Knaller an der Zeitungsfront

Friday, December 28, 2007

''Die Akten beschämen die Menschen aus der DDR nicht'' (tagesspiegel)

Marianne Birthler
''Die Akten beschämen die Menschen aus der DDR nicht''
Die Unterlagenbeauftragte Marianne Birthler über die Stasi als Allensbach-Ersatz, die Zukunft ihrer Behörde - und die Erbärmlichkeit Erich Mielkes.

Frau Birthler, an diesem Freitag hätte der ehemalige Stasi-Chef Erich Mielke seinen 100. Geburtstag. Welche Gedanken löst dieses Datum bei Ihnen aus?
Ich bin da ein wenig hin- und hergerissen. Einerseits sehe ich keinen Grund, die Geburtstage solcher Leute zu zelebrieren. Andererseits ist es eine Möglichkeit, über seine Rolle nachzudenken. Mielke war über viele Jahrzehnte für die Staatssicherheit der DDR verantwortlich. Deshalb verstehe und teile ich die Bitterkeit von Menschen, die Opfer der Staatssicherheit wurden, angesichts der Tatsache, dass er für die Verbrechen dieses Repressionsapparates niemals juristisch zur Verantwortung gezogen wurde.

Als er vor Gericht stand, ging es ja nicht um die Verbrechen des MfS, sondern um zwei Polizistenmorde, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurücklagen …
Die Stasi hat so viele Menschenleben zerstört oder nachhaltig geschädigt, dass es für unser aller Gerechtigkeitsempfinden gut gewesen wäre, wenn ein Gericht das einmal systematisch aufgearbeitet und persönliche Verantwortung festgestellt hätte. Das ist nicht geschehen. Es gibt ja viele Aufzeichnungen und Tonbandaufnahmen von ihm. Und die zeigen ein erbärmliches Bild von diesem Menschen, der so große Macht über das Leben unzähliger Menschen hatte. Zwar war die Stasi nur ein Dienstleistungsorgan der SED. Aber Mielke war so viele Jahre in einer Schlüsselposition und so gut vernetzt und informiert, dass er seinerseits auch Macht über Teile der SED hatte.

Das Interesse an der DDR-Vergangenheit lässt offenbar nach. Auch gibt es kaum noch spektakuläre Enthüllungen. Andererseits nutzen ehemalige Stasileute diese Lücke, um ihre Deutung der DDR-Geschichte zu verbreiten. Ist das eine unausweichliche Entwicklung?
Da haben wir eine ganz unterschiedliche Wahrnehmung. Seit ungefähr drei Jahren steigt das Interesse eher als dass es nachlässt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Zahl der Anträge auf persönliche Akteneinsicht steigt. Im Jahr 2006 stieg die Zahl der Anträge auf 97 000 – das waren 20 Prozent mehr als 2005. Und es sieht so aus, als gäbe es in diesem Jahr wieder eine leichte Steigerung. Auch das Interesse an Ausstellungen, Dienstleistungen, Vorträgen und Publikationen zu DDR-Themen sowie am Internetauftritt unserer Behörde ist weiterhin groß und nimmt eher zu als ab.

Woran liegt das?
Das öffentliche Interesse für Geschichte entwickelt sich in Schüben, das wissen wir ja auch schon aus der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Es gibt Jahre heftiger Debatten und Kämpfe und dann wieder Zeiten, in denen die Öffentlichkeit sich anderen Themen zuwendet. Wenn es gegenwärtig so aussieht, als würde das Interesse bei Jugendlichen und in Schulen steigen, mag im Osten eine Rolle spielen, dass eine neue Lehrergeneration auftritt, oder auch die älteren Lehrer ihre Scheu verlieren, über selbst erlebte Geschichte zu sprechen. Ganz allmählich wächst daneben auch im Westen ein Bewusstsein dafür, dass die Geschichte der DDR Teil gesamtdeutscher Geschichte ist. Trotz dieser positiven Tendenz ist festzustellen, dass das Wissen über die DDR und die kritische Auseinandersetzung mit ihr insgesamt noch deutlich unterentwickelt ist. Für mich markiert der 50. Jahrestag des 17. Juni vor vier Jahren eine Trendwende, Kein Mensch hat damals damit gerechnet, dass sich ein so großes Interesse am Aufstand von 1953 entwickeln würde. 1990 hat man noch, ohne dass sich jemand aufgeregt hätte, den Feiertag abgeschafft. Das wäre nach 2003 nicht mehr möglich gewesen.

Braucht man 18 Jahre nach der friedlichen Revolution noch die Akten des Staatssicherheitsdienstes, um die DDR zu verstehen?
Ja – und nach weiteren 18 Jahren wird man sie auch noch brauchen. Ob es um Wirtschafts-, Bildungs- oder Gesundheitspolitik in der DDR geht, um die Stimmung in der Bevölkerung – neben anderen Archivbeständen werden die Stasiakten immer eine sehr, sehr wichtige Quelle bleiben. Bestimmte Sachverhalte finden sich nur in ihnen. Außerdem hat die Stasi auch über den Alltag, über Menschen, über alle möglichen Themen Berichte verfasst. Wir lernen aus den Akten des MfS also nicht nur, wie die Stasi selber funktioniert hat, sondern auch viel über das politische System der DDR und darüber, wie sich das alltägliche Leben in der DDR abgespielt hat. Meinungsumfragen zum Beispiel gab es in der DDR natürlich nicht. Die Akten taugen deshalb auch als eine Art Allensbach-Ersatz. Freilich wird die Wirklichkeit durch die ideologische Brille der Stasi-Offiziere wahrgenommen. Man muss also immer quellenkritisch mit den Unterlagen umgehen.

Gibt es beim Aktenstudium auch Dinge, die Sie positiv überraschen?
Ja. Die vielen Fälle zum Beispiel, in denen dokumentiert wird, wie die Staatssicherheit Menschen für die Mitarbeit, also zum Verrat anstiften wollte, und der größte Teil dieser Menschen sich geweigert hat, mit dem MfS zusammenzuarbeiten. Das sind geradezu meine Lieblingsgeschichten in den Stasiakten. Die Stasiakten zeigen, dass die Ostdeutschen kein Volk von Spitzeln und Verrätern waren. Natürlich haben die meisten Menschen angepasst gelebt und waren keine Helden. Und doch galt in der DDR das ungeschriebene Gesetz: Mit der Stasi arbeitet man nicht zusammen. Das haben die meisten respektiert. Die Stasiakten beschämen die Menschen aus der DDR also nicht, sie rehabilitieren sie eher und zeigen, dass es viele Menschen auch unter unkomfortablen Umständen vermocht haben, einigermaßen anständig durch die Zeiten zu kommen. Am Ende der DDR gab es 92 000 Hauptamtliche und 174 000 IMs – zusammengenommen haben also weniger als zwei Prozent der Gesamtbevölkerung für die Stasi gearbeitet.

