährige Stürmer wie am Fließband, wurde 2005 Torschützenkönig der Serie A. Andererseits sorgt er abseits des Platzes für Aufregung: Lucarelli bezeichnet sich als „Kommunist von Geburt an“ und feierte ein Tor mit Che Guevara auf dem T-Shirt, weswegen er aus Italiens U21 flog. 2003 wechselte er trotz weitaus besserer Angebote zum AS Livorno, dem Klub seiner Heimatstadt, in die Zweite Liga, schoss den Klub nach 49 Jahren wieder in die Erstklassigkeit und blieb dem Verein bis heute treu. Lucarelli protestiert offen gegen den Neofaschismus in italienischen Stadien, gegen die befangene Sportjustiz und die Ignoranz der Funktionäre gegenüber den Fans. Über all dies hält der Italiener am Montag einen Gast-Vortrag am Londoner University College.
WELT ONLINE: Signore Lucarelli, hat Sie die Einladung zu dem Vortrag überrascht?
Cristiano Lucarelli: Ja, ich hätte nicht gedacht, dass so eine einfache Geschichte wie meine auch an einer Universität in London interessant sein kann.
WELT ONLINE: Dabei ist Sie doch sehr besonders.
Lucarelli: Es ist eine schöne Geschichte, weil ich es geschafft habe, meinen Lebenstraum zu verwirklichen und für den Verein meiner Stadt zu spielen. Dafür habe ich sehr viel Geld abgelehnt. Eine Seltenheit.
WELT ONLINE: Wissen Sie schon, was sie den Studenten erzählen?
Lucarelli: Ehrlich gesagt nicht. Auch, weil ich keinen großen Erfolg in der Schule hatte. Ich habe sie sehr früh abgebrochen, um Fußball zu spielen. Ich mache mir eher Sorgen, ob ich mit den Studenten mithalten kann.
WELT ONLINE: Welche Botschaft haben Sie denn?
Lucarelli: Der Rassismus muss viel stärker bekämpft werden. Es kann einfach nicht sein, dass es im Jahr 2007 immer noch rassistische Handlungen gibt, nicht nur in den Stadien, auch auf den Straßen, in den Städten.
WELT ONLINE: Sie können dazu beitragen, das zu ändern?
Lucarelli: Ich hoffe es, glaube es aber nicht. Ich bin klein, nicht wahr? Ich bin gegen Rassismus, gegen jede Art von Gewalt. Das sind die zwei Dinge, die ich im Leben am meisten hasse. Es ist klar, dass ich darüber in London reden werde, aber allein kann ich nichts machen. Das muss eine größere Bewegung sein.
WELT ONLINE: Sehen Sie sich als Vorbild für junge Spieler und Fans?
Lucarelli: Ich habe nicht den Anspruch, ein Fußballidol zu sein. Ich bin lieber ein Vorbild für Argumentationen außerhalb des Fußballs.
WELT ONLINE: Warum sind Sie erst mit 27 Jahren zu ihrem Traumverein Livorno mit seiner politisch linken Anhängerschaft gegangen?
Lucarelli: Zuerst, als ich klein war, hatte Livorno keine Fußballschule, ich musste also weggehen. Als ich Profi wurde, war Livorno viertklassig, zu weit unten. Als sie aber in die Serie B aufgestiegen sind, bin ich dorthin gegangen und wir haben die Meisterschaft gewonnen.
WELT ONLINE: Haben Sie wirklich die ganze Zeit auf Livorno gewartet?
Lucarelli: Ja, das ist immer mein Traum gewesen. In meinen Träumen ging es nie um Milan, Inter oder Juve. Ich habe immer von Livorno geträumt. Schon als kleiner Junge habe ich immer geweint, wenn Livorno mal wieder verloren hatte. Mein Vater war auch großer Livorno-Fan. Wenn er dann frustriert war, habe ich ihm immer gesagt: Bleib´ ruhig. Wenn ich groß bin, gewinnen wir Spiele und etwas Großes. Ich bin also immer mit dieser Idee aufgewachsen, auch für meinen Vater.
WELT ONLINE: Sie haben eine Ausnahmestellung im italienischen Fußball. Was sagen die Mitspieler bei Livorno dazu?
Lucarelli: Mein Bild wird sehr instrumentalisiert. Ich bin eigentlich ein ruhiger Mensch. Jetzt bin ich plötzlich eine berühmte Person, ohne das wirklich zu wollen. Ich habe sehr einfache Dinge getan, ich hätte nicht gedacht, dass ich dadurch so wichtig werden könnte. Unter den Mitspielern bin ich nichts Besonderes.
WELT ONLINE: Haben Sie das Gefühl, eine politische Mission im italienischen Fußball erfüllen zu müssen?
Lucarelli: Nein, die Politik interessiert mich nicht. Mich interessieren Ideale: Freiheit, Antirassismus, Gleichheit. Ich mag Che Guevara, weil er Ideale hatte, die mir gefallen. Die Politik von heute mag ich nicht, die vor 30, 40 Jahren hätte mir gefallen.
WELT ONLINE: Was denken Sie angesichts der Gewalt- und Rassismusprobleme im italienischen Fußball?
Lucarelli: Es wurden jetzt sehr harte Gesetze gemacht. Aber das hält die Leute vom Stadion fern. Ich hoffe, dass jetzt etwas gemacht wird, was die Leute in die Stadien zurückbringt. Man sollte Kindern gratis Tickets geben, die Stadien zur Hälfte mit Kindern füllen.
WELT ONLINE: Solche Gedanken machen sich nicht viele Fußballprofis.
Lucarelli: Und das ist falsch. Meiner Meinung nach hat ein Fußballer die Pflicht, an gesellschaftliche Probleme zu denken. Es ist aber auch so, dass ein Fußballer in Italien Probleme kriegt, wenn er an fußballferne Probleme denkt. Ich bin ein gutes Beispiel dafür. Ein Fußballer darf hier nur daran denken zu spielen, an nichts anderes. Deshalb sagen alle, sie verstehen nichts von Politik, weil das System es so wünscht.
WELT ONLINE: Wäre es dann nicht an der Zeit, Italien den Rücken zu kehren?
Lucarelli: Ich würde gerne noch mal ein Abenteuer in Europa erleben und in einer großen Mannschaft im Ausland spielen.
WELT ONLINE: Wie wäre es mit einer kleinen Mannschaft in Deutschland? Schon mal vom FC St. Pauli gehört? Gute Stimmung, kleines Stadion, linke Fans.
Lucarelli: Den Klub kenne ich. Die Fans sind Linke?
Schlagworte
AS Livorno Serie A Cristiano Lucarelli FC St. Pauli Rassismus WELT ONLINE: Ja, ein Teil des Mythos des FC St. Pauli ist in den Achtziger Jahren aus der Hamburger Hausbesetzerszene hervorgegangen.
Lucarelli: Das wusste ich gar nicht, da haben Sie mir wichtige Informationen gegeben.
WELT ONLINE: Falls Sie also Interesse haben, nach Deutschland zu wechseln ...
Lucarelli: ... weiß ich jetzt, dass es da einen Platz gibt, der gut zu mir passen würde.

Saturday, April 21, 2007

Das Messi-Virus (Tagesspiegel)




Jahrhunderttor
Das Messi-Virus
Der Treffer des Argentiniers Lionel Messi lässt die Herzen von Fußballfans in aller Welt höher schlagen. Inzwischen kursieren unzählige Videos vom Jahrhunderttor im Internet.
Von Kurt Sagatz

"Messi = Maradona", "Der ist wie Maradona, nur besser" oder "madre de dios" (Mutter Gottes) - die Kommentare der Internet-Nutzer unter den inzwischen unzähligen YouTube-Videos zum 2:0 von Lionel Messi im Halbfinalhinspiel des spanischen Pokals Barcelona gegen Getafe (5:2) kennen nur den Superlativ des Jahrhunderttors. So wird der Treffer des Argentiniers gefeiert. Und so wie Messi am Mittwochabend an den gegnerischen Spielern vorbeistürmte, so gelangen auch zwei Tage nach dem Spiel immer neue Videoversionen dieses Traumtors auf die Server der weltweit größten Online-Video-Community. Am Freitagmittag konnte man den Sturmlauf des Argentiniers in mehreren hundert verschiedenen Videos ansehen. Bei den meisten handelte es sich um Mittschnitte der TV-Übertragung des spanischen Fernsehens. Auch von einer argentinischen Station und einem Sender mit arabischen Schriftzeichen im Logo waren Fassungen zu finden. Auf Messis eigener Internetseite steht das Video unter der bescheidenen Überschrift "Un gol memorable" - ein Tor, an das man sich erinnern wird.

Auf Youtube erfreut sich unter anderem das Video "Lionel Messi Vs Getafe GOAL[2-0]" mit 23.000 Abrufen großer Beliebtheit. Für den Ausschnitt aus dem englischen Pay-TV-Senders Sky Sports wiederum spricht der englische Kommentar. Im Netz ist Englisch die Weltsprache. Die Verbreitung des Videos im Web ist dabei inzwischen fast ebenso einmalig wie der Lauf des Fußballers selbst. Die Frage nach den Ausstrahlungsrechten scheint kaum eine Rolle zu spielen. Während Vereine, Verbände und Sender die Live-Ausstrahlung noch unter Kontrolle haben, können sie gegen die nachträgliche Freude der Fans wenig tun. "Dieses Video steht wegen einer Copyright-Forderung nicht mehr zur Verfügung", ist zwar zu lesen, wenn man das von "adnago294" eingestellte Messi-Video aufruft. Doch bevor YouTube den Ausschnitt vom Server schmiss, hatten ihn bereits 70.000 Nutzer gesehen - die dann wiederum viele weitere Videos des Traumtors in Umlauf gebracht haben. Fußball und Internet sind sich mitunter eben ähnlich. Sie verbreiten sich wie ein Virus - durch gegenseitige Ansteckung.

Das Tor im Internet unter:

Oettingers Entschuldigung genügt nicht (frankfurter rundschau)

Standpunkt
Oettingers Entschuldigung genügt nicht
"Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein" - in diesem von Günther Oettinger aufgegriffenen Satz Hans Filbingers liegt der Hauptfehler. Damit hat er sich noch nicht auseinandergesetzt.
VON WOLFRAM WETTE

Es begann mit einer Provokation: Ministerpräsident Günther Oettinger missbrauchte seine Trauerrede im Freiburger Münster für den verstorbenen Amtsvorgänger Karl Filbinger zu Aussagen, die man getrost als Geschichtsfälschung bezeichnen darf. Filbinger, sagte er, sei "kein Nationalsozialist" gewesen, sondern "ein Gegner des NS-Regimes". Des Weiteren wiederholte er die seit seinem Sturz vom Amte des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg im Jahre 1978 immer wiederholte Behauptung des ehemaligen Marinerichters in Hitlers Wehrmacht: Es gebe "kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte". Dabei klebte Oettinger bis in den Wortlaut hinein an Filbingers eigenen Rechtfertigungsformulierungen.

Filbinger, geboren 1913, im Jahre der Machtübertragung auf Hitler also 20 Jahre alt, studierte Rechtswissenschaften. Er trat dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) und der nationalsozialistischen Kampforganisation SA ("Sturmabteilung") bei. Aus eigenem Antrieb produzierte der ehrgeizige Opportunist und Streber in fachjuristischen Publikationen politische Anpassungsleistungen an die NS-Ideologie. Wie gerade dieser Tage vom Bundesarchiv in Berlin dokumentarisch bestätigt wurde, trat er 1937 auf eigenen Antrag der NSDAP bei - und konnte hernach seine Referendarsausbildung beginnen.

Der ungefähr gleichaltrige Jurastudent Heinz Drossel lehnte es im Jahre 1939 demonstrativ ab, einer NS-Organisation beizutreten. Das hatte zur Folge, dass er seine juristische Ausbildung nicht zum Abschluss bringen konnte. Er wurde sogleich gegen seinen Willen zur Wehrmacht eingezogen. Dort verwendete man ihn wegen seiner juristischen Vorbildung gelegentlich als Verteidiger angeklagter Soldaten, aber natürlich nicht als Militärrichter. Drossel ließ einen gefangenen Politkommissar der Roten Armee laufen und bewahrte ihn damit vor der Erschießung. Bei Kriegsende rettete er in Berlin einer jüdischen Familie das Leben. Erst nach dem Kriege konnte er seine juristische Ausbildung fortsetzen. In der Zeit der Bundesrepublik protestierte er mehrfach gegen alte Nazis in hohen Positionen bundesdeutscher Gerichte und förderte auch damit nicht gerade seine Karriere. Am Ende seiner Laufbahn war er Sozialgerichtspräsident in Filbingers Heimatstadt Freiburg im Breisgau. Heinz Drossel hatte Hitlers verbrecherische Ziele schon 1933 durchschaut. Er war ein denkender und handelnder Nazi-Gegner und ein widerständiger "Retter in Uniform", der für seine humanen Überzeugungen viel riskierte.

