Knaller an der Zeitungsfront

Tuesday, July 29, 2008

Hab acht vor der Sieben! (Tagesspiegel)

Hab acht vor der Sieben!
Noch 32 Tage bis Olympia. Müh-Ling trainiert heute: Zählen
Zahlen werden in China mit arabischen Ziffern notiert, genau wie bei uns. Für das sinnsuchende Westler-Auge hat das erst mal etwas Beruhigendes: In fremden Zeichenfluten wird die Zahl zum Heimathafen.

Damit hören die Ähnlichkeiten aber schon auf. Die Unterschiede beginnen mit simplen Dingen wie der Auswahl einer Handy-Nummer. Eindringlich warnten meine chinesischen Freunde, ich solle Vieren und Siebenen unbedingt meiden! Beides verheiße Unglück: Das chinesische Wort für Vier (si, fallend betont) sei dem Wort für „Tod“ zu ähnlich (si, fluktuierend betont), während die Sieben (hohes qi) nach „Wut“ klinge (fallendes qi).

Schüchtern wandte ich ein, mein Problem sei eher, dass ich die Wörter für Vier und Sieben kaum von den Wörtern für Achtzehn, Kernschmelze und Zahnersatz unterscheiden könne. Brüsk wurde mir Leichtfertigkeit vorgeworfen: „Ich hatte mal ein ganzes Jahr lang Pech wegen einer schlechten Handy-Nummer“, versicherte einer. Von dem Übel befreit habe ihn erst sein Vater, ein kundiger Sinologe, der die Unglücksnummer mit Hilfe des „Yijing“ entlarvte, eines altchinesischen Orakelbuchs. Mir wurde versichert, dass ich diese fortgeschrittene Methodik nicht zwingend erlernen müsse – aber zugreifen sollte ich unbedingt bei Sechsen (fallendes liu), die „Reibungslosigkeit“ versprechen (fallendes shun), sowie bei der chinesischen Glückszahl schlechthin: der Acht (hohes ba), die „Reichtum“ verheißt (hohes fa). Für eine Nummer mit mehreren Achten zahlen Chinesen gerne ein paar Hundert Euro.

Mir dämmerte, warum die große Olympia-Uhr am Platz des Himmlischen Friedens unaufhaltsam auf das Datum 8.8.2008, 08:08:08 Uhr zutickt. Für chinesische Ohren muss der Eröffnungstermin der Olympischen Spiele ähnlich euphorisierend klingen wie für Deutsche die Formel „Sechs Richtige plus Zusatzzahl“.

Damit im Telefonladen nur ja nichts schiefginge, brachten meine Freunde mir noch bei, wie man mit den Händen zählt – wobei nicht die Anzahl der Finger ausschlaggebend ist, sondern die Nachahmung der Schriftzeichen. Die Glücks Acht sieht aus wie eine europäische Zwei: abgespreizter Daumen und Zeigefinger. Die reibungslose Sechs entspricht der Gebärde, mit der man im Westen ein Telefongespräch symbolisiert, während bei der Todes-Vier alle Finger außer dem Daumen hochgehalten werden. Die ziemlich komplizierte Wut-Sieben schließlich ähnelt ein wenig der Fingerhaltung, mit der man beim Schattenspiel einen Vogel Strauß an die Wand projiziert.

In der „China Mobile“-Filiale legte mir eine schnippische Verkäuferin diverse Nummern zur Auswahl vor, in denen es vor Vieren und Siebenen nur so wimmelte, während Achten gänzlich fehlten und Sechsen rar gesät waren. Ich wollte meiner Verärgerung Ausdruck verleihen, konnte mich jedoch nicht mehr an das chinesische Wort für „Wut“ erinnern, auch die ähnlich klingende „Sieben“ war mir entfallen. Also zeigte ich der Verkäuferin die Vogel-Strauß-Gebärde. Dies wurde komischerweise missverstanden: Ich erhielt eine Handy-Nummer mit besonders vielen Siebenen. Wochenlang kicherten meine Freunde, sobald ich sie anrief.