Wie lange bedarf es noch einer eigenständigen Behörde zur Verwaltung der Stasiakten?
So lange wie sich die Gründe, die 1991 zu einer besonderen Institution und einem besonderen Gesetz für Stasiunterlagen führten, noch nicht erledigt haben. Die Stasiakten erfordern besonders wirksame Datenschutzregeln, andererseits sollen bestimmte Unterlagen leichter zugänglich sein als nach dem allgemeinen Archivrecht – etwa wenn es um die Unterlagen zu Tätern geht. Die große Nachfrage nach den Akten und die speziellen Regeln erfordern außerdem einen archivunüblich hohen Aufwand, quantitativ und qualitativ. Die Stasiunterlagenbehörde galt von Anfang an als zeitlich befristet, ohne dass jedoch ein Zeitraum festgelegt worden wäre. Wenn man die Akten aber zu früh dem Bundesarchiv übergeben würde, müssten die Regeln des Stasiunterlagengesetzes auch dort für sie gelten. Die Zugangsmöglichkeiten würden damit also nicht erleichtert, sondern wahrscheinlich eher erschwert.

Der Präsident des Bundesarchivs sagt, er könnte mit seiner Behörde die Akten schneller erschließen, und das zudem mit weniger Personal.
Den Nachweis für den Inhalt dieser Aussage ist er bisher schuldig geblieben. Dazu kommt: Ein Archiv ist ein Archiv und hat keinen Forschungs- und Aufarbeitungsauftrag wie unsere Behörde. Wir sind nicht nur eine Institution, die Akten verwaltet, sondern haben den gesetzlichen Auftrag, aktiv zur Aufarbeitung der SED-Diktatur beizutragen, indem wir Struktur, Wirkungsweise und Mechanismen des MfS erforschen und die Öffentlichkeit darüber unterrichten. Das bedeutet viel Bildungsarbeit, In vielen Regionen sind wir die Einzigen, die überhaupt etwas zur Geschichte der DDR anbieten. Wir geben Impulse, bieten Materialien an, unterstützen entsprechende Projekte und bilden Lehrer fort. Erst, wenn es selbstverständlich ist, dass Schulen und andere Bildungseinrichtungen in allen Bundesländern angemessen über die DDR informieren, können wir unsere Arbeit einstellen.

Wann wird das sein?
Die Stasiunterlagenbehörde wird nach meiner Überzeugung mindestens bis zum Jahr 2019, 2020 gebraucht – also 30 Jahre nach dem Ende der DDR. Möglicherweise sogar noch länger.

Fühlen Sie sich, was die Zukunft der Behörde angeht, von der Politik hinreichend unterstützt?Der Inhalt unserer Arbeit wird klar unterstützt. Die aktuelle Debatte um die zukünftigen Strukturen ist etwas unübersichtlich. Mittlerweile steht die Frage, wie es mit der Behörde wird, schon seit drei Jahren ungeklärt im Raum. Das ist schwierig für uns, nicht zuletzt, weil wir eine Planungsgrundlage brauchen – für inhaltliche Planungen, für Verwaltungsfragen, für Strukturentscheidungen, für die Personalentwicklung.

Lägen die Stasiakten im Bundesarchiv, wäre DDR-Aufarbeitung aus einem Guss möglich, weil dort schon die Akten der Parteien und Massenorganisationen liegen ...
Dieses Argument trägt nicht. Wissenschaftler und Journalisten sind es gewohnt, in mehreren Archiven zu recherchieren. Außerdem würde man zwar auf der einen Seite Akten zusammenführen, auf der anderen Seite aber zusammengehörige Bestände auseinanderreißen. Wenn das Bundesarchiv die Akten übernimmt, würden die regionalen Stasiaktenbestände, die jetzt in unseren Außenstellen in den ehemaligen Bezirkshauptstädten lagern, sehr wahrscheinlich den jeweiligen Landesarchiven zugeordnet werden. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht problematisch, aber auch aus ganz praktischer Sicht für diejenigen, die persönliche Akteneinsicht beantragen.

Die Behörde ist stark in die öffentliche Kritik geraten als bekannt wurde, dass sie noch mehr als 50 ehemalige hauptamtliche Stasileute beschäftigt. Welche Konsequenzen haben Sie aus den Vorwürfen gezogen?
Ehemalige MfS-Leute sind nicht in sensiblen Bereichen tätig – weder in der Akteneinsicht noch im unmittelbaren Bürgerkontakt, noch in der Personalabteilung. Diese Regel gilt schon lange, wir haben die aktuelle Debatte jedoch zum Anlass genommen, in wenigen weiteren Fällen interne Versetzungen vorzunehmen. Auch wenn ich weiß, dass Einzelne nachgedacht und dazugelernt haben – mindestens auf der symbolischen Ebene bleibt die Beschäftigung ehemaliger Hauptamtlicher des MfS in einer Institution wie der unseren ein Problem. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich die Personalentscheidungen beim Aufbau der Behörde eher kritisch sehe, dass sie aber mit den Möglichkeiten, die ich als Behördenleiterin habe, nicht zu revidieren sind. Die betreffenden Mitarbeiter haben ihre Aufgaben bis jetzt gewissenhaft wahrgenommen und sich nichts zuschulden kommen lassen. Wir haben mit der Situation also zu leben, wie sie ist – es sei denn, die Mitarbeiter werden von anderen Bundesinstitutionen übernommen.