Will etwa Oettinger Gegenpole wie Hans Filbinger und Heinz Drossel mit der vagen Formel "Gegner des NS-Regimes" gleichsetzen? Das wäre eine Verhöhnung der wirklich Widerständigen. Für nicht akzeptabel halte ich auch, dass Oettinger in einer seiner Stellungnahmen, noch vor dem Zurückrudern, die Namen Filbinger und Graf Stauffenberg in einem Atemzug erwähnt und damit einen suggestiven Zusammenhang zwischen dem Nazi und dem Widerstandskämpfer herstellt.

Die Behauptung, es gebe "kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte", ist zwar formaljuristisch korrekt, aber moralisch fragwürdig. Denn sie schiebt die Verantwortung beiseite und lässt keinerlei Bedauern oder Reue erkennen. Filbinger hat zwei Deserteure der Wehrmacht, die nach Schweden fliehen konnten, in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Er spricht daher von "Phantomurteilen", als ob diese nicht existiert hätten. Im Falle der Festnahme der Fahnenflüchtigen wäre das Todesurteil sogleich vollstreckt worden. Im Falle des Matrosen Walter Gröger hat Filbinger die Todesstrafe beantragt. Das Urteil fällte ein anderer Marinerichter. Filbinger leitete die Erschießung.

Ein Helfer in Hitlers Kriegsmaschine

Niemand hat behauptet, der knapp über 30-jährige Marinejurist Filbinger sei ein extrem harter Richter gewesen. Ein "furchtbarer Jurist" war er lediglich insoweit, als er ein ganz normaler Militärjurist des NS-Staates gewesen ist, der dazu beitrug, die Hitlersche Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten. Der beteiligt war an der ungeheuerlichen Mordbilanz von 30 000 Todesurteilen gegen deutsche Soldaten, von denen mehr als 15 000 vollstreckt wurden. Weiß Oettinger nicht, dass das höchste deutsche Gericht in Strafangelegenheiten, der Bundesgerichtshof, die Militärjustiz der NS-Zeit im Jahre 1995 als eine "Terrorjustiz" und als eine "Blutjustiz" charakterisiert hat, deren Angehörige sich eigentlich vor bundesdeutschen Gerichten "wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verantworten müssen"? Filbinger war einer dieser Militärrichter. Oettinger aber will ihn, wohl im vordergründigen Interesse einer bereinigten CDU-Parteigeschichte, in einen "Gegner des Nationalsozialismus" umdichten! Dabei war er nicht Sand, sondern Öl im Getriebe des NS-Staates.

Nun hat der Politiker Günther Oettinger gleich zwei Canossa-Gänge absolvieren müssen. Der eine erfolgte auf Veranlassung der instinktsicheren Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der deutschen Öffentlichkeit. Der andere, selbstgewählte, führte ihn zum Zentralrat der Juden in Deutschland, der zuvor seinen Rücktritt gefordert hatte. Völlig zu Recht hatte dessen Generalsekretär Stephan Kramer zunächst festgestellt: "Es geht nicht um die Juden als Opfer von Filbinger, sondern es geht hier um christliche Deutsche, die Opfer von Filbinger waren." Erstaunlicherweise hat nun der Zentralrat Oettinger öffentlich exkulpiert, obwohl eine Zuständigkeit für eine solche Absolution nicht erkennbar ist.

Historisch-politischer Nachholbedarf

Oettinger hat, zumindest ausweislich seiner öffentlichen Äußerungen, lediglich einen formalen Rückzug angetreten. Nach massivem öffentlichen Druck sagte er: "Ich halte meine Formulierung nicht aufrecht." Außerdem bedauere er sie. Wobei allerdings offen blieb, ob er den Inhalt seiner Rede oder deren Wirkung bedauerte. Seinem Stoßseufzer, damit sei die Sache nun aber erledigt, stimmten erstaunlicherweise auch etliche seiner Kritiker zu, die den Fall lediglich aus einer machttaktischen Perspektive betrachten. Dabei kann doch nicht erledigt sein, womit Oettinger und Teile der baden-württembergischen CDU noch gar nicht begonnen haben, nämlich ihren erkennbar gewordenen historisch-politischen Nachholbedarf zu befriedigen.

Oettinger und sein politisches Umfeld haben es bislang versäumt, sich mit dem bekanntesten Satz Filbingers auseinanderzusetzen: "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein." Ein Satz, der die fundamentalen Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat und dem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland verwischt. Unkundige Menschen könnten ihm entnehmen, der NS-Staat sei ein Rechtsstaat gewesen. Dabei orientierte sich die Justiz im nationalsozialistischen Staat an den Denkfiguren des Führerprinzips und der kämpfenden deutschen "Volksgemeinschaft". Die individuellen Menschen- und Freiheitsrechte galten nichts. Richtig kann daher lediglich die Umkehrung des Diktums von Filbinger sein: Urteile der NS-Unrechtsjustiz können niemals Recht sein.

Pflicht gegenüber Jüngeren

Hier ist eine bleibende historisch-politische Aufklärungsarbeit zu leisten. Nach seinen grob fahrlässigen Geschichtsverfälschungen sollte sich auch der - jetzt gerade noch einmal davongekommene - Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg in der Pflicht sehen. Er sollte den jüngeren Menschen, für die der Name Filbinger ein "böhmisches Dorf" ist, erklären, wie dieser Mann in der NS-Zeit und später gehandelt und gedacht hat. Mit der Autorität des Landesvaters sollte Oettinger nicht nur sagen, was Filbinger nicht war, sondern von ihm ein Bild zeichnen, das auf historisch gesicherten Erkenntnissen basiert. Den vielen engagierten Lehrerinnen und Lehrern aller Schulebenen reicht ein Dementi nicht aus. Sie wollen mehr wissen.

Wenn Filbinger ein Nazi war und kein Gegner des NS-Regimes, wenn er aktiv an Todesurteilen beteiligt war, gleichwohl in der Bundesrepublik Deutschland Karriere machen und es bis zum Ministerpräsidenten eines Bundeslandes bringen konnte, wenn er wegen Leugnungen und Beschönigungen, wegen halsstarriger Uneinsichtigkeit und verweigerten Unrechtbewusstseins seine politische Glaubwürdigkeit verlor und im Jahre 1978 von seiner eigenen Partei zum Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten gezwungen wurde, so ist das ein weit gefächerter historisch-politischer Lehrstoff. Es bedarf keiner historischen Grundlagenforschung. Man muss das vorhandene Wissen nur nutzen und anwenden.

Der Autor: Wolfram Wette, Professor für Neueste Geschichte an der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., ist einer der profiliertesten Kenner des Werdegangs von Hans Filbinger und Herausgeber des Buches "Filbinger - eine deutsche Karriere" (zu Klampen Verlag, Springe 2007). fr

"Bei mir kann man immer hoffen" (frankfurter rundschau)

Feuilleton
"Bei mir kann man immer hoffen"

Frankfurter Rundschau:
Welche Reaktion auf Ihr Buch Beim "Häuten der Zwiebel" hat Sie am meisten getroffen? War es die aus Israel?

Günter Grass: Auch in Israel gab es verschiedene Stimmen. Damals war Amos Oz bei uns zu Besuch. Wir haben uns umarmt, und er hat mir gesagt, dass er auf meiner Seite steht.Vor allem in Polen, in Danzig etwa, hat Ihr spätes Eingeständnis, als Jugendlicher bei der Waffen-SS gewesen zu sein, für viel Aufsehen, auch zu heftiger Kritik geführt. Wie ist heute Ihre Position zu diesem Echo?Nicht nur Kritik. Der Oberbürgermeister von Danzig und viele Intellektuelle haben nach anfänglicher Kritik, wie etwa Lech Walesa, ihr Urteil revidiert. Ich bin sehr froh und dankbar dafür, dass der Oberbürgermeister von Danzig, der damals im Wahlkampf stand, dieser Kampagne standgehalten hat.

Günter Grass, geboren am 16. Oktober 1927 in Danzig, ist seit Ende der fünfziger Jahre ein Kämpfer für die Verständigung mit Polen. Heute wünscht er sich eine Abwahl der polnischen Regierung. Denn sie - so erklärt Grass - instrumentalisiere die Verletzungen der Vergangenheit. Sie werde Polen in Europa isolieren. Sie sei ein Unglück.

Wie bewerten Sie die neue nationalkonservative Regierung in Warschau?

Sie ist ein Unglück. Sie ist dabei, Polen zu isolieren, auch innerhalb der Europäischen Union. Ich hoffe, dass sie in zwei Jahren abgewählt wird. Bei allem Verständnis für die Angst der Polen ihren beiden Großnachbarn gegenüber - Deutschland und Russland - ist es falsch, nur aus der geschichtlichen Erfahrung heraus eine solche Haltung einzunehmen. Polen fällt es schwer, aus der Opferrolle herauszukommen. Polen ist heute, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, auf dem Weg, ein gegenwartsbezogener Staat zu sein. Polen erlebt zum ersten Mal diese Art von Freiheit, und das im europäischen Verbund. Wenn man dann anfängt, die Verletzungen der Vergangenheit derart zu aktivieren und zu instrumentalisieren, wie das die gegenwärtige Regierung tut, dann bringt das die Gefahr mit sich, dass sich Polen auf die Dauer isolieren wird.

Wenn Sie heute nach Danzig reisen, berührt Sie die Erinnerung an Ihre Jugendzeit in dieser Stadt? Und haben Sie sich hier in Behlendorf bei Lübeck mit Ihrer Heimat neu verortet?

Nein, die Heimat habe ich verloren. Dieser Verlust der Stadt Danzig ist, was ja viele Millionen Menschen auch erlebt haben, ein unwiederbringlicher Verlust. Und ich habe das Privileg gehabt, vielleicht stellvertretend für viele andere Menschen, mit nahezu obessiv das Verlorene literarisch wieder erstehen zu lassen. Aber ich bin nicht bei dem historischen Danzig bis 1945 stehen geblieben. Im Butt spielt zum Beispiel die polnische Freiheitsbewegung, die später dann "Solidarnosc" hieß, eine Rolle. Der erste Aufstand von 1970 in den Ostseehafenstädten Danzig, Stettin und Gedingen macht das Schlusskapitel in diesem Roman aus. Man hat in Polen wahrgenommen, dass ich eben auch die Nachkriegsgeschichte miterzählt habe, bis in den Roman Unkenrufe hinein.

Wann haben Sie innerlich akzeptiert, dass Ihre Heimat verloren ist?

Das ist sehr früh gewesen. Bewusst habe ich es auch sehr früh ausgesprochen, als ich als Bürger politisch aktiv wurde und den Sozialdemokraten im Wahlkampf zu helfen versuchte, was zu dem Zeitpunkt manchem Sozialdemokraten nicht ins Konzept passte. Ich habe, bevor es die Partei tat, in meinen ersten Wahlkampfreden 1965 die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gefordert, als erste Voraussetzung, um in der Sache überhaupt weiter zu kommen. Ich habe es erlebt, wie meine Großeltern väterlicherseits als Ausgewiesene aus Danzig wie auf gepackten Koffern saßen, weil sie an Adenauers Wahlversprechen glaubten: Wir kommen in unsere alte Heimat zurück! So hat man diese alten Leute, nur um Stimmenfang zu betreiben, belogen. Und ich habe erlebt, wie es diesen alten Menschen dadurch unmöglich gemacht wurde, in Lüneburg Fuß zu fassen.

Können sich Polen und Deutsche in absehbarer Zukunft von dieser Last gemeinsamer Erfahrung innerlich freimachen und normal miteinander umgehen?

Ja, ich bin sicher. Wenn man davon ausgeht, dass mit meiner Generation die letzten wegsterben, die das alles erlebt haben. Es ist doch eine gesamtdeutsche Leistung, dass dieses Thema, das Polen betrifft, aber auch Auschwitz und die Folgen, immer wieder auch gegen politische Widerstände Thema geblieben ist. Die deutsche Nachkriegsliteratur hat dazu beigetragen, und das wird auch im Ausland anerkannt, wobei bei den Siegermächten bis heute die Bereitschaft fehlt, sich mit minderen Verbrechen in ihrer eigenen Geschichte, zum Beispiel mit ihrer Kolonialvergangenheit, so auseinanderzusetzen wie wir es in Deutschland gezwungen waren zu tun und wie wir es auch geleistet haben. Das heißt: Aus der Mitschuld wurde eine Verantwortung, die sich bis in die Generation meiner Enkelkinder überträgt. Die sind an diesem Thema interessiert. Und Gleiches trifft auf Polen zu. So sollte man das sehen.