Aus Protest gegen die Herabwürdigung eines deutschen Pressevertreters durch einen chinesischen Staatskonzern wurde als Eröffnungstermin für diese Kolumne, die bis zum 8. 8. regelmäßig auf den Kulturseiten erscheint, der 7. 7. gewählt!

Unsere „Aufschlag“-Kolumnisten Rainer Moritz und Moritz Rinke machen Sommerpause. Wenn die Tage kühler werden, sind sie wieder zurück, jeden Montag an dieser Stelle.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 07.07.2008)

Der Große Vorsitzende (Tagesspiegel)

Der Große Vorsitzende
Noch 27 Tage bis Olympia. Müh-Ling trainiert heute: Maoismus

Seine Leiche schwimmt in einem trüben Formaldehyd-Aquarium. Vor dem Glaskasten teilen Volkspolizisten den Besucherstrom in zwei Prozessionen, die links und rechts an Mao vorbeidefilieren. Im Akkord legen die Chinesen gelbe Plastiknelken nieder, die nachts zurück in die Verkaufsstände am Mausoleums-Eingang wandern. Der Gründungsvater des chinesischen Kommunismus ist tot, um ihn herum zirkuliert ein ökonomisches Perpetuum Mobile. Ist ja Kapitalismus jetzt.

Die Partei sagt: Mao lag zu 70 Prozent richtig und zu 30 Prozent falsch. Unmittelbar nach dem Tod des Großen Vorsitzenden wurde dieser ideologische Wechselkurs ausgegeben, offiziell notiert Mao bis heute unverändert. 70 zu 30: Was sagt das über die chinesischen Geldscheine aus, die immer noch Maos Konterfei tragen. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum die Chinesen immer so skeptisch ihre Banknoten prüfen. Einen gefälschten 100-Yuan-Schein wird man in Peking mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht los. Man kann ihn höchstens den Ausländern andrehen, von denen allerhöchstens 30 Prozent einen echten von einem falschen Mao unterscheiden können.

Eine französische Galeristin im hippen Pekinger Künstlerviertel „798“ erzählt, sie sei neulich von der Polizei gezwungen worden, ein pietätloses Mao-Porträt abzuhängen. Sie erzählt die Geschichte lachend, fast kokett. Jede dritte Galerie im Viertel verkauft ungehindert Mao-Porträts, mal in knalliger Andy-Warhol-Manier, mal als ironische Cola-Reklame, mal in der Heldenpose des Kulturrevolutionärs. Die westlichen Sammler, heißt es, kaufen das Zeug wie bekloppt. Die Touristen sowieso. Im Backpacker-Viertel zieht jeden Abend ein greiser Chinese von Hostel zu Hostel und verkauft MaoMemorabilia. „Look-a, look-a!“, sagt er. „Mao book-a! Mao clock-a! Mao shirt-a!“ Die Leute reißen ihm das Zeug aus den Händen. Mao sells.

Amerikanische Finanzpolitiker sind der Ansicht, der chinesische Yuan sei massiv unterbewertet, manche sprechen von bis zu 30 Prozent. Ich dagegen finde Mao zu 70 Prozent überbewertet.Am 7. Juli trainierte Müh-Ling das Zählen, als nächstes lernt er, wie man sich chinesisch entschuldigt. Seine Kolumne wird uns bis zum Beginn der Olympischen Spiele in Peking begleiten.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 12.07.2008)

Geheimnisse des Ehelebens (Tagesspiegel)

Geheimnisse des Ehelebens
Noch 25 Tage bis Olympia. Müh Ling trainiert heute: Entschuldigen.

Bis Ende der 1920er Jahre hing am Eingang des Huangpu-Parks im britisch kolonisierten Shanghai ein Schild, das Hunden und Chinesen den Zutritt untersagte – in dieser Reihenfolge.