Das Gespräch führten Matthias Meisner und Matthias Schlegel.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 28.12.2007)

Brandenburgs Schüler verklären DDR (tagesspiegel)

Brandenburgs Schüler verklären DDR
Wer die Mauer baute, wissen Schüler selten. Eine FU-Studie zeigt vor allem die Unkenntnis der Schüler in auf. Grund für das Wissendefizit: Der SED-Staat kommt kaum im Unterricht vor.
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Von Thorsten Metzner 28.12.2007 10:09 Uhr

Potsdam - Viele Brandenburger Schüler verklären Honeckers SED-Diktatur aus Unkenntnis zum Sozialparadies. Das geht aus einer Studie der Freien Universität Berlin hervor, für die im Rahmen eines bundesweiten Projektes auch das Wissen über die DDR von 750 Schülern aus 10. und 11. Klassen in Potsdam, Neuruppin und Frankfurt (Oder) getestet wurde. Zuvor hatten, wie berichtet, bereits Teilstudien über Schüler in Berlin und Nordrhein-Westfalen ebenfalls große Lücken im Wissen über die DDR ergeben. „Aber Brandenburg ist klar das Schlusslicht: Hier sind Unwissen und Verklärung am größten“, sagt FU-Professor Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat.

So konnte mehr als die Hälfte der Brandenburger Schüler (54,4 Prozent) nicht das Jahr des Mauerbaus nennen. Nur jeder Dritte wusste überhaupt, dass es die DDR war, die die Mauer gebaut hat. Ebenfalls jeder Dritte hielt Willy Brandt und Konrad Adenauer für DDR-Politiker. Die Aussage, dass die DDR durch demokratische Wahlen legitimiert gewesen sei, lehnten lediglich 38 Prozent ab. Knapp 18 Prozent sehen die DDR dagegen als demokratischen Staat, 44 Prozent konnten die Frage nicht beantworten. Dazu passt, dass jeder Vierte die DDR nicht für eine Diktatur hält, dass fast 70 Prozent der Schüler meinen, dass die Bundesrepublik vor 1989 nicht besser als die DDR war oder sich zumindest in dieser Frage unentschieden zeigen. 37 Prozent der Schüler halten die Stasi für einen normalen Geheimdienst. Die meisten glauben, dass die Renten in der DDR höher waren als heute – nur 36 Prozent tun das nicht. Eine relative Mehrheit war auch der Auffassung, dass die Umwelt in der DDR – dem Land der Trabbis, Braunkohleöfen und des Bitterfelder Smogs – sauberer war als heute. Und die meisten Schüler glauben laut Studie, dass das Vermögen in der DDR gleichmäßig verteilt war. Dabei besaßen in der DDR zehn Prozent der Kontoinhaber 60 Prozent der Vermögen, wie Schroeder sagt. „Auch im Realsozialismus, den PDS-Politiker als gerecht verklären, war das Geldvermögen nicht gleich verteilt.“

Zusammengefasst konnten 71,8 Prozent der Brandenburger Schüler nur die Hälfte oder noch weniger der 18 Wissensfragen zur DDR richtig beantworten. Als Hauptursache dafür sieht Schroeder vor allem Defizite im Bildungssystem Brandenburgs. Die Schüler hätten ihr Wissen über die DDR vorwiegend aus Filmen oder der Familie, da an den Schulen die DDR-Geschichte kaum behandelt werde. Dabei gibt es laut Studie einen direkten Zusammenhang: Je jünger die Schüler sind und je geringer ihre Kenntnisse, desto größer ihre Verklärung der DDR.

Bildungsminister Holger Rupprecht (SPD) zeigte sich nicht überrascht von den Ergebnissen. Er verwies darauf, dass der Landtag jüngst ein Konzept für einen offensiveren Umgang mit der DDR-Geschichte beschlossen habe, demzufolge an den Schulen dieses Kapitel intensiver behandelt werden soll.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 28.12.2007)

Friday, December 21, 2007

Gospelchor in der Dessous-Boutique (Berliner Zeitung)

Gospelchor in der Dessous-Boutique
Konsumkritik auf Amerikanisch - ein selbsternannter Pastor aus New York wettert mit seiner Kirche gegen die vorweihnachtliche Kaufsucht
Eva Schweitzer

NEW YORK. Wer dieser Tage in New York einkaufen geht, dem kann es passieren, dass er bei der Besichtigung der Ware empfindlich gestört wird. Wenn etwa eine Filiale des Dessous-Spezialisten "Victorias Secret" plötzlich von einem Gospelchor okkupiert wird, der dort seine Loblieder für den Herrn anstimmt, dürfte das bei manchem Besucher durchaus zu Irritationen führen. Genau dies ist so beabsichtigt.

Hinter solchen Aktionen steckt ein Mann, der sich den Kampfnamen Reverend Billy gegeben hat. Eigentlich heißt er Bill Talen. Als Reverend Billy will er die Amerikaner vom "Konsumerismus" abbringen, wie er den Kaufwahn nennt, der speziell in der Vorweihnachtszeit in seiner Heimat die Massen ergreift. Er hat noch ein anderes treffendes Wort für dieses Phänomen gefunden: "Shopocalypse".

Bill Talen warnt vor Marken, Malls und Mickymäusen, die den Menschen eintrichtern, was sie zu kaufen haben. Er ist das Oberhaupt der "Church of Stop Shopping", einer Kirche, die er in New York selbst gegründet hat. Die Idee kam ihm, als er in Hell's Kitchen lebte, einem einfachen irischen Viertel am Hudson River. "Dann kamen die Boutiquen und Kaufhausketten, und Bürgermeister Giuliani ließ Leute verhaften, die nichts auf der Tasche hatten. So hat sich Hell's Kitchen in eine Shoppingmall verwandelt", sagt Talen. Heute wohnt er mit seiner Frau im Stadtteil Brooklyn, in einer Gegend, wo die Läden etwas ärmlicher sind, jedenfalls noch.

Bäume statt Unterwäsche

All die Aktionen der selbst berufenen Kirche haben einen politischen Unterton. "Unseren größten Erfolg hatten wir bei ,Victorias Secret'", sagt Bill Talen. "So viele Kataloge wie diese Wäschefirma verschickt sonst niemand in den USA. Sie drucken Millionen von Heften. Und die machen sie aus Holz, das in unberührten Wäldern in Kanada geschlagen wird, die wichtig sind für das Klima der Erde." Nachdem Talen, seine Frau Savriti und ihr Chor in dem Geschäft gesungen hatten, sei der Geschäftsführer des Unternehmens eingeknickt. Er will nun Kataloge aus recycelten Papier herstellen lassen, glaubt Talen.