In Ihren Büchern, unter anderem eben auch in der "Blechtrommel", gibt es immer wieder kontroverse Kapitel über Flucht und Vertreibung. Haben die Polen das als eine Schuldzuweisung verstanden?

Das ist überall verschieden. Als ich 1958 zum ersten Mal nach dem Krieg nach Polen kam, zunächst nach Warschau, gab es eine ungeheure Distanz zu mir als Deutschem. Dann fuhr ich am Ende der Reise nach Gdansk, nach Danzig. Ich schrieb damals an der Blechtrommel und wollte noch etwas recherchieren über die Geschichte der polnischen Post. Dort traf ich auf Menschen, die auch Flüchtlinge waren. Die Neubürger von Gdansk waren in ihrer Mehrheit Menschen, die aus Wilna, aus Grodno oder aus Litauen und aus Ostpolen gekommen waren, ausgewiesene Flüchtlinge, die aus den polnischen Gebieten kamen, die nach dem Krieg von der Sowjetunion besetzt worden waren, alles Folgen des Hitler-Stalin-Pakts, die bis heute noch nachwirken. Diese Leute hatten Verständnis für mich, die waren noch nicht heimisch geworden in Gdansk. Die trauerten noch Wilna nach, ganz verständlicherweise. Ich habe das in den Unkenrufen mit zum Thema gemacht. Es gab auch polnische Schriftsteller, die gegen die herrschende Ideologie, noch in der Schlussphase der kommunistischen Zeit diese Fragen gestellt haben: Wir sitzen hier in Häusern an einem Tisch. Wer hat früher einmal an diesem Tisch gesessen?

Die politische Führung in Polen sagt heute: In Deutschland wolle man die Täter wieder zu Opfern machen und die Geschichte umschreiben.

Das ist auch wieder so eine Art Doppelkonzert. Den regierenden Zwillingen in Polen steht eine Frau Steinbach gegenüber, mit ihrem wirklich fahrlässig begründeten Dokumentationszentrum. So schaukelt sich das gegenseitig hoch. Wir haben schon im Kalten Krieg erlebt, wie die extremen Positionen einander sich die Argumente für ihre Polemik zuschieben. Da muss man einen klaren Kopf bewahren. Es gibt genügend Leute in Polen, die das gelassen sehen, und wir in Deutschland haben auch allen Grund, das gelassen zu betrachten. Denn sonst werden wir zurückgeworfen in die Anschauungen und Praktiken des Kalten Krieges und alle Bemühungen, die es auf deutscher wie auf polnischer Seite gibt, so miteinander umzugehen, wie wir es mit Frankreich inzwischen gewohnt sind, werden beschädigt.

Von welchen Autoren wurden Sie beeinflusst?

Das ist vor allem Alfred Döblin, was das Schreiben von Prosa betrifft. Das gilt aber auch für Autoren wie Koeppen, Arno Schmidt oder Peter Rühmkorf. Wir haben alle von unserem großen Lehrer Döblin profitiert. Darum habe ich einen Döblin-Preis gestiftet, und das Haus, in dem ich früher in Schleswig-Holstein wohnte, habe ich nicht verkauft , sondern in ein Döblin-Haus umgewidmet, in dem jüngere und auch ältere Autoren seit zwanzig Jahren Schreiburlaub machen können. Ich möchte das gerne weitergeben, was ich an Glück gehabt habe.

Gab es auch Vorbilder für Sie aus dem Ausland?

In der Lyrik vor allem Apollinaire und die frühen Arbeiten von Lorca. Ich bin mir immer bewusst gewesen, in welcher Tradition meine Art zu schreiben steht. Was die Prosa betrifft, so stehe ich in einer europäischen Romantradition, die etwa in Spanien - halb spanisch, halb maurisch - ihren Anfang nahm, der pikareske Roman. Auch Berlin Alexanderplatz, sogar der Ulysses hat Züge von diesem pikaresken Roman mit seinem Helden, dem sich innerhalb eines Tages die ganze Welt spiegelt. Das ist ein unsterbliches Muster, das offen ist, bis in die Moderne hinein fortgesetzt zu werden, und davon habe ich profitiert. Ich will aber nicht vergessen, auf Hans Werner Richter und seinen Einfluss auf mich während meiner jungen Jahre hinzuweisen. Ich weiß, dass man heute gerne die Gruppe 47 ein bisschen wegschieben will. Wir haben aber allen Anlass, die Leistung von Hans Werner Richter zu schätzen, der sich als Schriftsteller zurücknahm, um über Jahre hinweg diesen verrückten Haufen ein- bis zwei Mal im Jahr zusammenzurufen. Wir haben uns damals auf den Sitzungen der Gruppe ausgetauscht, unsere Manuskripte gegenseitig vorgelesen. Viele von uns haben bei diesen Veranstaltungen ihren Verleger gefunden, auch ich. Das war ein Austausch ohnegleichen. Die deutschen Schriftsteller leben nach wie vor, was ja auch wunderbar ist, in der Zerstreuung. Wir haben nicht wie die Franzosen so einen Wasserkopf Paris oder Madrid, wo alles zentral geordnet ist. Nein, wir haben viele Zentren, und Hans Werner Richter hat uns mit diesen jährlichen Treffen für ein paar Tages so etwas wie ein Surrogat für eine literarische Hauptstadt gegeben.

In diesem Jahr feiern Sie Ihren 80.Geburtstag…

Ja, das ist nicht zu vermeiden.Sie freuen sich auf dieses Ereignis?Meine Frau und ich haben acht Kinder zusammen und einen Haufen Enkelkinder. Freunde kommen dazu. Das feiere ich gerne.

Kann man bei Ihnen auf einen neuen Roman hoffen?

Bei mir kann man immer hoffen, solange ich bei Stimme und Schreibfähigkeit bin. Noch ist mir die Tinte nicht ausgegangen.

Interview: Wolf Scheller

Tuesday, April 17, 2007

Eine politische Partie (Berliner Zeitung)

Eine politische Partie
Der Schachweltmeister Garri Kasparow ist es gewohnt, seine Strategie dem Herausforderer anzupassen. Jetzt trägt der Gegner Helm und Knüppel
Katja Tichomirowa

MOSKAU. Was zeichnet einen Schachspieler aus? Kreativität, Strategie und Logik, sagt Garri Kasparow, planvolles Vorgehen, die Fähigkeit zu diszipliniertem Denken und schließlich Freude am Zweikampf. Diese Fähigkeiten allein aber reichten nicht aus, es gehe darum, alles miteinander kombinieren zu können. Das Schachgenie sei eine Synthese aus verschiedenen Talenten. Garri Kasparow war ein Schachgenie. Er war es 25 Jahre lang und ist es vermutlich immer noch, auch nachdem er 2005 seinen Rücktritt als Profi erklärte. Er fühle, sagte er nach seinem letzten Turnier, dass es ihm mit 42 Jahren immer schwerer falle, eine Partie fehlerfrei zu spielen. Das Turnier hatte er gewonnen. Immer neue Herausforderungen hätten ihn so lange an der Spitze der Schachwelt gehalten, sagt er. "Wer sich nicht am Scheitelpunkt seiner Entwicklungskurve befindet, erkennt nicht, was noch alles auf ihn zukommt."

Seit dem Wochenende weiß Kasparow was ihn erwartet. Seine Gegner tragen jetzt Kampfanzüge, Helm und Knüppel und ihr taktisches Talent ist zweifelhafter Natur. Den Spezialkräften des Innenministeriums, die Garri Kasparow am Sonnabend auf der Straße verhafteten, genügt es, Freund und Feind zu unterscheiden. Die Regeln bestimmen sie.
Es sollte ein Marsch derer werden, die nicht einverstanden sind, mit der Politik der russischen Führung, mit ihren Lebensumständen und mit ihren Möglichkeiten, das eine wie auch das andere zu ändern. Garri Kasparow hatte zu der Kundgebung aufgerufen. Sie wurde verboten. Wer sich damit nicht abfinden wollte, wurde von den Schlägertrupps der Spezialtruppe Omon nachdrücklich daran erinnert, wer über das Recht gebietet, sich auf Moskaus Straßen zu versammeln.

Politik habe in seinem Leben immer eine Rolle gespielt, sagt Kasparow. "Sie war ein wichtiger Teil meines Lebens. Als ich jung war, gehörte Schachspielen wie alles in der Sowjetunion zum politischen Leben. Mein Geschick hing von Bürokraten ab und mir war schon als Teenager klar, dass ich eine aktive Rolle in der Politik spielen muss, wenn ich mein Schicksal selbst bestimmen will."

Die Herausforderung ist für ihn nicht neu. Widerstandsgeist gehört zu den Talenten eines Spielers. Als Kasparow 1980 mit 17 Jahren den Titel eines Großmeisters verliehen bekommt, ist Anatoli Karpow die Nummer 1 im sowjetischen Schach. Der Weltmeister ist unantastbar. Der sowjetische Schachverband wünscht es so. Kasparow soll dem Weltmeister zuarbeiten. Doch er weigert sich. Er will Karpow herausfordern. Der Schachverband verwehrt es ihm. Er setzt sich durch. Das Spiel beginnt am 10. September 1984 in Moskau. Es endet im Jahr darauf, am 15. Februar, nach 48 Partien und über 300 Spielstunden, mit einem Abbruch der Begegnung. Der damalige Präsident des internationalen Schachverbands FIDE begründet den Abbruch mit der Sorge um die Gesundheit beider Spieler. Einen Sieger gibt es nicht. Kasparow protestiert. Die Partie wird wiederholt und Kasparow besiegt Karpow, mit 13:11. Er ist 22 Jahre alt und der jüngste Weltmeister in der Geschichte des Schachs. Es ist sein Kampf gegen Anatoli Karpow, gegen den sowjetischen Schachverband, und gegen die internationale Federation dieses Sports, der Kasparows Lebensgeschichte prägt. Seine 1987 erschienene Biografie trägt den Titel: "Eine politische Partie".

Kasparow hatte gewonnen, den Weltmeistertitel gegen Karpow und die politische Partie gegen die Funktionäre. Widerstände, Hindernisse inspirieren ihn. Wie anders hätte sich der Sohn eines deutschstämmigen Juden und einer armenischen Mutter durchsetzen sollen?

Kasparow wird 1963 als Garik Weinstein in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku geboren. Sein Vater, ein Ingenieur, und seine Mutter, eine Musiklehrerin, spielen beide Schach. Sein Vater erklärt ihm die Regeln. Als Fünfjähriger spielt Garik seine erste Partie gegen ihn und gewinnt. Sein Schachstil sei dynamisch und aggressiv, heißt es später. "Das entspricht meinem Naturell", sagt Kasparow. "Aber in den Kämpfen gegen Karpow musste ich lernen, ruhiger zu spielen, um zu überleben. Für die Opposition in Russland gilt das Gleiche. Wir müssen uns vorsichtig einigen und eine gemeinsame Plattform finden, um gegen einen beinahe übermächtigen Gegner zu überleben."

Widerstand und Anpassung - Kasparow erfährt und beherrscht beides. Als sein Vater stirbt, ist er sieben Jahre alt. Seine Mutter ändert den Familiennamen in Kasparow, die russifizierte Variante ihres Mädchennamens Gasparian. Sie will weder als Jüdin noch als Armenierin zu erkennen sein. Für Juden ist die Zahl der Studienplätze an sowjetischen Universitäten begrenzt. Es hilft, einen russischen Familiennamen zu tragen. Kasparow studiert Anglistik. Er sympathisiert mit dem neuen Generalsekretär Gorbatschow, bis die sowjetische Armee im Jahr 1990 in Auseinandersetzungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern eingreift. Der Konflikt endet in einem Gemetzel. Kasparows Familie muss Baku verlassen. Sie lebt seither in Moskau. Kasparow, zu diesem Zeitpunkt schon eine Legende, verurteilt das Vorgehen der sowjetischen Armee und empfiehlt dem Westen eine kritischere Haltung zu Gorbatschow.

1990 gehört er zu den Gründern der Demokratischen Partei. Als ihm die Streitereien um das Parteiprogramm zu viel werden, tritt er ein Jahr später wieder aus. Er ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere und seiner Popularität. Die Politik muss warten. Das Genie Kasparow stellt sich anderen Herausforderungen. Er spielt Schach, zunächst gegen den von IBM gebauten Schachcomputer "Deep Thought". Kasparow gewinnt. Dann spielt er gegen das Nachfolgemodell "Deep Blue" und verliert. Zuletzt nimmt er es mit einer dritten Maschine auf, "Deep Junior", die Partie endet remis. Das nächste Projekt, 1999, ist noch ehrgeiziger: Kasparow gegen die Welt, ein Team aus vier jungen Schachtalenten und einem Großmeister, das seine Spielzüge im Internet vorschlägt und darüber abstimmen lässt. Die Begegnung endet nach vier Monaten und 62 Zügen mit dem Sieg Kasparows.