Ein knappes Jahrhundert später. Im Pekinger Zhongshan-Park steht inmitten einer Menschenmenge ein älterer Chinese mit Hund. Er ist wütend. Die Umstehenden versuchen, den Mann zu beschwichtigen. Es nützt nichts, er lässt seinem Zorn freien Lauf. „Ausländer“, schreit er, „haben in chinesischen Parks nichts zu suchen!“

Zwei Gruselgeschichten, die nichts verbindet – außer geschichtlicher Grusel.Vorausgegangen ist dem Wutanfall des Mannes eine Recherche im Zhongshan-Park, wo sich zweimal in der Woche chinesische Eltern treffen, um ihre unverheirateten Kinder unter die Haube zu bringen. Die Recherche verläuft erstaunlich unkompliziert, die Eltern geben bereitwillig Auskunft, etwa 30 Männer und Frauen drängeln sich förmlich um den deutschen Journalisten, seinen chinesischen Übersetzer und dessen deutsche Ehefrau. Jeder will einen Kommentar abgeben, viele stellen ihrerseits neugierige Fragen: wo man denn herkomme, ob das Leben dort sehr anders sei, ob man zu Hause eine Frau habe oder nicht vielleicht hier eine nette Chinesin kennenlernen wolle. Besonders interessiert die Menschen, wie denn eine Ehe zwischen einem Chinesen und einer Ausländerin funktioniert, viele fragen den Übersetzer, ob er das weiterempfehlen könne.

Bis plötzlich ein älterer Mann, der zuvor schweigend seinen Hund an der Leine gehalten hat, vor sich hin zu murren beginnt, leise zunächst und ohne jemanden anzusehen, dann immer lauter und lauter. Von „Geheimnissen“ spricht er, über die man mit Ausländern nicht reden solle, weil man nicht wisse, was die Fremden damit anfangen. Trotz aller Beschwichtigungsversuche redet sich der Mann in Rage, sein Zorn richtet sich besonders gegen den chinesischen Übersetzer, dem er immer wieder mit dem Finger droht: Was ihm einfalle, chinesische Geheimnisse zu verraten! Bestraft gehöre er dafür, dass er eine Fremde geheiratet habe! Den meisten Umstehenden ist der Vorfall sichtlich unangenehm, bittend bedeuten sie den Ausländern, weiterzugehen und das Gezeter nicht zu beachten.

Später kommen mehrere Menschen aus der Gruppe den Ausländern im Park hinterhergelaufen, um sich aufgewühlt für den Vorfall zu entschuldigen. Man solle nichts darauf geben, sagen sie, sie selbst fänden es gut und richtig, dass man mit Ausländern heute über alles reden könne, eigentlich gefalle das allen Chinesen, der Mann sei eine Ausnahme, man schäme sich sehr für ihn.

Hat sich Europa jemals für das Schild am Huangpu-Park entschuldigt?
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 14.07.2008)

Runter damit! (Tagesspiegel)

Runter damit!
Noch 22 Tage bis Olympia. Müh-Ling trainiert heute: seinen Magen.
Diesmal würde es kein Zurück geben. Lange hatten meine chinesischen Freunde über der Speisekarte gebrütet, und ihre prüfenden Seitenblicke waren mir nicht entgangen. Schicksalsergeben starrte ich den Kessel in der Mitte des Restauranttischs an, in dem bereits der Höllensud der Provinz Sichuan brodelte.