Zur Gemeinde der konsumkritischen Kirche zählen vierzig bis fünfzig Menschen, die in New York auftreten, aber auch auf Tour gehen. Sie haben im Rathaus von San Francisco gesungen, im Haus des Kongresses in Washington und vor dem Hauptbahnhof in Berlin. "Wir sind international agierende Clowns", sagt Billy. Im vergangenen Jahr sind sie mit einem Bus quer durch die USA gefahren, um vor Einkaufszentren zu predigen. Mitunter wurden ihre Auftritte von der Polizei beendet. Über die Tour ist nun ein Dokumentarfilm erschienen, der in einem Kino in Manhattan läuft.

Bill Talen ist in Minnesota geboren, einem Land, in dem einst vorwiegend norwegische und deutsche Bauern gesiedelt haben. Sein dichter blonder Schopf deutet auf diese Herkunft. Eigentlich ist er von Beruf Schauspieler und Bühnenautor. Bevor er in sich den Konsumkritiker entdeckte, hat Talen im Theater an der St. Clemens Kirche im Stadtteil Hell's Kitchen gespielt.
Die "Church of Stop Shopping" war zuerst bloß so ein Einfall. "Jeder kann hier eine Kirche anmelden und den Status der Gemeinnützigkeit beantragen, um dann öffentlich zu predigen", sagt Bill Talen. "Man muss nur nachweisen, dass man Follower, also eine Gemeinde hat." Und wie viele Jünger braucht man für eine Kirche? "Das hängt von der Laune des Beamten ab, der den Antrag genehmigt." In New York, mit seinen Immigranten aus allen Ländern, sei religiöse Toleranz wichtig.

Talens Aversion gegen den Kaufwahn steigert sich zu Weihnachten ins Missionarische. "Das amerikanische Christmas wurde eigentlich vom Einzelhandel erfunden, schon vor über hundert Jahren", sagt er. "Santa Claus mit seinem rot-weißem Outfit ist eine Erfindung von Coca Cola. Aber erst mit Ronald Reagan hat sich dieser Konsumerismus überall durchgesetzt. Er ist zu einer Sucht geworden."

Dabei haben Talen und seine Frau Savriti nichts gegen Weihnachten an sich. "Das ist ein schönes Fest, ich liebe Kirchenmusik, und es ist eine nette Geste, sich etwas zu schenken", sagt Savriti. "Nur, muss das immer auch gekauft sein?"

Einmal wurde der Reverend festgenommen, als er eine Aktion im Disney-Laden am Times Square inszenierte, bei der er eine gekreuzigte Mickymaus aus Plüsch mit sich trug. "Manchmal treiben wir auch die Dämonen aus den Ladenkassen aus", erzählt er. "Wir erklären den Kassiererinnen, dass wir auf ihrer Seite sind und dass wir ihnen eine starke Gewerkschaft wünschen. Dann legen wir eine Hand auf die Kasse", Talen macht es vor, "und die andere Hand strecken wir in die Luft und beten laut, dass das Geld weg von den Konzernen fließt, hin zu den einfachen Leuten."

Samtene Revolution

Konzeptionell sieht sich Talen als Reverend Billy in der Tradition der wiedergeborenen Evangelikalen, die ihre Gemeinden anfeuern, die niederfallen und die Apokalypse beschwören. "Ich liebe dieser Art amerikanischer Kultur", sagt er. Weil er sie so sehr liebt, kann er sie auch perfekt parodieren. Aber das Singen nimmt der Chor ernst. "Danach fühlt man sich besser", sagt er.

Seinen Lebensunterhalt verdient das Paar mit Lehraufträgen an Universitäten; manchmal bekommen sie auch Stipendien. Der Chor wird oft von Veranstaltern gebucht.
Glauben sie denn, dass sie etwas ändern können? "Sicher", sagt Talen. "Es wird eine samtene Revolution geben, denn die Mittelklasse ist praktisch kollabiert." Es gebe in den USA nur noch Reiche und Arme. In den USA gilt es als Form von Demokratie, dass man alles kaufen kann. Nur wer kein Geld hat, muckt auf.

Berliner Zeitung, 21.12.2007

Saturday, December 15, 2007

Der Mafiaboss aus dem Kaukasus (Berliner Zeitung)

Magazin
Markus Wächter Der Historiker Simon Sebag Montefiore
Der Mafiaboss aus dem Kaukasus
Der Historiker Simon Sebag Montefiore enthüllt die abenteuerliche Jugend des sowjetischen Diktators Josef Stalin

INTERVIEW: CHRISTIAN ESCH

Kein Historiker ist Stalin so nah auf die Haut gerückt wie Simon Sebag Montefiore. In "Am Hof des Roten Zaren" schilderte er aus neuen Quellen die Intrigen im Kreml, die Umgangsformen in Stalins Gefolge. Das Buch wurde zum Bestseller. Nun hat sich Montefiore der Kindheit und Jugend des Diktators zugewandt. "Der junge Stalin" erzählt vom Leben eines kaukasischen Abenteurers im Untergrund.

Herr Montefiore, haben Sie in Stalins Jugendjahren eine Erklärung gefunden für seine spätere Karriere als Diktator und Massenmörder? Kann man das überhaupt?
Nicht im herkömmlichen Sinne, dass man sagt: Seine Kindheit war ärmlich und gewalttätig, also wurde er ein Verrückter. Das hat man über Hitler und über Stalin gesagt, aber das ist zu simpel. Die Gewalt begegnete Stalin von allen möglichen Seiten. Zunächst einmal wuchs er in einer gewalttätigen Stadt auf: Gori war der unruhigste Ort im gesamten Kaukasus, wo riesige Straßenschlachten organisiert wurden und jedermann vom Ringen und Boxen geradezu besessen war. Er erlebte Gewalt zuhause, auf der Straße, in der Schule. Nach der Kindheit kam die düstere, brutale Existenz im Untergrund, wo man Verräter zu töten hatte; die blutigen Raubüberfälle, die Stalin verantwortete; das Gefängnis, wo Gewalt die verbreitetste Währung war. Es gab die Kultur der Gewalt, wie sie sich in georgischen Erzählungen ausdrückte, oder die Gewalt der Französischen Revolution und der Pariser Kommune, für die sich die Marxisten begeisterten. All das kam zusammen.