Gegen wen soll er nun noch antreten? Im Jahr 2000 trifft er auf seinen ehemaligen Schüler Wladimir Kramnik. Es ist sein letzter Weltmeisterschaftskampf. Kasparow verliert. Der Meister hat seinen Meister gefunden. Aber er spielt weiter. Noch 2004 glaubt er, dass dieses Jahr entscheidend für seine Schachkarriere werden könnte. Es ist das Jahr, in dem Wladimir Putin zum zweiten Mal zum russischen Präsidenten gewählt wird und das Jahr, in dem Kasparow gemeinsam mit anderen die Initiative "2008: Freie Wahl" gründet. Die russische Opposition befindet sich in Auflösung. Die demokratischen Parteien haben bei der vorausgegangenen Parlamentswahl sämtlich den Einzug in die Duma verpasst. Ihre Präsidentschaftskandidaten sind Staffage für eine "demokratische" Wiederwahl Putins. Ein Jahr später beendet Kasparow seine Schachkarriere und widmet sich fortan ganz der Politik. Am desolaten Zustand der russischen Opposition hat diese Entscheidung nichts geändert.

Die demokratischen Kräfte bringen kaum noch Anhänger auf die Straße, geschweige denn in die Institutionen. Auch Kasparows neue Initiative "Das andere Russland", ein Zusammenschluss aus mehreren Oppositionsbewegungen zählt kaum Anhänger. Im Dezember in Moskau waren es dreitausend. Kasparow brüllt an gegen den Lärm eines Hubschraubers, der über der Versammlung kreist: "Sie haben Angst vor uns!", schreit er und zeigt auf die dichte Reihe von Milizionären, die die Kundgebung am Majakowskij-Denkmal umschließt. "Wir brauchen ein anderes Russland!" wiederholt Kasparow beständig.

Doch nur wenige wollen das hören. Ob ihn die Apathie seiner Landsleute frustriere, hat man Kasparow gefragt. Er antwortete: "1968 haben gerade einmal sieben Aufrechte auf dem Roten Platz gegen den Einmarsch der Sowjetunion in Prag demonstriert." Das klingt nach dem Mut eines ewigen Optimisten. Es bleibt Kasparow nichts anderes übrig, als weiter zu machen. "Die Straßenproteste sind das letzte vom Gesetz noch erlaubte Mittel, um Druck auf die Staatsmacht auszuüben", sagte er, nachdem ihn die Polizei am Sonnabend wieder frei gelassen hatte. Doch müssten die Gegner von Präsident Putin ihre Proteste effektiver organisieren und mehr Menschen aktivieren.

Die Teilnahme an Kundgebungen der Opposition ist risikoreich. Für die Demonstranten, für die Berichterstatter und für die Organisatoren erst recht. Im April wurden Kasparows Büroräume vom Geheimdienst durchwühlt, seine Assistentin wurde verprügelt.

"Einschüchterungsversuche", sagt der Bürgerrechtler. Ihre Wirkung verfehlen diese Drohungen nicht. Kasparow ist gewarnt, spätestens nach dem Mord an Anna Politkowskaja. Er lässt sich von Leibwächtern begleiten. Trotzdem glaubt er, dass auch er seinen Gegner beeindruckt: "Das Regime wird zunehmend nervöser, je näher die Wahl im nächsten Frühjahr rückt."

Als er am Sonnabend verhaftet wird, ruft er in die Mikrofone der Journalisten: "Sagen Sie Ihren Führern im Westen, dass dieses Regime kriminell ist." Sein Selbstvertrauen hat er nicht eingebüßt: Im Autobus, der Kasparow und ebenfalls inhaftierte Journalisten quer durch Moskau kutschiert, gibt er per Handy dem Radiosender Echo Moskwy ein Interview und sagt: "Der Intelligenzquotient in unserem Autobus ist ziemlich hoch." Gegen Parteien- und Versammlungsverbote würden nur intelligente Lösungen helfen. Zudem, sagt Garri Kasparow, gebe es niemals nur eine Variante, zu gewinnen. "Man muss seine Strategie den Umständen anpassen."

Berliner Zeitung, 17.04.2007

Tschüssi Friedrichshain, bis danno! (Berliner Zeitung)

Tschüssi Friedrichshain, bis danno!
Flucht aus der neuen Heimat. Die Geschichte eines Irrtums
Sabine Reichel

Du darfst auf keinen Fall nach Friedrichshain ziehen!", beschworen mich meine Freunde, und sie hatten einen sehr drängenden Ton, so als wollten sie mich vor tragischem Unglück bewahren. Diese Westberliner sind schon ein leicht paranoides Völkchen, dachte ich amüsiert und winkte überlegen ab. Ich konnte das viel besser beurteilen, denn ich besaß die authentische Frische eines Fremdlings, der ohne Vorurteile ganz gelassen das Flair des Ostens, oder was ich dafür hielt, auf sich einwirken lassen konnte. Ich bin nämlich Hamburgerin und total westdeutsch in den Fünfziger- jahren aufgewachsen, bis ich dann 1976 nach Amerika ging. Wir hatten keine "Brüder und Schwestern in der Zone", denen wir Päckchen mit Asbach Uralt, HB-Zigaretten und Onko-Kaffee "nach drüben" senden sollten, damit sie sich auch mal einen schönen Abend machen konnten.

Zugegeben, mein Umzug von Los Angeles, Hollywood, um genau zu sein, nach Friedrichshain hatte auch etwas von einem etwas tollkühnen Planetenwechsel gehabt, und mir fehlten schon die Palmen, die Surfer und die alten Chevy Corvettes. Aber ich wollte nach fast 30 Jahren Amerika anscheinend meine alte Heimat durch einen extra Schuss Fremdheit neu entdecken. Und dazu brauchte ich als ehemals lokalpatriotische Hamburgerin den abweisenden Charme von Ostberlin. Ich war während der Wohnungssuche zweimal in Friedrichshain gewesen und mir hatte die bunte Mischung aus jungen Leuten, Indie-Kultur und einer gewissen Schäbigkeit, die Kreativität vortäuschte, sehr gut gefallen. Hamburg ist ja tausendmal schöner, zivilisierter, feiner, sagt man, aber mich zog es nicht in die gediegene Hansestadt, die man neuerdings wegen des hohen Schnarchfaktors "Bad Hamburg" nannte. Meine Güte, selbst berlinvernarrte Amerikaner - und davon gab es dort nicht wenige - schwärmten von "Freedrickshayn" mit seiner rastlosen Party-Atmosphäre.

Die Aussicht aus meinem Fenster mitten im Boxhagener Viertel ging auf große Bäume und zwei kleine Parks. Ich hatte die Wohnung genommen, weil sie ganz oben und billig war. Es war mein erster Winter in zehn Jahren. Man vergisst in Kalifornien schnell die feuchten, kalten Monate, die hochgezogenen Schultern und nassen Füße. Und die deutschen Menschen.

Dinge des Herzens entscheiden sich ja ohne Umschweife. Und Orte zu erfühlen, ist nicht viel anders als ein erstes Date mit einem attraktiven Mann oder einer Frau, bei dem das Typische und Wesentliche schnell klar wird. Herr Friedrichshain, Vorname Detlef oder Hajo, würde ich tippen, das merkte ich zu spät zum Umkehren, ist schlecht erzogen, trinkt viel Bier und raucht rund um die Uhr. Ansonsten schien Friedrichshain folgendermaßen aufgeteilt zu sein: 3 Friseursalons, 17 Kneipen, 25 Mütter mit Augenbrauen-Piercing, 12 randalierende Säufer, 10 Alternative, 5 übellaunige Rentner, 60 aggressive Radfahrer und 79 kläffende Hunde per Straße. Und ja, 96 Prozent der Bewohner sind unter dreißig. Ich versuchte erstmal, diese schreckliche Entdeckung zu verdrängen, indem ich mich auf die hübsch renovierten Häuser konzentrierte und entwickelte mich zur emsigen Spaziergängerin, die abends durch die Gegend streifte und in die gardinenlosen Fenster guckte. Ganz Friedrichshain hatte anscheinend von "Obi" einen unwiderstehlich hohen Rabatt für die Wandfarbe Terrakotta/Orange gekriegt, und der Anblick war verstörend.

Es gibt ja auch eine negative Vertrautheit, und an die gewöhnte ich mich schnell. Als erstes musste ich die Sprache lernen - nein, nicht Deutsch, Ostberlinerisch. Neben all dem icke, weeßte, wat denn, jehabt und verkooft gab es zwei Worte, die mich heute noch verfolgen: "Tschüssi" und das fröhliche "bis danno".

Nach ein paar Wochen hatte ich einen eigenartigen, hüpfenden Gang entwickelt, ein bisschen wie eine angeschossene Ballerina und mein Blick war immer fest auf die Erde gerichtet. Schüchternheit? Exzentrizität? Nein, nur ein Tanz um die Hundekacke herum. Friedrichshain ist ohne Frage the King of Kot, die Hauptstadt der Hundekacke, die sich um jeden Baum häuft, auf Parkwegen und Wesen lauert, aber auch gerne mitten auf dem Trottoir liegt, da Friedrichshainer Hunde Strolche und Anarchisten sind, ebenso wie ihre Besitzer.

Gewisse Lichtblicke gab es bei Rewe, "meinem" Laden gegenüber. Es ging dort recht freundlich zu, denn die kirschrot gefärbte muntere Mecklenburgerin war voll mit praktischen Tipps. Als ich einmal Kaffee kaufen wollte, empfahl sie mir "Mona" oder "Moccafix". Kannte ich gar nicht. "Also, der ist aus den neuen Bundesländern", klärte sie mich auf und man merkte, dass es ihre Lieblingsmarken waren. Sozusagen als Goodwill-Geste an die neue Heimat kaufte ich "Moccafix", und der schmeckte so schauderhaft, dass ich sofort vor Schreck Mitglied im edlen "Nespresso" Club wurde, denn was Testimonial George Clooney in seinem Chalet nippte, sollte auch am Wismarplatz möglich sein. Trotz der gelegentlichen Herzlichkeit beim Shoppen holte mich aber meist die Realität ein. Während ich an der Kasse stand und mit Interesse solche Delikatessen wie Soljanka und das gesamte Sortiment von "Ja!" im Einkaufswagen vor mir betrachtete, spürte ich einen kräftigen Schmerz, denn der junge Rüpel hinter mir hatte mir seinen Wagen in die Kniekehlen gerammt. Ich schrie auf, er guckte angeödet wegen dieser Belästigung. Eine Entschuldigung erfolgte nicht und ich lernte, dass kleine Blessuren an Füßen, Kniekehlen und Oberschenkeln hier zum "Abenteuer Einkauf" dazugehörten. Die noch viel größere Gefahr kam aber von Zweibeinern auf nur zwei Rädern, und ich glaube, ich spreche für die Mehrheit der arglosen Friedrichshainer Fußgänger, wenn ich behaupte, dass wir alle den wilden Ganoven der Gehwege, die uns nach dem Leben trachteten, rasend gerne die Reifen aufgeschlitzt oder sie anderweitig zu Fall gebracht hätten, so dass für das mindere Fußvolk eine gewisse Sicherheit beim Zeitungsholen gewährleistet war.

Es war inzwischen Frühling, und mein erster Ausflug in den kleinen Park am Boxhagener Platz versprach, beschaulich zu werden. Ich setzte mich auf eine Bank neben den überfüllten Abfalleimer. Die Sonne schien, der Flieder blühte, die Vögel trillerten . Ja, und die Hunde bellten, die Dealer dealten, die Säufer prosteten sich zu, die Arbeitslosen machten Musik, und ich machte, dass ich schnell nach Hause kam. Beim zweiten Versuch setzte ich mich lieber gleich auf den Spielplatz und wurde nun zu ganz anderen Fragen verleitet. Da waren zahlreiche Mütter mit Halbglatze, einem breit gefächerten Sortiment von Metall im Gesicht, sowie einer Zigarette im Mundwinkel, die ihren Kindern im Wagen Dönerstücke oder fettige Fritten in den Mund stopften. Ich habe mir dann überlegt, was kleine Kinder wohl so empfinden, wenn ihre Mütter Nasenringe und Zungenklicker tragen und nur einen Streifen lila Haare auf dem Kopf haben. Dass sie einem anderen Stamm angehören? Kein Wunder, wenn sich die armen kleinen Töchter dieser so wenig weiblichen Freak-Muttis später nichts sehnlicher wünschen, als auszusehen wie die Pussy Cat Dolls.