Wie oft hatte ich dankend abgelehnt, wenn mir Chinas kulinarischer Reichtum demonstriert werden sollte, wie oft hatte ich abgewunken, wenn Hundeherzen und Gänseköpfe gepriesen wurden? Aber heute würde ich nicht kneifen, was immer auf den Tisch käme. Es war dies zunächst eine Platte grob gehackter Ochsenfrösche, die der Kellner umstandslos in den brodelnden Kessel leerte. Neugierige Blicke maßen mich, als ich die Stäbchen in den Sud tunkte und eine glitschige Froschhälfte an Land zog. Während ich den langgliedrigen Fremdkörper prüfend mit der Zunge betastete, bemühte ich mich, mir keinerlei Irritation anmerken zu lassen. Knackend gab eine Ochsenfroschwirbelsäule dem ungeschickten Druck meiner Backenzähne nach. Lächelnd lobte ich Konsistenz und Würze des Gerichts.

Derweil hatte der Kellner eine Schüssel undefinierbarer Fleischfetzen in den Kessel geleert. Ich verstand „DachsKinn“, als ich betont beiläufig nach der Art der Speise fragte. „Dog skin?“, hakte ich nach. „Duck skin“, präzisierten meine Freunde. Entenhaut. Es gibt Schlimmeres. Den nächsten Menüpunkt zum Beispiel: eine flache Schale, gefüllt mit einer dunkelroten Masse, die beim Zerschneiden widerlich wabbelte. Zum Glück hat gestocktes Schweineblut wenig Eigengeschmack. Auch im weiteren Verlauf des Mahls – bei dem ich nur noch Schafsmagen und Hühnerhirn eindeutig zuordnen konnte – stellte ich Gleichmut unter Beweis, und fast schon wollte ich glauben, dass meinen Freunden die Ideen ausgingen. Just in diesem Moment aber trug der Kellner eine Platte heran, deren Geheimnis unter einer voluminösen Servierhaube verborgen war. Als sie gelüftet wurde, stockte mir der Atem. „Ist es das, wofür ich es halte?“, fragte ich kühl. Vor meinen Augen lag ein immenser Rinderpenis.

Der Kellner schickte sich an, das Gemächt in mundgerechte Scheiben zu zersäbeln. Ein beißender Stellvertreterschmerz trieb mir den Schweiß auf die Stirn, deutlich spürte ich, dass hier eine Schwelle erreicht war, deren Überschreitung mir nicht möglich sein würde. Fieberhaft suchte ich nach Ausflüchten: Könnte ich behaupten, meine Religion verbiete den Verzehr von Genitalien? Aber was für eine Religion sollte das sein? Freudianisch-Orthodox? Genital-Pietistisch? Ödipal-Klerikal?

Unterdessen erzählte einer meiner Tischnachbarn, er habe früher in einem kleinen Restaurant in der Provinz gearbeitet, in dem die örtlichen Parteikader zu besonderen Anlässen gerne Rinderpenisse verzehrt hätten. Da diese Köstlichkeit nur auf Vorbestellung zubereitet wurde, hätten im Kühlschrank mitunter diverse Gemächte nebeneinander gelagert, versehen mit Zetteln, auf denen der Name des jeweiligen Bestellers vermerkt war: „Parteisekretär Wu“, „Ortsvorsteher Li“ und so weiter. Daraufhin überwältigte mich ein epochaler Schluckauf.

Dies wiederum beängstigte meine Freunde so sehr, dass sie mir das Weiteressen untersagten. Ich bin überzeugt, dass meine Enttäuschung glaubwürdig wirkte.
Bisher trainierte Müh-Ling: Zählen (7. 7.), Maoismus (12. 7.), Entschuldigungen (14. 7.). Als nächstes: Propaganda
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 16.07.2008)

T wie Tibet (Tagesspiegel)

T wie Tibet
Noch 18 Tage bis Olympia: Müh-Ling trainiert heute: Propaganda
Wenn Sie mal erleben wollen, wie ein ansonsten liebenswerter Chinese Gift und Galle spuckt, erwähnen Sie einfach das T-Wort. Leises Flüstern reicht: „Tibet“. Fast jeder Chinese wird sofort in die Defensive gehen, lauthals die Errungenschaften der chinesischen Tibet-Politik preisen, den Dalai Lama einen CIA-Agenten schelten und dem Westler ein völlig verzerrtes Tibet-Bild vorwerfen – noch bevor sich der Westler überhaupt zum Thema positioniert hat.