Sie schreiben, der Beitrag der Kaukasier zur Revolution sei unterschätzt worden. Worin lag er denn? In einer besonderen Gewaltkultur?
Darüber habe ich sehr viel nachgedacht. Es wird ja immer wieder die Rolle der Juden in der russischen Revolution hervorgehoben, dabei gab es genauso viele Kaukasier unter den Revolutionären wie Juden und viele Polen und Letten. Und die Kaukasier brachten sicher ihr Clandenken mit: Dass man loyal zur Familie ist, dass man sich mit einem eigenen Gefolge umgibt und es schützt. Und ja, wahrscheinlich trugen sie auch zur Gewalttätigkeit bei. Dass sie 20 Jahre im gewalttätigen Untergrund des Kaukasus verbracht hatten, war sicher ein großer Einfluss, der noch erforscht werden muss. Andererseits brauchte Russland ja nie Lektionen in Sachen Gewalt.

Es gibt zwei gegensätzliche Bilder von Stalin. Die sowjetische Stalin-Kult-Literatur nannte ihn ein Genie und leugnete seine Verbrechen. Die Verlierer der sowjetischen Geschichte - Trotzki vor allem - beschrieben Stalin umgekehrt als intellektuell unbedarft und brutal. Bei Ihnen ist Stalin nun plötzlich beides - zugleich brutal und ein durchaus "profunder Denker" und guter Dichter.
Sämtliche Biografien haben bisher die Urteile von Trotzki und den Menschewiken akzeptiert - dass Stalin ein Bürokrat war, geistiges Mittelmaß, ein grauer Fleck. Ich habe schon bei der Arbeit an meinem letzten Buch "Am Hof des Roten Zaren" festgestellt, dass das absolut lächerlich ist. Er hatte nichts von einem Bürokraten an sich, er lebte eher wie ein Nomade. Dass er die Revolution verpasst habe - all das ist Unsinn. Aber er hat eben viel erfunden und seine eigene Rolle überhöht, vor allem was die Oktoberrevolution angeht. Das war seine große Lüge, und damit hat er auch die Wahrheit in Verruf gebracht. Ich musste also nochmal von vorne anfangen und von dem ausgehen, was ich selber vorfand - und das war sehr widersprüchlich und faszinierend. Man kann die Biografie jetzt als Anatomie Stalins und der Sowjetunion lesen, aber auch als Abenteuerroman nach Alexandre Dumas. Stalin war zugleich Bandit und Intellektueller - und zwar ein Intellektueller nach den Maßstäben der führenden Bolschewiken.

Stalins Vater war ein gewalttätiger Schuster, seine Mutter vergötterte ihren einzigen Sohn und hatte den Ehrgeiz, dass er studiert und Bischof wird. Könnte man sagen, er hat die Brutalität vom Vater, das Intellektuelle verdankt er der Mutter?
Nein, sie war ja Analphabetin. Aber vielleicht symbolisieren die beiden auf andere Weise die zwei Seiten seiner Persönlichkeit. Stalins Mutter war selbstbewusst und eigensinnig, und sie glaubte an ihn und seine Fähigkeiten, sie wusste, dass er etwas Besonderes war. Von ihr bekam er sein maßloses Selbstvertrauen: Ein Mann, der sechs Millionen Soldaten in einem einzigen Jahr - 1941 - verlieren und immer noch glauben konnte, er sei ein militärisches Genie. Wenn das kein Selbstvertrauen ist! Der Vater verlor sein Geschäft, sein Selbstvertrauen, ließ seine Familie im Stich - was in Georgien unerhört ist -, wurde zum Trinker und starb ohne einen Pfennig und ohne Obdach. Von ihm hatte Stalin ein Gefühl von Minderwertigkeit, den Hass auf andere, seine Heimlichtuerei. Er wusste ja noch nicht mal, ob es sein biologischer Vater war.

Für welchen der Männer, die als leiblicher Vater in Betracht kommen, haben Sie sich denn als Autor innerlich entschieden? Neben Wissarion Dschugaschwili kommen zwei Förderer der Familie in Frage: Stalins Pate, der Kaufmann Jakow Egnataschwili, und der Polizeichef von Gori.
Nach meinem Gefühl ist sein Vater sein Vater. So was soll ja durchaus vorkommen! Ich habe mir überhaupt im Buch zur Regel gemacht, zwar alle Möglichkeiten auszubreiten, dann aber die wahrscheinlichste zu wählen - auch wenn das Buch dadurch manchmal langweiliger wird.

Ich hatte im Gegenteil den Eindruck, Sie spekulieren ganz gern, um den Leser zu unterhalten.
Nehmen wir Stalins Abgang vom Priesterseminar 1899. Den führen sie nicht auf Stalins revolutionäre Umtriebe zurück, sondern bringen eine Liebesaffäre ins Spiel - es wimmelt in Ihrer Biografie überhaupt von Liebschaften.
Wenn Sie genau nachlesen, behaupte ich: Wir wissen den Grund nicht. Man hat am Ende einfach die Studiengebühren heraufgesetzt, um Stalin loszuwerden, er hat gesagt: "Ihr könnt mich mal!" und ist verschwunden. Auch in der Frage der Vaterschaft lande ich am Ende bei der am wenigsten sensationellen Folgerung; und dasselbe gilt für die Frage, ob Stalin ein Doppelagent des zarischen Geheimdienstes, der Ochrana war. Es gibt tonnenweise Hinweise, dass er einer war, und ich hätte liebend gerne ein Buch geschrieben, das das behauptet, aber die Beweislage spricht am Ende einfach stark dagegen. Schließlich gilt dasselbe auch für die Frage, ob Stalin Kirow 1934 ermordet hat, die ich in meinem Buch "Am Hof des Roten Zaren" behandelt habe. Auch wenn man mir nachsagt, dass ich auf Sensationen aus sei - in jeder dieser großen Fragen in Stalins Leben komme ich am Ende jeweils zu den weniger spektakulären Schlüssen.

Jedenfalls interessieren Sie sich weit mehr für Stalins Privatleben als für ideologische Auseinandersetzungen.
Ich interessiere mich eben nicht für Ideologie und halte das auch für eine dumme Debatte. Was heißt es denn, dass Stalin Marxist war? Nehmen wir die Bauernfrage: Zu einem gewissen Zeitpunkt glaubte Stalin, man müsse das Land den Bauern übereignen. Dann wollte er, dass es von den Gemeinden verwalten wird, und erst sehr viel später ging er zur Kollektivierung über. Das sind eigentlich Kernfragen! Natürlich, was den Marxismus im Großen und Ganzen angeht, glaubte Stalin an den dialektischen Materialismus, an den Siegeszug des Fortschritts und so weiter. Aber der Marxismus änderte sich, auch Lenins Marxismus. Ich dachte, für meine breitere Leserschaft ist das eine Debatte ohne Bedeutung. Akademiker können mich kritisieren. Ich streife aber all die großen Punkte, die Nationalitätenfrage zum Beispiel, durch die er sich einen Namen machte.