Der Sonnabendmorgen gehörte immer dem Boxhagener Markt, einer sehr soliden Angelegenheit ohne kulinarische Höhenflüge und schmückende Extras. Es gab sechs teure Bio-Stände mit politisch korrekt aussehendem Gemüse und dazu passenden ultra-alternativen, sehr blassen jungen Leuten mit riesigen jamaikanischen Rastamützen, unter denen wahrscheinlich der Rest der Ernte versteckt war. Sonst gab es nur Ware aus Werder, Wurstbuden und den türkischen Hühnerkönig, 50 Cent der Schenkel. Auch hier die typischen Friedrichshainer Verkaufsgespräche, die an Schmerz so zwischen Zähneziehen und mit dem Kopf hart gegen einen Schrank laufen rangierten.

So hatte ich Aprikosen gekauft, die teuer, aber mehlig und ungenießbar gewesen waren. Ich konfrontierte dann die Marktfrau eine Woche später mit meiner Enttäuschung über die mangelhafte Ware. "Nein", sagte sie unbeugsam. "Das kann nicht sein. Wir haben keine mehligen Aprikosen!" Sie gab mir noch einen geringschätzigen Blick, bevor sie ihren letzten Triumph ausspielte. "Bisher hat sich noch keiner über die Aprikosen beschwert!"

Auch auf dem wöchentlichen Flohmarkt ging es nicht ohne Knirschen in der Kommunikation. Ich sah einen schönen Ring in einem Glaskasten. "Was kostet der?", "Weiß ich doch nicht", sagte die missmutige Verkäuferin. Na ja, ich eben auch nicht. Sie holte ihn widerwillig raus und hielt mir stumm das Preisschild hin. Ich hatte nicht genug Geld dabei. "Wie lange sind Sie noch da?", wagte ich mich weiter vor. "Na, wir müssen och mal nach Hause!" blaffte sie mich an. Letzter Versuch. "Sind Sie nächste Woche auch hier?" Entsetztes Schnorcheln: "Det fehlte noch. Ick arbeite mich hier halbtot, und so viel springt auch nicht raus." Klar, bei der Verkaufstaktik.

Nirgendwo lernt man Land und Leute besser kennen als durch die öffentlichen Verkehrsmittel. Ich hatte mich schon auf die unterhaltsamen Episoden in dem gesamten Berliner Verkehrsnetz gefreut. Und richtig, es gab laute Handy-Klingeltöne, brüllende Kinder, Familienkräche in fremden Sprachen, schmachtende Schmusereien und Schüler, die ohne Protest von Mitreisenden mit Filzstift die Fenster vollschmierten. Ich lernte auch schnell, dass überall gilt, was ursprünglich einmal amerikanisch war: das Faustrecht der Prärie. Wild West Germany. Keiner steht für Schwangere und alte Damen auf, man wird unsanft und wortlos zur Seite geschubst, riesige Tüten bleiben auf Sitzen liegen, auch wenn man sitzen möchte und verzweifelt, aber erfolglos, die Tüten-Anstarr-Taktik probiert. Es bleibt eigentlich nur noch das Rätsel der breitbeinig sitzenden, zwei Plätze einnehmenden Männer dieser Welt zu ergründen, und warum die eingeklemmten Frauen schüchtern die Beine extra eng übereinander schlagen, bis das Blut stockt. Aber das ist sicher ein großes internationales, sexualwissenschaftliches Thema.

"Kevin!", grölte es eines Tages durch den 240er Bus, sächsisch eingefärbt. Kevin, ein dünner sechsjähriger Junge mit einem Ohrring, eingewickelt in Kinderkleidung, die ganz klar von Rapper 50 Cent inspiriert war, aber noch billiger aussah, turnte an der Tür herum. Woher kommt die ostdeutsche Liebe zu Namen wie Kevin? Kevin setzte sich, hampelte herum und flog bei der nächsten Kurve - Ost-Berliner Busfahrer sind Hobby-Sadisten - aus dem Sitz direkt auf den Boden und brüllte. "Siehste!", sagt die Mutter ungerührt und kaute ihren Kaugummi weiter.

Mein Leben ging den Bach runter. Friedrichshain, das ich inzwischen auf F'hain gekürzt hatte, presste meine gute Laune und Lebendigkeit aus mir heraus und überzog mich wie eine Schicht mit leichter Depression. Freunde erhielten bittere Bemerkungen und ein Seufzen, wenn sie mich fragten, wie ich denn Berlin nun als neue Heimat fände. Bald stellte sich das Besucherproblem ein, denn nicht nur meine westdeutschen, sondern auch meine neuen ostdeutschen Freunde wollten nichts mit Friedrichshain zu tun haben. Ich musste mir die raffinierten logistischen Ausreden von Autofahrern anhören, die jede Einladung mit einem aufmunternden "Komm doch einfach zu mir!" (was Charlottenburg, Mitte oder Schöneberg hieß) endeten. Und so wurde ich meine von mir sehr geschätzte Rolle als Gastgeberin los und erlebte stattdessen sehr schmerzlich meine neue Rolle als einsame, emotionell verstörte Friedrichshainerin. Als eine junge Freundin, die in Köpenick aufgewachsen ist, nach ihrem ersten Besuch bei mir erklärte: "Fürchterlich. Hier stimmt die Mischung einfach nicht!", war ich beruhigt, denn ich hatte langsam Angst bekommen, dass vielleicht mit mir etwas nicht stimmen könnte. Ich merkte nämlich, wie ich mich langsam verwandelte, ich kam mir tageweise wie Kafkas Gregor Samsa vor, der aus Mangel an Liebe und Aufmerksamkeit ein Käfer wurde. Ich geriet dann allerdings mehr in die Rolle der einsamen Wölfin und strich, innerlich bereits leicht struppig, durch ein seltsam fremdes Revier und bangte um meine kulturelle Identität, die mir hier zu entgleiten drohte.

Ich entwickelte ein Survival-Programm wie ein Bergsteiger auf einer gefährlichen Mission und versuchte, freundliche Nachbarschaft zu praktizieren und mich mit der "Community" anzufreunden. "Immer schön freundlich, ganz doll lächeln", befahl ich mir, wenn ich die Grünberger Straße runterging, "kill them with kindness", sagt man in Amerika. Niemand schien beeindruckt. Ich stellte mich bei meinen ausschließlich jungen Nachbarn vor - die meisten kamen aus Kreuzberg - und erntete ungläubige Blicke, nur die sehr bunten jungen Hip-Hopper, die in dem Anti-Drogen-Center im Erdgeschoss arbeiteten, erwiesen sich als nette und hilfsbereite Truppe.

Als klassische Schreiberin sitzt man ja gern und viel in Cafés rum, klönt auch mal eine Runde extra, nur um dem Schreibtisch zu entfliehen. Eine der ersten Freundlichkeitsattacken galt dann auch der unterkühlten Besitzerin eines guten kleinen Cafés um die Ecke. Meine störrische Ambition war, ihr unbedingt ein herzliches Lächeln zu entlocken. Ich lobte den Latte und den deutschen Käsekuchen - ein irritierter Seitenblick streifte mich. Sah ich aus wie eine Spionin? Nein, ich machte zu viel Wind, denn ich hatte die paffenden Nikotinpiraten, die uns zirka drei Nichtrauchern in ganz F'hain Leben und Luft verpesteten, mal wieder gebeten, die Zigarette ein wenig anders zu halten. Das traf natürlich immer auf kalte Ablehnung und provozierte absurde Vorträge über Demokratie, Selbstentfaltung und das Recht auf Lungenkrebs. Ich fühlte sehr stark, dass ich einfach nicht dazu gehörte. Da war es wieder, das Grenzgänger-Syndrom, aber es hatte längst nichts mehr mit Ost und West zu tun. Und so wurde ich langsam zur Frau vom Mars, auffallend mit meinen amerikanischen Vintage-Klamotten und gleichzeitig unsichtbar, weil weit über vierzig.

Tschüssi Friedrichshain, bis danno!
Flucht aus der neuen Heimat. Die Geschichte eines Irrtums
Sabine Reichel
(Fortsetzung des Artikels - Teil 2 von 2)

Wie ich eine Stadt sehe, wusste ich ja - aber wie sieht sie DICH? Bist du der Eindringling, wirst lediglich geduldet? Wird man je warm umarmt werden? Träumt weiter, sentimentale Fremdlinge! Berlin biedert sich nicht an, eigentlich sagt man das auch über Hamburg, die kühle Perle des Nordens. Berlin ist einfach da - fordernd, gleichzeitig gleichgültig, wie ein proletiger, ungewaschener Teenager, dem es wurscht ist, wie es dir geht. Es war so lange gebeutelt, ignoriert, ironisiert, unterschätzt, überfordert, eingeengt, missverstanden und belächelt, dass nur noch Egomanie und Scheuklappen eine verlässliche Identität vortäuschen können.
Bis zum Sommer hatte ich mich an die laute Musik, die Hunde, die klappernden Bierflaschen und die im kleinen Park gegenüber bis spät in die Nacht laut palavernden Nervensägen gewöhnt. "Ohropax" gewann mich als eine freudige und feste Kundin, aber der rasche Verfall meiner Lebensfreude war nicht mehr aufzuhalten, der erste Schmelz des Exotischen längst einem dumpfen Hass auf alle Prolls und Penner gewichen, durchsetzt von meinen billigen Scharfschützen- und Frustkiller-Fantasien à la Hollywood. Dazu passten die Zeitungsmeldungen aus dem Osten. Da war das alkoholisierte Paar, das sich kurz vor Weihnachten auf der Station Bellevue gegenseitig auf die S-Bahngleise schubste und dort verschied. Woher sie kamen? Aus F'hain. Dann gab es die Handtaschenraub-Serie in Treptow, wo zwei Radfahrer den Frauen im Vorbeifahren die Taschen entrissen. Von den Kindesmisshandlungen wollen wir nicht erst anfangen.

Irgendwann fing dann der Fluchtgedanke an. Vielleicht, als ich mich dabei ertappte, dass ich immer stärker hamburgisch sprach, meine Freundinnen mit "min Deern" titulierte, "Moin" zu den Rewe-Damen sagte und auf das Schreckenswort Tschüssi "n' scheunen Tach noch" schmetterte, oder unvermittelt im Boxhagener Park geradezu trotzig das uralte plattdeutsche Kinderlied "An de Eck steiht 'n Jung mit'n Tüdelband" vor mich hin sang, während ich geschickt über die Hundehaufen sprang. Meine Mutter, die in Hamburg wohnt, wunderte sich über meine häufigen Besuche, die ich hinterlistig als "zufällig" hinstellte.

Oh, die Welt war schön in Hamburg. Der Hafen, die Speicherstadt, die Alsterdampfer und der Fischmarkt. Unglück verschärft Nostalgie und setzt eine ganz bestimmte Sehnsucht, die aus lauter kleinen verführerisch schimmernden Bausteinen besteht, frei. Natürlich wusste ich, dass die Frankfurter Allee wenig gemeinsam mit dem Sunset Boulevard hat, aber dass der spießige Hamburger Jungfernstieg wie ein glitzerndes Kleinod gegen diese trübe, laute Straße war, kam doch als Überraschung. Die Sonne strich sanft durch die Torbögen der Alsterarkaden, die Möwen schrien, die Omas sahen aus wie Königin Elizabeth, gepresste Kaltwelle, fein und gediegen. Und zum ersten Mal erschienen mir Perlenketten und Dufflecoats wie eine wunderschöne, lange vermisste friedliche Sicht, die Harmonie und Tradition verströmte. Frauen meines Alters waren schick, souverän und schmal, Männer hatten graue Schläfen und Ski-Urlaubsbräune. Vielleicht waren ein paar zu viele Mini Cooper auf der Straße und reiche Gattinnen mit Schultertuch und Kelly-Bags im Alsterhaus, aber nach dieser täglichen Diät von garstigen Tchibo-Blousons, Nasenringen und mit Taschen übersäten Horrorhosen, fand ich selbst Opas mit Elbsegler auf dem Kopf wunderbar eigen. Der Celebrity Faktor war in Hamburg nicht so hoch, Hans Albers war tot und Klaus Störtebeker auch, aber Jan Delay war doch süß und Christian Ulmen war doch auch Hamburger, selbst Tim Mälzer hatte plötzlich etwas Pfiffiges an sich, wie er Matjes und Büsumer Krabben mit norddeutscher Robustheit traktierte.
Dass man aus einem Bezirk, dem es an Charme und Intellekt fehlt, kein Greenwich Village oder Quartier Latin fabrizieren kann, nur weil ein paar weiße, pickelige Jungs mit verfilzten Rasta-Locken und hängenden Klamotten wie Komparsen "cool" durch die bunt bemalten Kulissen laufen, sieht man an Friedrichshain. Ich hatte Friedrichshain nach zwei Jahren endlich durchschaut. F steht für Fake! Es ist wie ein viel zu schnell zusammengeschludertes generisches Produkt, an dem Ost und West gleichermaßen gearbeitet haben. Und wenn man genau hinguckt, gibt es solche seelenlosen Orte aus der Retorte überall in den europäischen Großstädten. Vielleicht hatte Friedrichshain sogar in seinen alten Tagen mehr Charakter und Authentizität. So aber ist es weder originell noch hipp noch echt alternativ. Es ist einfach öde, gewöhnlich und so stillos aufgetakelt wie ein Kellerkind, das an Geld gekommen ist, aber sein anonymes Profil nicht los wird.