Wenn Sie gleichzeitig mal erleben wollen, wie sich ansonsten vernünftige Deutsche in kitschbekiffte Ethno-Fundamentalisten verwandeln, erwähnen Sie ebenfalls einfach das T-Wort. Funktioniert auch ziemlich zuverlässig. Ein chinesischer Bekannter erzählte mir neulich, er sei in Deutschland mehrfach von bunt gekleideten, ihm gänzlich unbekannten Menschen als Repräsentant eines völkermordenden Regimes beschimpft worden – noch bevor er sich zu Tibet überhaupt geäußert hätte.

Im Pekinger Kulturpalast der Nationalitäten wird derzeit eine große Tibet-Ausstellung gezeigt. Sie ist in zwei Teile gegliedert: das „alte“ und das „neue“ Tibet, vor und nach der kommunistischen Angliederung. Das alte Tibet ist eine feudale Sklavenhaltergesellschaft, deren gottesstaatliche Herrscherclique politischen Gefangenen die Haut abziehen lässt. Das neue Tibet ist eine blühende Region Chinas, deren Bewohner „in Erwartung einer noch besseren Zukunft singen und tanzen“, wie es unter einem Foto folkloristisch gewandeter Bauern heißt.

Verblüffend ist die durchweg defensive Haltung der Propaganda-Schau. Jedes Exponat wirkt hier wie eine trotzige Anfechtung des Tibet-Bildes, wie es seit den Ausschreitungen im März dieses Jahres im Westen kursiert. Manches Gezeigte hätte sogar das Potenzial zum klärenden Dialog – wenn es nicht so unsäglich ideologisch präsentiert wäre.

Andererseits: Deutschlands Hobby-Tibeter romantisieren die vorkommunistische Feudal-Epoche und verdrehen Chinas unabweisbare Modernisierungsleistungen zum „kulturellen Völkermord“. Auch das ist Geschichtsklitterung. Man muss sich nur mal den deutschsprachigen Tibet-Eintrag bei Wikipedia und die zugehörige Editionsgeschichte ansehen. Da räumt eine selbst ernannte Gesinnungspolizei gnadenlos mit Abweichlern auf.Beim Verlassen des Kulturpalasts spricht mich ein älterer Chinese auf Englisch an. „Wie fanden Sie die Ausstellung?“, fragt er. Ich zögere. „Etwas parteiisch“, sage ich. „Da haben Sie recht“, antwortet er lächelnd, „aber nicht ganz so parteiisch wie der westliche Blick auf Tibet, oder?“ Wieder zögere ich. „Doch“, sage ich dann, „noch parteiischer“. Der Mann nickt. „Sie haben das Recht auf Ihre eigene Meinung.“ Dann lässt er mich stehen.

Man muss den Chinesen lassen, dass sie unsere Vorurteile besser kennen als wir die ihren.

Bisher trainierte Müh-Ling: Zählen (7. 7), Maoismus (12. 7), Entschuldigungen (14. 7.), den Magen (16. 7.). Als Nächstes: Radfahren
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 21.07.2008)

Masse und Macht (Tagesspiegel)

Masse und Macht
Noch 11 Tage bis Olympia. Müh-Ling trainiert heute: Radfahren.
Man sagt gerne, China stehe mit einem Bein im 19. und mit dem anderen im 21. Jahrhundert. An vielerlei lässt sich diese Spagatmetapher festmachen: verwitterte Ziegeldächer neben funkelnden Wolkenkratzern, Pferdekarren, turmhoch beladen mit Flachbildfernsehern, KFC und Konfuzius, Marx und McDonald’s.