Dass ein junger Seminarist wie Stalin im Georgien des späten Zarenreichs ein Revolutionär werden würde, war sehr wahrscheinlich .
Genau!

. aber es war nicht ausgemacht, welche Richtung innerhalb des revolutionären Marxismus er dann wählen würde - es entwickelten sich ja mehrere, und die Menschewiken waren in Georgien besonders stark. Was waren sozusagen seine politischen Optionen?
Wissen Sie was? Für seine Persönlichkeit gab es gar keine Optionen: Er war ein Bolschewik, bevor die Bolschewiken überhaupt erfunden wurden. Lenin schuf eine Parteiorganisationsform, die Stalins Persönlichkeit entsprach: eine Art geheimer religiöser Kriegerorden, eine Avantgarde von Berufsrevolutionären, die alles selbst entscheidet, ohne dass man die Arbeiterschaft groß einbeziehen muss. Daraus entwickelte sich das Sowjetsystem. Und Stalin gefiel diese Idee gut, weil er sich selbst als genauso eine Person betrachtete: als strengen Asketen, als Mann der Gewalt und der Reinheit, der die Gerechtigkeit bringt. Als Lenin 1901/1902 "Was tun?" veröffentlichte, da traf er damit genau das, was Stalin sein wollte. Außerdem vertrat Lenin immer extreme Positionen, eine Haltung des "Je schlimmer, desto besser"; auch das gefiel Stalin. Die Menschewiken dagegen waren sozusagen ehrlicher. Ihre Anführer waren alle Adelige und Fürsten und Bessergestellte, aber sie glaubten, wenn wir schon für die Arbeiter eintreten, dann müssen wir sie auch einbeziehen, müssen sie wählen lassen.

Die faszinierendsten Kapitel Ihres Buches sind die über Stalins kriminelle Aktivitäten in den Ölstädten Batumi und Baku. Sie schildern ihn als eine Art Mafiaboss, er steht hinter Brandstiftung, Raub, Erpressung von Schutzgeldern. Der Höhepunkt ist dann der Überfall auf die Staatsbank in Tiflis 1907 mit etwa 40 Toten. Wenn man von der besonderen Grausamkeit mancher Taten absieht - wie besonders waren denn Stalins Raubzüge überhaupt? Gewaltsame "Expropriationen" haben ja alle möglichen Revolutionäre durchgeführt. Nehmen wir Josef Pilsudski, den späteren Staatspräsidenten von Polen .
Besonders Pilsudski! Der war ein großer Expropriateur. Alle terroristischen Bewegungen und alle politischen Parteien brauchen ganz einfach Geld. Und Expropriation war natürlich nur ein Euphemismus, ein Versuch, dem Raub die Patina des Klassenkampfes zu geben. Die Bolschewiken brauchten dringend Geld; die Menschewiken hatten sehr viel mehr davon, aber sie wollten es nach einer Weile nicht mehr mit Lenins Fraktion teilen. Und der beste Ort im ganzen Zarenreich, um an Geld zu kommen, war der Kaukasus, Russlands Wilder Westen. Da liefen viele Männer mit Waffen herum, da gab es einen regelrechten Kult des Waffentragens, die Polizei war besonders korrupt- alles war praktischer dort unten. Und Stalin machte sich zum Meister all dieser schwarzen Künste. Das war unheimlich wichtig für die Partei. Stalin war auch nie nur ein Gangster: Er hat das Geld nie für sich selbst genommen, es hat ihn gar nicht interessiert. Er war zuallererst ein Politiker und lebte für die Politik, für den Kampf. Das war das ungewöhnliche an ihm: Er beherrschte beides.

Wenn er aber im Sinne Lenins handelte, warum hat er dann nach der Revolution über seine abenteuerlichen Raubzüge geschwiegen?
Er war in einer schwierigen Lage. Er durfte nicht vorzeigen, was er all die Jahre getan hatte - eben deshalb konnten Leute wie Trotzki später behaupten, er habe gar nichts getan, obwohl er in Wahrheit eines der abenteuerlichsten und aktivsten Leben eines Revolutionärs geführt hatte und der prominenteste unter ihnen im Kaukasus gewesen war. Aber es gab wichtige Gründe für sein Schweigen. Erstens hätten die Russen niemals einen kaukasischen Gangster als Führer akzeptiert. Er hatte Russe und Staatsmann zu sein, nicht Georgier und Bandit. Wichtiger noch war, dass er nach den großen Raubüberfällen aus allen lokalen Parteikomitees ausgeschlossen worden war. Nachdem er an der Macht gekommen war, waren die Bolschewiken geradezu besessen von Stammbaumfragen. Sein Parteiausschluss von damals hätte seine Legitimität in Frage gestellt. Und schließlich war da die Sache mit der Ochrana. Es war ja sowieso schon so, dass jeder jeden als ehemaligen Ochrana-Agenten denunzierte - und viele waren das ja auch gewesen. Jeder Führer war angreifbar, aber keiner mehr als Stalin, der einst dafür zuständig gewesen war, die Ochrana-Leute und Polizeibeamten zu bespitzeln und zu bestechen. All diese Punkte waren also nicht kleinere Peinlichkeiten, sondern jeder einzelne von ihnen hätte Stalins Karrierechancen zerstören können.

Sie schildern Stalins Rolle im Untergrund mit einem Vokabular, das seine Taten entpolitisiert: Sie sprechen vom "Mob", vom "Boss", von "Gangstern". Ich hatte den Eindruck, Sie blenden das Politische bewusst aus.
Nein. Nehmen Sie zum Vergleich die irische IRA, das ist sicher eine politische Organisation, aber sie hat genau dasselbe gemacht wie Stalins Leute. Vielleicht sind wir in England besser vertraut mit solchen Dingen. Fast jede Besprechung meines Buches in England hat das Beispiel der IRA erwähnt; die IRA hat vor ein paar Jahren eine Bank ausgeraubt und 17 Millionen Pfund Beute gemacht. Sie haben auch Schutzgelder in großem Maßstab erpresst. Es war zugleich eine Gangster-Organisation.