Wie beliebig Friedrichshain wirklich ist, merkte man am Bahnhof Warschauer Straße, der wie ein Sammelplatz für alles Junge und Vergnügungssüchtige von Überall schien. Jeden Abend marschierten die Massen wie auf einem riesigen Treck auf der Flucht über die Brücke in Richtung Simon-Dach-Straße. Ich fädelte mich dann in den Strom ein und lief mit wie ein Lemming, aber nach einer Zeit nahm ich einen Umweg, nur um mir Exklusivität vorzugaukeln. Ich wollte nicht dazugehören.

Irgendwann ging ich spätabends hinter einer Gruppe von jungen Leuten nach Hause. Die Mädchen waren in Schwarz, mit Netzstrümpfen, Stiefeln, Schnallen überall, die Jungs schlaksig, mit Gel-Haarspitzen und Riesenhosen unterhalb der Po-Ritze. Sie lachten, rauchten, die Mädchen kreischten. Eigentlich ganz normale junge Menschen, die einfach versuchen, einen Ort der Selbstbestimmung zu finden, auch wenn es Friedrichshain war. Und plötzlich sah ich mich vor 30 Jahren durch das damals gefährliche und verrottete New Yorker East Village düsen, glücklich und unter Meinesgleichen. Die Rituale der Jugend sind immer noch dieselben. Und dann dämmerte mir, dass ich ein anderes Ritual versäumt hatte und es versetzte mich kurz in Schrecken. Ich, der eigentlich ewige Hippie, die Systemkritikerin, immer noch verkabelt mit einer gewissen Szene, war alt und erwachsen geworden. Das innere Establishment, Feind meiner aufrührerischen Jugend, hatte Besitz von mir ergriffen. Oh mein Gott! Ich hatte einen alarmierenden Grad von Angepasstheit und Normalität erreicht, denn ich wollte absolut nichts mehr mit Hundescheiße, Tatoos und Piercings, torkelnden, zahnlosen Hartz-IV-Empfängern, paffenden Müttern mit rasierten Köpfen und alten, übellaunigen DDR-Bürgern mit verkniffenen Lippen zu tun haben. Ich wollte gutaussehende, schick angezogene Menschen mit Stil, Witz und Bildung um mich sehen, elegante Gebäude, gepflegte Parks mit britischem Charme, gut erzogene Scotch Terrier mit karierter Schleife, hübsche, artige Kinder - kurz und gut - Bourgeoiseville. Hamburg sah plötzlich perfekt aus.

Ich bin dann nach Hamburg gezogen, vielleicht auch, weil alle Welt nach Berlin will - da muss man doch so einem hübschen Städtchen die Stange halten.
Die eine Frage blieb bestehen. Gilt die erste Liebe unauslöschlich dem Ort, wo die Wiege stand und das erste Fahrrad, wo gespielt, gesegelt und Lollies gelutscht wurden, wo es den ersten Kuss gab und den letzten Schultag? Immerhin hatte ich hier im "Star-Club" zwar knapp die Beatles verpasst, aber Jimi Hendrix live gesehen, bin gegen den Vietnam-Krieg marschiert und habe rasende Reporterin bei einer Tageszeitung gespielt. Sind wir also durchprogrammiert und konditioniert, oder gibt es wirklich Orte und Landschaften, die ja auch emotionelle Landkarten sind, die einem grundsätzlich gegen den Strich gehen? Vielleicht war ich nie wirklich dafür vorbereitet gewesen, in so einem Jahrmarkt-Ort wie F'hain zu leben. Oder Neugierde und Toleranz lassen ab einem bestimmten Alter ganz einfach nach.

Eine Woche bevor ich aus Friedrichshain verschwand, war besonders schönes Wetter, kein Säufer weit und breit, der Busfahrer hatte ein winziges Lächeln parat, und die Verkäuferin bei Rewe sagte: "Schade, dass Sie wegziehen!" "Ja, schade", log ich. "Na denn Tschüssi!" rief sie mir nach. Es dauerte keine drei Wochen, bis mich eine Verkäuferin in Hamburg bei "Budnikowsky" mit eben diesem Wort verabschiedete. Ich sollte wohl nicht so einfach davonkommen.
Berliner Zeitung, 14.04.2007

Thursday, April 12, 2007

Schleimer und Sizilianer (taz)

wir besprechen blogs (4)
Schleimer und Sizilianer
SCHACHSEITEN: Übertragung von Turnieren, Spiele für Laien, Blogs von Profis - der Denksport profitiert enorm vom Internet

Schach ist eine Sportart, die stark vom weltweiten Web profitiert hat. Die Partien bedeutender Turniere werden regelmäßig live im Internet übertragen, zahllose Schach-Webseiten verbreiten Neues - und vor allem kann man jederzeit Mitspieler auf Schachservern finden. Hunderttausende von Partien werden täglich im Netz ausgetragen.

Der Blog von Magnus Carlsen ermöglicht seit Mitte Januar einen Einblick ins Turnierschach. Der Norweger ist nicht irgendein Schreiber - der 16-Jährige ist ein "Wunderkind", wie die erste Biografie über ihn heißt. Mit zwölf Jahren entzückte der Junge aus Lommedalen bei Oslo die Experten, als er der Legende Garri Kasparow rotzfrech ein Remis abtrotzte. Mit 13 Jahren und drei Monaten wurde der Junge Großmeister. Der neue Weltranglistenerste Viswanathan Anand erklärte deshalb vor wenigen Wochen: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Magnus nicht Weltmeister wird."

Der Inder sagte dies nach seinem Turniersieg in Linares. Im "Wimbledon des Schachs" hatte sich Carlsen lange Zeit mit Anand ein Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert und belegte am Schluss Platz zwei. Die Szene verfolgte gespannt seine fast täglichen Blogeinträge aus Spanien. Von dort und vom Schnell- und Blindschach-Mekka Monaco berichtete Vater Henrik Carlsen über den Verlauf der Partien. Zum Beispiel, dass "Magnus im Duell der beiden besten Junioren" von Teimur Radjabow durch das "Jänisch-Gambit mit 3.f5" überrascht wurde. Insider begeistern sich für die dargestellten Feinheiten und neue Eröffnungszüge in der Sizilianischen Verteidigung, die beileibe nichts mit der Mafia zu tun hat - auch wenn es auf dem begrenzten Schlachtfeld aus 64 Feldern meistens hoch hergeht.

Sprengstoff vermeidet das Blog freilich. Die einzige Nachricht gegen den Strich war im ersten Vierteljahr eine klare Aussage zur WM. Magnus Carlsen hatte sich fürs Achtelfinale qualifiziert und trifft nun auf den in Berlin lebenden Armenier Lewon Aronjan. Nachdem der Schach-Weltverband Fide eine neue Marschroute für die WM ausgab, mokierte sich Familie Carlsen über die "gewaltigen Privilegien" von Weltmeister Wladimir Kramnik.

Wer mehr Konfrontation schätzt, findet bei drei anderen Blogs Stoff: "Chess Ninja" alias Mig Greengard hat allerdings seine beste Zeit hinter sich. Der in den USA lebende Journalist erlebte seine Glanzzeit zusammen mit Kasparow. Seit dieser in die russische Politik wechselte, fehlt es Greengard an tiefen Einblicken, die er Schachspielern von ihrer Nummer eins liefern kann. Vorteil dabei: Das peinliche Geschleime rund um Kasparow bleibt einem nun erspart.
Keinerlei Beweihräucherung betreibt seit Mai 2005 die New Yorkerin Susan Polgar. Die gebürtige Ungarin ist die Älteste der drei legendären Polgar-Schwestern. Die Exweltmeisterin greift auch heiße Eisen auf und bezieht klar Stellung.

Das gilt ebenso für den einzigen erwähnenswerten deutschsprachigen Schach-Blog. Stefan Löffler kennt sich als Journalist und Internationaler Schach-Meister ebenso wie Susan Polgar vorzüglich aus. Ein Blatt nimmt er ebenso nicht vor den Mund und freut sich zum Beispiel im letzten Eintrag über den "überfälligen Abtritt" des Präsidenten des Deutschen Schachbundes, Alfred Schlya. Diesen soll Robert von Weizsäcker, Sohn des ehemaligen Bundespräsidenten Richard, beerben. Für den deutet Löffler zunächst Sympathie an, aber leider lässt er seine Unzufriedenheit mit dem eigenen Dasein aufblitzen. Am Schluss neidet er dem Münchner Professor der Finanzwissenschaft Schreibaufträge, die bei ihm - was der in Österreich lebende Bundesligaspieler offen beklagt - ausbleiben: "Als ob der Sohn aus gutbetuchtem Hause das nötig gehabt hätte", habe von Weizsäcker "einige Zeit einige der bestbezahlten deutschen Schachspalten eher schlecht als recht verwaltet." Pech für Stefan Löffler, dass Schach-Blogger keine Reichtümer ansammeln.
HARTMUT METZ
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taz vom 11.4.2007, S. 19, 136 Z. (TAZ-Bericht), HARTMUT METZ

Der Spaß wird ernst (Tagesspiegel)

(12.04.2007)
Der Spaß wird ernst
Zu Besuch auf der größten deutschen Blogger-Konferenz „re-publica“ in Berlin
Von Johannes Boie

Als vor circa zwei Jahren der Hype um Weblogs – kurz: Blogs – über die Medienwelt hereinbrach, war die Freude im Netz groß: Von der Demokratisierung des Wissens träumte man, von der Möglichkeit für jeden, per Mausklick weltweit zu publizieren. Doch auf der Konferenz „re-publica“, die seit gestern in Berlin stattfindet, zeigt sich, in welchem Dilemma die Blogger heute stecken – und wie sie versuchen, es zu bewältigen.

Der Ansturm ist groß. Über 700 Leute wollen sich drei Tage lang über die Herausforderungen des Publizierens im Internet informieren und unterhalten. Sich den Traum zu erfüllen, statt als Leser auch als Autor im Netz aktiv zu werden, ist nicht so einfach, wie viele meinen. In technischer und organisatorischer Hinsicht mögen Blogs durchaus ein neues Zeitalter der Massenkommunikation eingeläutet haben. In inhaltlicher Dimension und auch bezüglich ihrer Wahrnehmung haben sich die Hoffnungen bis heute nicht erfüllt. Denn wer gelesen werden will, muss schreiben können, zumindest ein bisschen.

Für den, der die Schreibhürde erfolgreich nimmt, geht der Ärger mitunter erst richtig los. Die Tagesspiegel-Online-Chefin Mercedes Bunz, die selbst ein privates Weblog führt, sieht bereits „eine Welle an Abmahnungen, die auf Blogger niedergehen“. Die allermeisten Netzautoren seien darauf nicht vorbereitet. „In der Verlagswelt gehören rechtliche Fragen zur Tagesordnung, für Privatpersonen stellen Anwaltskosten dagegen oft unbezahlbare Kosten dar“, sagt Bunz. Rechtsanwalt Udo Vetter, der zu den bekanntesten deutschen Bloggern gehört, sieht auch auf Seiten der Autoren Probleme: „Das ist oft ein Aufeinanderprallen von Menschen, die in der digitalen Welt leben und sich der Macht ihrer Online-Publikationen nicht bewusst sind, und von Leuten aus dem analogen Leben, die sehr schnell klagen.“

Neben teuren Abmahnungen gibt es eine weitere Ursache der Professionalisierung: Viele Unternehmen versuchen die Blogosphäre für Schleichwerbung zu missbrauchen. „Gerade jüngere Blogger wissen oft nicht, wie sie damit umgehen sollen“, erklärt Johnny Haeusler, der als Gründer von spreeblick.com die Konferenz mitorganisiert hat. Auch mit dem Geldverdienen für Blogger klappt es bislang nicht wie geplant. Abhilfe soll ein von Haeusler gegründetes Werbenetzwerk schaffen, das die Anzeigen für die Betreiber vermarktet. Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen. Eine der ersten Geschäftshandlungen war, präventiv Geld für Abmahnungen bereitzustellen.