Nicht fehlen dürfen in solchen Aufzählungen die omnipräsenten Fahrräder, die gerne in Kontrast zum Transrapid in Schanghai gesetzt werden, dem schnellsten Personenzug der Welt. Vollkommen ungerechtfertigt wird das Fahrrad in solchen Bildern zur Rücktrittbremse der chinesischen Modernisierung stilisiert – obwohl es das chinesischste aller Verkehrsmittel war, ist und bleibt. China steht auf Pedalen. Mit beiden Beinen.

Wie sonst wäre zu erklären, dass in der explodierenden Irrsinnsmetropole Peking jeder noch so verschlungene Verkehrsknoten penibelst mit Fahrradspuren ausgestattet wird? Mehrere Meter breit schlängeln sich diese Pfade durch Tunnel unter Straßenkreuzungen hindurch, auf Stelzen über Autobahnen hinweg, nicht selten auch quer durch den Pkw-Strom hindurch. Da komme ich nie rüber, denkt der Ausländer, wenn er zum ersten Mal mit dem Rad vor einer zehnspurigen Trasse steht, deren andere Seite nur verschwommen hinter Lkw-Kolonnen und Smogwolken zu erahnen ist.

Durch aber kommt man immer – solange man ein paar simple Grundregeln beachtet, die der fahrradfahrende Chinese den soziopolitischen Verkehrsregeln seines Landes entlehnt. Mit dem Strom schwimmen, lautet die erste dieser Devisen. Mag beim ersten Hinsehen der Eindruck entstehen, im heutigen China komme nur voran, wer sich möglichst rücksichtslos durchdrängelt, so entlarvt genaueres Hinsehen diese Strategie als grundverkehrt. Wer voranprescht, begibt sich in Gefahr. Gleiches gilt für den, der zurückbleibt. Der kluge Radler schmiegt sich in den Strom. Stetig sei das Auf und Ab seiner Pedale, nie bremse er ruckartig, auch meide er hektische Sprints. Nur wer sich treiben lässt im weisen Mittelmaß der Zweiradkarawane, den wird sie sicher ans Ziel geleiten.

Zweite Regel: Die Regierung steht über dem Gesetz. Der Radfahrer poche nicht auf schriftlich verbürgte Rechte, wo ihnen mündliche Anordnungen von Autoritätspersonen entgegenstehen. Wenn die Fahrradampel rot ist, der Verkehrslotse aber zur Weiterfahrt drängt, so ist dem Folge zu leisten, alles andere wäre lebensgefährlich. Die Ampel ist dumm, sie kennt nur Rot und Grün – dem Menschen aber ist kein Grauton fremd. Gerade für Ausländer sind die omnipräsenten Lotsen mit ihren knallroten Chinaflaggen eine nützliche Orientierungshilfe. Wer gedankenlos auf eine grüne Ampel zurollt, weil er das von zu Hause nun mal so gewohnt ist, bekommt umgehend die Flagge gezeigt – und weiß sofort, wo er sich befindet: rot, China, stopp, nicht Rechtsstaat, sondern Volksrepublik.

Dritte Regel: Die Vorfahrt gehört der Masse. Wer links abbiegen will und dazu eine mehrspurige Autotrasse queren muss, der suche sich Gleichgesinnte. Erst, wenn sich eine kritische Masse von Linksabbiegern versammelt hat, wird die Kreuzung eingenommen, Reifenbreite für Reifenbreite, Pedal um Pedal. Durch ein wütend brandendes Meer aus Blech bahnt sich dann die Zweiradkolonne unaufhaltsam ihren Weg, und wer Teil eines solchen Triumphzuges ist, wer innerlich jubelnd dem Fluchen der Kraftfahrer lauscht, der spürt ein unbeschreibliches Glücksgefühl in sich aufsteigen: die Macht der Masse. Wir könnten jetzt, sagt dieses Gefühl, immer so weiterrollen, und nichts kann uns stoppen. Die geballten Streitkräfte der Nato, gegen 1,3 Milliarden fahrradfahrende Chinesen wären sie machtlos.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 28.07.2008)