Mir fiel bei der Lektüre die deutsche Diskussion zur RAF ein. Man interessiert sich neuerdings nicht mehr für deren politische Rechtfertigungsversuche, sondern eher für das Persönliche: Für die Verbrechen als solche, für Andreas Baaders Liebschaften, für die Mechanismen der Gewalt.
Ich glaube nicht, dass zum Beispiel Stalins besonders brutaler Mitstreiter Kamo vom Marxismus viel verstanden hat. Und machen wir uns nichts vor: Der gesamte Kontrollmechanismus im politischen Untergrund - wenn Sie jemand für einen Verräter hielten, mussten Sie ihn umbringen - war sehr gangsterhaft. Die Parallelen sind allzu deutlich.

In Ihrem Buch "Am Hof des Roten Zaren" schrieben Sie, dass die spätere stalinistische Führungsriege im Bürgerkrieg ihre Gewalttätigkeit einübte. Wenn man Ihr neues Buch liest, dann brauchte Stalin den Bürgerkrieg nicht, um da noch irgendetwas zu lernen.
Nein, keiner von diesen kaukasischen Schlägertypen hatte das nötig, auch nicht Ordschonikidse und die anderen. Aber der große Unterschied war: Im Bürgerkrieg waren sie an der Macht. Das ist eine völlig andere Erfahrung. Es ist eine Sache, ob man jemand im Dunkeln in den Hinterkopf schießt, weil man ihn für einen Verräter hält. Aber im Bürgerkrieg waren diese Männer plötzlich Kommissare mit Panzerzügen, Leibwächtern, Titeln, Rückhalt. Und sie hatten den Befehl, nicht einen Einzelnen zu erschießen, sondern 10 000 hier, 5 000 dort, ein Dorf da. Es ging sozusagen nicht eine Stufe hoch, sondern gleich zehn. Das war nicht mehr diese Baader-Meinhof-Gewalt, dass man eine einzelne Person entführt und ermordet. Das war das Endstadium.

Welchen historischen Quellen über Stalins Jugend darf der Biograf denn überhaupt glauben? Es wimmelt ja von Lügen und nachträglichen Retuschen. Sie haben eine Unzahl von veröffentlichten und unveröffentlichten Memoiren ausgewertet, oft nach der Regel: Was nach Stalins Machtantritt und vor dem Großem Terror von 1937 noch an Negativem über ihn geschrieben wurde, das muss eigentlich wahr sein.
Ich sage: Es ist sehr wahrscheinlich wahr. So gehen Historiker eben vor - wenn Sie das alte Ägypten untersuchten, würden Sie's nicht anders machen. Das beste Beispiel sind die Erinnerungen von Saschiko Swanidse, der Schwester von Stalins erster Frau. In den frühen 1930ern waren die Swanidses mit Stalin eng befreundet, und trotzdem hinterließen sie zur selben Zeit Erinnerungen, in denen sie ihm Schuld gaben am Tod seiner Frau, weil er sie vernachlässigt habe. Heute stellt man sich vor, dass die Leute in so einer monolithischen Gesellschaft sich gar nicht getraut hätten, so etwas auch nur zu denken. Aber die Swanidses wussten nicht, dass Stalin nur drei Jahre später jedermann erschießen würde. Das wissen wir heute, aber sie hatten keine Ahnung davon. Diese Menschen dachten, sie kennen Stalin besser als jeder andere Mensch - sie sahen ihn ja beinahe täglich - und hielten es für ungefährlich, einen sachten Hinweis auf sein Eheverhalten zu hinterlassen. Sie waren vom Stalinkult unberührt und auch nicht eingeschüchtert von Vorgesetzten - sie waren ja selbst Vorgesetzte, sie gehörten zur regierenden Klasse. Fast die gesamte Familie wurde später erschossen, als Strafe für ihre zu große Vertrautheit mit Stalin. Für ihre Annahme, er sei ein normaler Mensch. Für mich waren ihre Memoiren eine Goldmine.

Es ist erstaunlich, wie viele neue Quellen Sie zu Stalins Leben erschlossen haben - bis hin zu einer Verwandten von Stalins erster Frau Kato Swanidse, die Ihnen mit 109 Jahren in einem Tiflisser Altenheim noch ein Interview gab. Am meisten hat mich überrascht, dass Sie sogar die Erinnerungen seiner Mutter Keke gefunden haben, die sie 1935 kurz vor ihrem Tod hinterließ.
Das Erstaunliche ist nicht, dass der Text erhalten blieb, sondern dass Stalin selbst vermutlich nichts von seiner Existenz ahnte. Stalin hatte verboten, seine Mutter zu interviewen. Die Mutter entschied sich aber, ihrem Cousin ein Interview zu geben - übrigens typisch für seine eigensinnige Mutter! - und gab es dem Chef des Archivs. Und jetzt kommt die übliche russische Bürokratie ins Spiel: Was sollte der Archivchef mit diesen diktierten Erinnerungen machen? Vernichten ging nicht - immerhin stammten sie ja von Stalins Mutter. Sollte er sie Stalin schicken? Nur, wenn er gefeuert werden wollte, schließlich hatte Stalin Interviews ja untersagt. Also legte man sie im hintersten Winkel des Archivs ab.

Das war das kommunistische Parteiarchiv von Georgien. Wie haben Sie das Dokument denn dort gefunden?
Es war einfach da. Ich suchte nach den Memoiren der Bankräuber in Stalins Umfeld, und man sagte mir, die sind in den Akten der alten Bolschewiken abgelegt, und da sind auch die Erinnerungen von Stalins Mutter. Der Archivar wusste davon. Ich hatte schon gerüchtehalber davon gehört, aber ich hielt das alles für erfunden. Aber dann habe ich das Dokument geprüft, und es ist echt. Der Inhalt ist auch nicht so spektakulär, dass man an seiner Echtheit zweifeln müsste. Es zeigt Stalin als normales Kind - dass die Mutter ihn in den Arm nahm, dass er weinte, dass sie beide Angst hatten, der Vater würde sie finden, dass Stalin ein Liebling der Lehrer war und die Welt verbessern wollte und der beste Sänger der Schule war, und so weiter.

In Ihrer Danksagung danken Sie Georgiens Präsident Saakaschwili und seiner Frau, weil sie Ihnen Zugang ins Archiv verschafft haben.
Es war der einzige Weg, da hineinzukommen.