Trotz der erzwungenen Professionalisierung wird auf der „re-publica“ der Traum vom demokratischen Massenmedium weitergeträumt. „Es fehlt lediglich an Rahmenbedingungen“, sagt Markus Beckedahl von netzpolitik.org, der ebenfalls zu den Organisatoren gehört. Für ihn ist die Legislative gefordert: „Im Internet müsste man viel mehr gesetzlich regeln.“ Die Zeit der „alten Massenmedien“, glaubt er, sei vorbei.

Dem widerspricht Jan Schmidt, der sich als Soziologe mit Blogs auseinandersetzt. Er sagt, die meisten der Netzautoren hätten gar kein Interesse daran, die etablierten Massenmedien abzulösen. Bei einer Untersuchung zur Themenwahl von Bloggern konnte Schmidt erst an neunter Stelle „Politik“ finden. „Die Mehrheit der Autoren befasst sich mit ihrem persönlichen Befinden oder kommentiert andere Blogs“, erklärt er. Irrelevant sei die Blogosphäre deshalb aber nicht: „Das interessiert zwar 99 Prozent der Leute nicht, ist aber für die Leute selber relevant.“

Bekannt geworden sind bislang nur wenige Weblogs. Sie werden als sogenannte „A-Blogs“ bezeichnet; ein Begriff, der bei vielen Anhängern der traditionell alternativen Blogosphäre Stirnrunzeln auslöst. „A“ hört sich irgendwie undemokratisch an, zumindest für die Bs und Cs. „Die Anzahl der A-Blogs blieb bislang konstant auf einem minimalen Wert“, sagt auch der Soziologe Schmidt. Die Professionalisierung gelingt den wenigsten, viele kommen über das Niveau eines bloßen Internettagebuchs nicht hinaus. Ihre Relevanz beschränkt sich auf den Bekanntenkreis. Und selbst da lebt es sich nicht ganz ungefährlich. Oder, wie der bloggende Anwalt Vetter sagt: „Wer heute ein Weblog hat, braucht Geld, Zeit, Nerven – und einen guten Anwalt.“

Links zum Thema:
Markus Beckedahl: netzpolitik.org
Mercedes Bunz: mercedes-bunz.de und tagesspiegel.de
Jan Schmidt: bamberg-gewinnt.de
Udo Vetter: lawblog.de

Back to the future with Putin (Guardian)

Back to the future with Putin

The first of three reports looking at the changing political map of Russia and how it is using its growing financial muscle both at home and abroad. Today: the president's return to the era of authoritarianism
Luke Harding in St Petersburg, Wednesday April 11, 2007The Guardian

After four years as a member of St Petersburg's legislative assembly, Sergei Gulyaev is packing up. Boxes, files and a 2007 calendar showing him in a moody leather jacket - all were being carted out of his office. Last month Mr Gulyaev failed to win re-election to the city's assembly. The vote, in 14 regions across Russia, was a rehearsal for December's parliamentary elections - and for next year's all-important presidential poll.

But the end of Mr Gulyaev's political career had little to do with the voters. Last December he and two colleagues voted against a decision by Vladimir Putin to reappoint a staunch loyalist as St Petersburg's governor. Forty-seven other deputies voted in favour.

The Kremlin's revenge was swift. Before the election, the city's electoral commission kicked Mr Gulyaev and his liberal Yabloko party off the ballot paper. Despite all evidence to the contrary, it claimed 34 signatures on an election petition had been forged.

Liberal voters in St Petersburg were left with nobody to vote for. To no one's great surprise, Russia's two pro-Kremlin parties came first and second, leaving the new assembly without dissenting voices. "The decision to stop us standing was revenge for our position," Mr Gulyaev told the Guardian. Peering from his office window on to one of St Petersburg's most beautiful squares, he added: "There is no democracy in Russia. There is de jure democracy. But in reality it doesn't exist."

Seven years after ex-KGB agent Vladimir Putin took over as president from an enfeebled Boris Yeltsin, Russia has gone back, critics say, to the classic authoritarian model of the state that flourished under the tsarists and the communists.

Tiny opposition

The accidental anarchy of the Yeltsin era - when TV stations were free to portray the country's leader as an occasional drunk - has disappeared. Instead, Mr Putin has clinically restored the old system of Russian authoritarianism. In this new era, critics of the president mysteriously fail to appear on television; courts eagerly anticipate the Kremlin's wishes; the killers of troublesome journalists are rarely, if ever, caught.

Russia's tiny opposition compares Putin's Russia to Leonid Brezhnev's Soviet Union in the mid-1970s, another golden economic period characterised by high oil prices and a strongly "personalist" regime. "Of course we can always find some differences with Soviet times, the Brezhnev time, or the tsarist times. But on the whole what has happened in Russia is a classic restoration of authoritarianism," Vladimir Ryzhkov, one of handful of independent MPs left in Russia's duma, or parliament, said.

Speaking in a cafe near the duma's modern offices, he added: "It's a restoration in several aspects. It's a restoration of the traditional Russian model of the state, society and political system, and of rhetoric in Russian-western relations."

Like Sergei Gulyaev, Mr Ryzhkov's political career is almost over. Two weeks ago Russia's supreme court liquidated his Republican party on the grounds that it had too few members. The party had violated electoral law, the commission said.

The ruling follows numerous changes by the Kremlin to Russia's electoral system. Previously, Mr Putin abolished elections for provincial governors - he now appoints them. He also imposed Moscow's control over local budgets. Under the latest rules of the game, political parties must have 50,000 members and be represented in half of Russia's provinces.

Additionally, Russia's old mixed constituency and list system has been replaced by a list-only system, making it impossible for popular independent local candidates to stand again as MPs. The hurdle for parties to win seats in the duma has gone up from 5 to 7% of the overall national vote. With fewer Russians voting, the minimum 25% turnout rule has disappeared. Moreover, the Kremlin has invented a social democrat-style "opposition" party called A Just Russia, which competes for votes against Mr Putin's ruling United Russia party. But like United Russia, A Just Russia patriotically supports the president, while maintaining the illusion of democratic rivalry. It also takes away votes from the communists and nationalists.

Kremlin political theorists describe this form of virtual politics as "managed democracy". Mr Ryzhkov, meanwhile, says he lugged five boxes into court proving his liberal party had 58,000 members. The court ignored this evidence, he says.

The sum effect of these changes will be to kill off Russia's few genuinely independent political actors, critics suggest. Even before anyone has gone to the polls the shape of the next duma is widely known. It will be made up of four parties: United Russia, A Just Russia, the ultra-nationalists and the communists.

"Either you are part of the game, or part of the pseudo-opposition, where you co-operate with the Kremlin guys and never touch Putin. Or you can't participate in politics," Mr Ryzhkov says. His assessment of Putin's Russia is bleak. "Almost all the results of perestroika and democratisation have been killed," he says.

But there are growing signs that the Kremlin's attempts to micro-manage the elections and ensure the smooth transition of power from Mr Putin to an as yet unknown successor picked by the Kremlin are not going quite as well as they might.

The trouble started in St Petersburg, Mr Putin's backyard and where he grew up. Last month Mr Gulyaev led 5,000 demonstrators through Nevsky Prospekt, St Petersburg's central boulevard. The avenue finishes at the Neva river and the Hermitage museum, the tsar's former palace and the scene of an uprising by another angry group, the Bolsheviks, in 1917.

The protesters included representatives from all Russia's main opposition parties, Yabloka, Garry Kasparov's United Civil Front, the National Bolsheviks, and the Popular Democratic Union. But they also included hundreds of locals, fed up with rising prices, corruption and the lack of real electoral choice. Demonstrators were also unhappy about plans to construct a giant tower for the state-owned energy firm Gazprom in St Petersburg.

It was the largest anti-Putin demonstration ever. The demonstrators blocked traffic for two hours and police arrested 113 people. The size of the demonstration appears to have surprised and rattled the Kremlin. Last month authorities in Nizhny Novgorod crushed a similar demonstration, detaining dozens of activists before they had even had a chance to assemble in the city's Gorky Square.

Next week further anti-Kremlin demonstrations are planned in Moscow and St Petersburg. This month opposition leaders will also meet to agree a unified anti-Kremlin candidate to stand in the presidential election in March 2008.

Russia's state-run television channels have reported none of this. Since 2001, the Kremlin has enjoyed a monopoly on state-run television, the main source of information about society for 85% of Russians. The situation in the print media is mixed. While most publications take a pro-Kremlin line, Russia has four relatively independent newspapers, including Kommersant and the respected business daily Vedomosti. There is also a liberal radio station Echo Moscow.
Collectively, however, these reach only a tiny audience.

Threat of extremism

The government, meanwhile, dismisses western accusations that Russia is backsliding on democracy as a "misperception". Dmitry Peskov, the Kremlin's chief press spokesman told the Guardian: "We are convinced this is wrong. Russia has come a tremendous way in 15 years from a one-party totalitarian regime to a multi-party democracy with free elections, and a free press."

He dismissed the idea that Yabloko's failure to take part in the elections in St Petersburg was due to sinister government forces. "It wasn't a plot by the Kremlin. There are laws in this country. You have to perform certain formalities to participate in elections. They failed to do that."

The authorities had taken a tough line on recent pro-democracy marches because of the "threat of extremism," he added.

Most political observers believe the Kremlin regime is impregnable, especially when world gas and oil prices remain high. They also point out that Mr Putin enjoys broad support. "One fact about the contemporary Russian situation is that the majority or a plurality of the population supports the current president. The majority isn't very much. But 55-57-58% express their trust in Putin personally," says Dr Grigorii Golosov, Russia's leading election expert, and a professor of politics at St Petersburg's European University. "But judging from recent elections only 31% of the population is prepared to vote for United Russia. Plurality support is definitely there."

Nobody really believes that St Petersburg, the scene of uprisings in 1905 and 1917, is on the brink of another one. "We don't want a revolution," Sergei Gulyaev says. "We merely want free political debate in the media and the guarantee of participation in the elections. These are fundamental things."

"Wir brauchen einen Schuldigen" (Frankfurter Rundschau)

"Wir brauchen einen Schuldigen"
Im Dezember 1989 versucht die SED für sich noch zu retten, was zu retten ist. Sie schiebt alle Verantwortung für die Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen in der DDR auf die Staatssicherheit und ihren einflussreichsten Wirtschaftsfunktionär. Wenig später wandelt sich die SED scheinbar unbeschadet zur PDS.

Manfred Wilke: Die entscheidende Zäsur für die weitere Entwicklung ist der 9. November, der Mauerfall. (Egon) Krenz, (Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzender der DDR, d. Red.) hat an diesem Tag vor dem ZK - als er das Reisegesetz verlas und abnicken ließ - gesagt: Gleichgültig was die SED tut, sie macht einen Fehler. Die Öffnung der Grenze war ja auch nicht so vorgesehen, wie sie verlief. Nach dem Mauerfall, am 10. November, nominierte das ZK (Hans) Modrow als Ministerpräsidenten der DDR, und er bildete am 17. November erstmals in der DDR eine Koalitionsregierung. In dieser Situation gab es eine bemerkenswerte und gegen die Geschichte der SED verlaufende Neuverteilung der Macht. Das einzige handlungsfähige Instrument, über das die SED noch verfügte, war der Staatsapparat. Nicht mehr das Politbüro mit Krenz, sondern Modrow wurde zur eigentlichen Zentrale der SED-Herrschaft in der DDR. Wie wurde das von Ihnen aufgenommen, reflektiert, und was hatte Modrow in dieser Situation mit seinem Oberbürgermeister vor?

Wolfgang Berghofer: An dem Tag des endgültigen Sturzes des Politbüros, am 3. Dezember, einem Sonntag, rief mich Modrow in Dresden an und sagte: "Komm bitte sofort nach Berlin. Richte dich auf einen längeren Aufenthalt ein." Also habe ich mich von meiner Frau im Lada nach Berlin ins Haus des ZK kutschieren lassen. Ich hörte dort, dass Herbert Kroker, der ehemalige Generaldirektor des Erfurter Mikrotechnologiekombinates einen Arbeitsausschuss leitete. Es konnte mir niemand sagen, wer ihn beauftragt und legitimiert hatte.

Wilke: Zu diesem Zeitpunkt wussten Sie, dass das Zentralkomitee geschlossen zurückgetreten ist, dass Krenz nicht mehr Generalsekretär war und die SED von einem Arbeitsausschuss geleitet wurde?