Saturday, July 26, 2008

Sonntag ist Schlachttag (taz)

26.07.2008
Schrift
Gemüseschlacht auf der Oberbaumbrücke
Sonntag ist Schlachttag
Nach dreijähriger Pause gehen Kreuzberger und Friedrichshainer wieder mit Glibber und Gemüse aufeinander los. Auf der Oberbaumbrücke hoffen die Kreuzberger auf einen historischen Sieg. VON MARTIN KAUL

Verfaulte Mettwürste über Totalveganern ausdrücken, fremden Menschen mit eigens kultiviertem Faulwasser die Haare waschen, mit schimmeligen Brotbelägen den Nebenmann füttern - das alles sind keine perversen Fantasien. Am Sonntag ab 12 Uhr herrscht auf der Oberbaumbrücke Krieg. Nach dreijähriger Abstinenz rüstet die Berliner Ekelavantgarde wieder zur Wasserschlacht auf.

Zu klären sind die Gebietsstreitigkeiten über die Hoheitsgewalt von Friedrichshain-Kreuzberg, die mit den Plänen zur Berliner Bezirksgebietsreform Ende der 90er-Jahre ihren Ausgang nahmen. Seitdem beanspruchen die Gemüsesöldner beider Kieze die Gesamthoheit jeweils für sich. Kreuzberg gilt für Friedrichshainer als Unterfriedrichshain; umgekehrt heißt Friedrichshain in der Oranienstraße nur Ostkreuzberg - beides freilich als Ausdruck des Protestes gegen die Berliner Annexionspolitik.
");
Dabei könnte es in diesem Jahr schwer für die Kreuzberger Brigaden werden, die in den vergangenen Kämpfen durch die Kreuzberger Patriotischen Demokraten/Realistisches Zentrum (KPD/RZ) vertreten waren und zusätzlich mit Unterstützung aus Neukölln rechnen konnten. Nach taz-Informationen ist die revolutionär-demokratische Riege der KPD/RZ mittlerweile geschlossen in den Untergrund gegangen. Die Nachfolgeorganisation Freier Kreuzberger Heimatschutz (FKH) hat die Kampfleitung aufgenommen.

Außerdem haben die ehemaligen Neuköllner Sympathisanten ihre Abspaltung erklärt. Nach jahrelangen Solidaritätskämpfen an der Seite der Kreuzberger Obstverwerter fühlt sich eine Neuköllner Minderheit nun bedroht von der "Yuppisierung" des Nachbarkiezes - und will diese aktiv bekämpfen. Am letzten Sonntag überfiel die Anti-Dehydration League Neukölln (ADLN) die Kreuzberger bereits an der Thielenbrücke. Für Sonntag hat die ADLN angekündigt, den Kreuzbergern bei der großen Schlacht an der Oberbaumbrücke in den Rücken zu fallen. Das wäre gar nicht nötig, denn aufgrund der massiven Armeepräsenz der Wasserarmee Friedrichshain (WAF) konnten die diversen Kreuzberger Bündnisse auch sonst noch nie einen Sieg für sich verbuchen - auch wenn die Kreuzberger Faulveteranen das gerne anders darstellen.