Waren die Bestände aus politischen Gründen so schwer einzusehen? Oder weil das Archiv in schlechtem Zustand war?
Georgien ist in schlechtem Zustand. Das ist eine Frage des totalen Chaos, mit Politik hatte das nichts zu tun.

Wie war es in Russland?
Ich kam zu einem sehr glücklichen Zeitpunkt in die Archive, als die Bestände gerade geöffnet wurden. Außerdem stand ich damals in der Gunst des Kremls, deshalb konnte ich sie fast als erster einsehen.

Sie standen in der Gunst des Kremls? War das noch zu Jelzins Zeiten?
Nein, 2000. Mein erstes - und liebstes - Buch ist "Katharina die Große und Potemkin", und zufällig war Putin, der damals gerade ins Amt kam, sehr an Katharina und ihrer Epoche interessiert. Aufgeklärter Despotismus war so etwa das, was er wollte. Er las das Buch, George W. Bush las das Buch, und sie unterhielten sich darüber, als sie sich trafen. Es fand großen Gefallen, weil es Katharina und Potemkin rehabilitierte - zwei große russische Staatsleute. Der Verleger von Jelzin und Putin, der zugleich Minister in der Regierung war, kaufte die russischen Rechte, und man half mir enorm bei meiner Arbeit. Als mein erstes Buch über Stalin dann aber erschien, fiel ich in Ungnade. Es zeigte, wie die Sowjetführung in den 1930ern, 1940ern und 1950ern auf persönlicher Basis funktionierte, etwa so wie eine Mafia-Familie - und das hassten sie, schließlich waren sie gerade dabei, Stalin als großen russischen Führer zu rehabilitieren. Bei den Recherchen zum "Jungen Stalin" half man mir in Russland also nicht mehr, aber zum Glück war das meiste Material in Georgien. Ironischerweise ist dieses neue Buch aber wieder vom selben Verleger gekauft worden. Es zeigt Stalin als eine Ausnahmeerscheinung, und das mag man dort jetzt wieder.

Eigentlich ist das doch erstaunlich. Stalin ist ja im heutigen Russland deshalb populär, weil er für den starken Staat steht; deshalb ist er auch viel populärer als Lenin, der Umstürzler. Aber das gilt ja nur für den späten Stalin. Ihr neues Buch zeigt den jungen Revolutionär. Einen, der die russische Staatlichkeit auflöst.
Ja, das stimmt. Diese Dinge nehmen da drüben geheimnisvolle Wege.

Mir schien es oft, als wären Sie nicht ein Autor, sondern zwei: einerseits der brillante Historiker, der sich in der politischen Geschichte auskennt und lauter neue Dokumente findet; und andererseits sozusagen der Boulevardjournalist, der sich für die politische Geschichte gar nicht interessiert, sondern für Sex und Verbrechen. Ihre Darstellung der Februarrevolution 1917 zum Beispiel ist sehr reißerisch. Da erwähnen Sie auf engstem Raum die leichtbekleideten Mädchen, die durch Petrograd gefahren wurden; die pornografischen Pamphlete gegen die Zarenfamilie; die Huren, die einen eigenen Sowjet wählten, und das Knutschen und Vögeln auf den Straßen. Das hat es ja offenbar alles gegeben - aber in dieser Verbindung ist mir das zu viel nacktes Fleisch, um die Februarrevolution zu beschreiben.
Ich schreibe alle meine Bücher für mich, nicht für ein Publikum. Dies ist also das Buch, das ich selbst gern lesen würde. Ich versuche zwar mit den Fakten und den Quellen sehr genau zu sein, aber ich glaube zutiefst an eine Geschichtsschreibung, die auch gelesen wird, und zwar von vielen, nicht bloß von Spezialisten. Das ist meine Mission. Ich glaube auch nicht, dass ich die Gegenstände trivialisiere, auch wenn Sie vielleicht anderer Meinung sind. Das sind sehr ernsthafte Bücher. Aber am Ende entscheide ich mich für das, was ich selbst gern lese. Mehr kann ich nicht sagen.

Was hat Ihnen denn Lust gemacht, über Stalin zu schreiben? Hat es damit zu tun, dass Sie als Kriegskorrespondent im Kaukasus waren?
Ich komme aus einer jüdischen Familie, die Montefiores und die Sebags kommen aus Italien und Marokko. Aber die Familie meiner Mutter hat polnische, russische, litauische Wurzeln. Und deshalb hat mich Stalin schon als kleiner Junge interessiert, und ich wollte die meiste Zeit meines Lebens ein Buch über ihn schreiben. Später war ich, ob Sie's glauben oder nicht, Investmentbanker. Und als 1991 die Sowjetunion zerfiel, ging ich als Kriegskorrespondent in den Kaukasus. Ich war in Grosny, in Karabach, in den georgischen Bürgerkriegen. Es war eine tolle Zeit voller Abenteuer, eine wunderbare Sache. Aber dann wollte ich etwas Dauerhafteres schreiben. Zufällig öffneten sich da gerade die Archive, und ich schrieb mein Buch über Katharina und Potemkin - auch das hatte mit dem Kaukasus zu tun, denn Potemkin hat ihn 1783 annektiert. Ich liebe einfach diese Gegend, so kam das. Mein Gott, was für ein schönes Leben das ist, solche Bücher zu schreiben - einfach nur für mich! Sie dürfen beim Schreiben nicht an die Wissenschaftler einerseits und das Publikum andrerseits denken, dann versuchen Sie zu gefallen. Sie müssen aber das schreiben, was Ihnen selbst Spaß macht. Und was soll ich sagen? Nackte Mädel während der Februarrevolution machen mir einfach Spaß.
Berliner Zeitung, 15.12.2007

Simon Sebag Montefiore
Der britische Historiker wurde 1965 in London geboren. Er war Investmentbanker und Kriegskorrespondent, bevor er historische Biografien schrieb.
Sein neues Buch "Der junge Stalin" ist bei S. Fischer, Frankfurt am Main erschienen. Es hat 537 S. Im selben Verlag erschien "Am Hof des Roten Zaren".
Als nächstes will Montefiore "Jerusalem. Eine Biografie" schreiben sowie zwei historische Romane zur Russischen Geschichte. Auch seine Frau Santa Montefiore ist Romanautorin. Sie leben mit ihren zwei Kindern in London.