Berghofer: Geleitet werden sollte! Und ich kam in Berlin an, als sich der Tagungsraum leerte, offensichtlich hatte es noch zwei, drei Stunden nach der Verkündung der Beschlüsse in den Foyers Diskussionen gegeben, und es rannte alles wild durcheinander. Die meisten handelnden Personen kannte ich. Kroker kannte ich nicht persönlich, der war in schon relativ fortgeschrittenem Alter. Modrow sagte mir, es sei ein Arbeitsausschuss berufen worden, dem ich angehören solle. Dieser Arbeitsausschuss hat die Aufgabe, einen Sonderparteitag vorzubereiten und die Übergangslinie für die Parteiarbeit festzulegen. Wir müssen uns jetzt hinsetzen und überlegen, was zu tun ist.

In dem großen Chaos habe ich versucht, im Hause des ZK jemanden zu finden, der sich auskannte. Man muss sich die Atmosphäre vorstellen, der alte Parteiapparat hatte zur Kenntnis genommen: Unsere Führung ist entmachtet, unsere Abteilungsleiter sind entlassen. Und was wird jetzt aus uns? Werden wir alle aufgehängt? 6000 hauptamtliche Funktionäre im großen Haus standen plötzlich vor dem Nichts, und jeder versuchte zu retten, was zu retten ist. Zudem saß man auf hochbrisanten Archiven, jede Abteilung für sich! Man sah Leute mit Papieren durch die Gänge flitzen, man sah die grauen Gestalten, die entmachtet worden waren, in Dreiergruppen zusammenstehen, und dazwischen bewegten sich nun die Mitglieder des neuen Arbeitsstabes. Zum Beispiel Heinz Vietze (heute parlamentarischer Geschäftsführer der Linkspartei/PDS im Brandenburger Landtag, d. Red.). Ich fragte ihn: "Was machst du denn hier?" "Na, ich bin jetzt 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Potsdam. Wir sollen hier irgendwas erfinden." Also Chaos, Konzeptionslosigkeit. Dann gab es die erste Zusammenkunft dieser Truppe. Da saßen Kroker, Modrow, Gregor Gysi, Markus Wolf und der Rest der Mannschaft. Wolf überreichte mir bei der Gelegenheit sein Buch "Die Troika" mit der Widmung: "Für Werner Berghofer". So hatte ich gleich meinen Decknamen. Kroker sagte: "Genossen, wir sollen einen Sonderparteitag vorbereiten, aber damit hier gleich klar ist: Ich stehe nicht für eine herausragende Funktion zur Verfügung. Ich leitete diesen Arbeitsausschuss, bis er seinen Auftrag erfüllt hat, und dann gehe ich zurück nach Erfurt."

Von da an tagten wir permanent, rund um die Uhr, verschwitzt, im Sitzungssaal des Politbüros. Von überall kamen die Mitteilungen, da sind der und der zurückgetreten und dort ist wieder eine Demonstration. Die Ereignisse der Revolution im Lande stürzten auf die Mannschaft ein: Dort revoltieren die Mitarbeiter der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). "Markus, da muss'de hin und schlichten." Hinzu kam die krampfhafte Suche nach der Antwort auf die Frage, wie es weitergehen soll. Also als Erstes war die Frage zu klären, wer soll auf dem Sonderparteitag für welche Funktion kandidieren. Im Vorfeld hatte es ein Gespräch mit Modrow und Wolfgang Herger gegeben. Herger kannte ich aus der FDJ-Zeit, da war er 2. Sekretär des Zentralrats. Sie sagten: "Genosse, du musst jetzt die Führung der SED übernehmen, du bist der Bekannteste, du bist populär, die Leute vertrauen dir." Und ich habe gesagt: "Könnt ihr vergessen, ich stehe für eine hauptamtliche Funktion als Parteifunktionär hier genauso wenig wie in Dresden zur Verfügung. Das ist nicht meine Welt. Im besten Fall übernehme ich eine ehrenamtliche Funktion." Na gut, das war erledigt. Aber im Arbeitsausschuss wiederholte sich das Ganze, weil nämlich alle 23 Personen stundenlang auf mich einredeten und sagten: "Du musst, weil …" Bis Gysi sich erhob und eine zündende Rede hielt, perfekt, wie er das kann, und die Begründungen lieferte, warum ich das machen soll. Ich hab dann gesagt: "Gregor, hervorragende Rede, setz deinen Namen ein, und dann stimmt alles." Woraufhin Gysi sagte: "O. k., dann mach ich das." Damit war die Machtfrage personell geregelt.

Wilke: Gysi behauptet, er habe darauf bestanden, dass er nur den Vorsitz übernimmt, wenn Sie sein Stellvertreter werden.

Berghofer: Ja, richtig. Er hat gesagt, er macht das unter den Bedingungen, dass die wichtigsten Personen an diesem Tisch dabei sind und das Verhältnis Staat und Partei ordentlich geklärt wird.

Wilke: Damit sind wir bei einer weiteren gravierenden Veränderung, nämlich die Staatspartei muss sich von dem Wunschbild jeder bolschewistischen Politik verabschieden: der ungeteilten Macht. Der Parteiführung war zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass sie sich in Konkurrenz zu anderen Parteien Wahlen würde stellen müssen und dass sie die künftige DDR-Regierung mit Sicherheit nicht mehr führen würde.

Berghofer: Das ist aus der Nachbetrachtung sicherlich richtig. In dem Moment der emotional aufgeladenen Diskussionen und der rasanten Veränderungen hat keiner in der Runde - vielleicht Modrow, aber er hat darüber nicht gesprochen - das so strategisch klar und deutlich formuliert. Modrows Grundposition war, ich leite die Regierung, ich werde es nicht dulden, dass eine neue Parteiführung in meine Regierungsarbeit hineinregiert, deshalb muss die Trennung von Partei und Staat sein.

Wilke: Muss man das so verstehen, dass Modrow als erfahrener Parteifunktionär sich sagte, der Apparat hat sowieso versagt und es kann nicht mehr geduldet werden, dass die Parteisekretäre die Regierungsarbeit kommandieren?

Berghofer: Das glaube ich nicht. Ich denke, Modrow hat vor allem an die Sicherung seiner eigenen Interessen gedacht. Er wurde oft unterschätzt. Meistens versteckte er sich hinter einer Leidensmiene und seinem proletarischen Habitus. Im Kampf um die Macht hatte er seine eigene Strategie entwickelt. Ich habe mit ihm an mehreren Auseinandersetzungen mit unserer Obrigkeit teilgenommen. Allerdings musste ich erleben, dass wir den jeweiligen Streit mit dem Politbüro bzw. dem Ministerrat gemeinsam begannen. Wenn die Sache jedoch politisch gefährlich wurde, stand ich allein. Man musste bei ihm immer damit rechnen: Wenn es gut geht, ist er der Sieger, und wenn es schlecht geht, bin ich der Verlierer. Das werfe ich ihm vor, das ist sein eigentliches Problem, dieses Doppelspiel. In dieser Phase ging es Modrow in allererster Linie um die Sicherung seiner Interessen. Das setzte voraus, dass alle störenden Elemente wegmussten. Erstens Krenz, der war zur Belastung geworden.

Zweitens, er wird als Ministerpräsident nicht in irgendeinem Parteigremium über seine Regierungsarbeit Bericht erstatten. Er wird ab und zu informieren, denn er brauchte die SED, um nach unten etwas durchzusetzen. Für ihn war die SED der verlängerte Arm der Regierung. Es war genau so, wie Sie es sagen, das Machtmonopol wurde umgedreht und von der Partei auf den Staatsapparat verschoben. Das wurde ganz schnell praktisch sichtbar. So nahm er beispielsweise nicht mehr ständig an den Arbeitsausschusssitzungen teil.

Wilke: Der dritte Faktor, der verschwinden musste, war die Belastung durch das MfS.

Berghofer: Und das möglichst mit großer Distanz und mit dem Weichmacher Markus Wolf, der in bestimmten Kreisen der Intellektuellen und auch innerhalb der Partei mit seinem angeblichen Widerstand gegen (Erich) Mielke (Minister für Staatssicherheit) als Perestrojkaner akzeptiert war.

Es war (…) unmittelbar vor dem Weggang von (Alexander) Schalck (-Golodkowski) (Devisenbeschaffer der DDR, d. Red.) in den Westen. Modrow lud zum Gespräch ins Haus des Ministerrates, in sein Arbeitszimmer. Eingeladen waren Gysi, Berghofer, Wolf und Wolfgang Pohl. Kurze Beratung, keiner wusste, worum es eigentlich geht, das war auch ein Novum: Bis dato hatten ja Parteifunktionäre die Staatsfunktionäre zum Gespräch eingeladen. Es war das erste Mal, dass führende Parteifunktionäre zum Ministerrat gingen. Modrow sagte: "Genossen, wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige!" Ich fragte: "Wie stellst du dir das vor? Die Schuldigen sind wir." "Nein, das kann man so nicht sehen. Wir brauchen Verantwortliche, zu denen es in der Gesellschaft schnell einen Konsens gibt und die Massen sagen, jawohl, das sind die Schuldigen. Das kann nicht die SED sein." "Wer soll das sein?" "Das Ministerium für Staatssicherheit", sagte er. Daraufhin sprang Wolf in die Höhe und sagte: "Hans, wir - Schild und Schwert der Partei - haben doch nie etwas ohne Befehle von Euch gemacht." "Ja", sagte er, "Mischa, bleib ruhig. Die Aufklärung des MfS halten wir selbstverständlich aus dieser Einschätzung heraus." "Ach so." Wolf setzte sich wieder hin und war einverstanden. Dann sagte Modrow: "Wir brauchen natürlich auch eine hauptverantwortliche Person für die Misere. Das kann nicht (Erich) Honecker (Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzender bis zum 18. Oktober 1989, d. Red.) sein, denn er steht für die Partei. Wir müssen uns hier nicht streiten über dessen Rolle. Wir brauchen einen Schuldigen, bei dem das Volk sagt, der hat auf unsere Kosten gelebt." "Und wer ist das?" "Das ist Alexander Schalck-Golodkowski." So wurde es verkündet. So fing die neue Partei an zu agieren. Natürlich will das heute keiner mehr wahrhaben. Man findet aber in den damals nachfolgenden Aktivitäten den Beweis.

Wilke: Das DDR-Fernsehen berichtete am 2. Dezember über das Waffenlager der KoKo-Firma IMES in Kavelstorf. Damit begann die öffentliche Skandalisierung Schlacks. Nach seinem Übertritt in den Westen wurde Schlack dann am 6. Dezember wie besprochen zum Schuldigen erklärt.

Berghofer: Das Waffenlager wurde nicht zufällig entdeckt, das wusste doch jeder von denen da oben. Das hatte Modrow in Gang gesetzt. Das Modrow-Gespräch war natürlich inoffiziell. Dennoch hat sich dieser Schachzug von Modrow zur Rettung der SED als genial erwiesen, weil er funktioniert hat und bis heute funktioniert. Schuld an der Misere und dem Untergang der DDR sind scheinbar das MfS und die Figur, die am meisten Unheil angerichtet hat und auf Kosten des Proletariats in Saus und Braus gelebt hat. Daneben gab es noch ein paar Trottel in der Parteiführung, aber die waren alt und nicht mehr zurechnungsfähig. Die eigentlichen Machtstrukturen sind alle aus dem Bewusstsein verschwunden, niemand kennt sie mehr.

Wilke: So hat Modrow die MfS-Frage - wie bereits andere Fragen zuvor - taktisch gelöst, ausgehend von der Maxime: Das MfS können wir sowieso nicht mehr halten. Die Fixierung auf das MfS hatte, beginnend mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig, seinen realpolitischen Sinn in der Erfahrung der Demonstranten. Sie wussten, wenn es nicht gelingt, der SED dieses Instrument zu entwinden und einsatzunfähig zu machen, dann kann es keine wirkliche Änderung geben. Sollte es zum Eingreifen der Sowjets kommen, was zu dem Zeitpunkt im Oktober noch nicht wirklich klar war, dann würde die Rache furchtbar werden. Dieser Druck von unten und die Umkehrung von Mielkes Frage "Wer war Wer?" in der DDR zum "Wer waren die Spitzel unter uns?" waren das, was Modrow trieb. Er nutzte diesen Druck ebenso wie Krenz den Dresdener Dialog nutze, um sich als Moderator zu stilisieren. (…)


Die Gesprächspartner
Wolfgang Berghofer war in der DDR SED-Funktionär und Oberbürgermeister von Dresden. Manfred Wilke ist Soziologe und Zeithistoriker. Er war bis August 2006 Professor für Soziologie an der Fachhochschule für Wirtschaft Berlin (FHW) und bis zu seiner Pensionierung einer der beiden Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin. Das in Auszügen dokumentierte Gespräch wird im neuen "Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2007" erscheinen.


Das Gespräch fand am 16. und 17. August 2006 in Berlin statt.