Doch trotz kampfbetonter Großbezirkansprüche hegen beide Bezirke auch gemeinschaflich separatistische Ziele. Denn bei allem Hass, der die Kiezparteien trennt, vereint sie doch eine aufrührerische Ablehnung gegen die staatliche Autorität: Als die Gesamtberliner Polizei im Jahr 2004 Auflagen erteilte und das Mitbringen von Weichmachern und Wurfgeschossen unterbinden wollte, flogen die Stinkbomben, Wackelpuddings und Gemüsegeschosse vereint auf die übergeordneten Ordnungshüter. Die Folge: eine Unordnung, die den Uniformierten den Rückzug bescherte - und dem Polizeipräsidenten später eine öffentliche Kapitulation im Innenausschuss abnötigte. Seitdem hält sich die Polizei zurück und kommentiert gegenüber der taz pflichtbewusst: "Unser Auftrag ist es, die angekündigte Kundgebung zu schützen."
Damit die Polizei nicht in zu große Versuchung gerät, dies offensiv zu tun, haben die Kommandostäbe bereits eigene Maßnahmen angekündigt: Erstmals wird es Wurfgeschosskontrollen und eigene Ordnungshüter auf dem Kampffeld geben, auch um sicherzustellen, dass wirklich nur weiche und glitschige Materialien Verwendung finden. Zuletzt war es vereinzelt auch zu Flaschenwürfen gekommen. Erlaubt ist nur Wasser, Mehl - und alles, was weich und glitschig ist.

Wasser- und Gemüseschlacht auf der Oberbaumbrücke, Sonntag ab 12 Uhr

Friday, July 18, 2008

Energiezwerg Russland (fr)

Sprit- und Strompreise
Energiezwerg Russland
VON ALEXEI GRIGORJEW UND WLADIMIR TSCHUPROW

Russischer Kohle-Kumpel (rtr)
In Russland beträgt der Anteil erneuerbarer Energien am Endenergieverbrauch knapp zwei Prozent und wird sich im kommenden Jahrzehnt kaum erheblich erhöhen. Und dies, obwohl Russland über kein geringeres Potenzial an erneuerbaren Energien verfügt als die EU oder China. In fast allen Teilen Russlands gibt es drei Arten erneuerbarer Energiequellen, die schon heute ökonomisch effizient genutzt werden könnten: Windenergie, kleine Wasserkraft und Biomasse.

Insgesamt liegt die Menge ökonomisch nutzbarer erneuerbarer Energien in Russland bei über 300 Millionen Tonnen Öläquivalent. Damit könnte ein Drittel des Primärenergiebedarfs Russlands gedeckt werden. Allerdings wird dieses Potenzial selbst nach optimistischen Schätzungen nur zu sieben Prozent ausgeschöpft, so dass derzeit Primärenergie aus regenerativen Energien in Höhe von etwa 22 Millionen Tonnen Öläquivalent produziert wird. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die Produktion von Wärmeenergie aus Biomasse, anders gesagt: um Holzfeuerung.

Moderne Technologien werden bei der Verbrennung von Biomasse wie auch bei anderen erneuerbaren Energien nur sehr wenig genutzt, obwohl die UdSSR in diesem Bereich einst an der Spitze der technologischen Entwicklung stand. Vor dem Hintergrund des weltweiten Booms der Windenergie - der Markt für Windkraftanlagen wuchs im Jahr 2006 weltweit um 32 Prozent - ist insbesondere der Niedergang des russländischen Windkraftanlagenbaus frappierend. …

Alle Beschlüsse der letzten 20 Jahre, in Russland erneuerbare Energien stärker zu nutzen und die Energieeffizienz zu steigern, zeitigten nur sehr bescheidene Resultate. Wenn es überhaupt Ansätze für eine energiepolitische Wende gab, so bestanden sie nur auf dem Papier. Alle Ankündigungen, die Russland international machte - etwa bei den Gipfeltreffen der G8-Staaten - blieben Lippenbekenntnisse.

Der letzte Versuch, den Ausbau erneuerbarer Energien staatlich zu fördern, datiert aus dem Jahr 2002. Das damals verabschiedete Programm "Energieeffiziente Wirtschaft", thematisierte unter anderem die Energieversorgung des russländischen Nordens.

Es sah vor, bis zum Jahr 2010 in jenen entlegenen Gebieten im Norden, in Sibirien und im Fernen Osten, die nicht an das zentrale Strom- und Wärmenetz angeschlossen sind, mit erneuerbaren Energien betriebene Strom- und Wärmekraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 1000 Megawatt bei Strom und 8200 Megawatt bei Wärme zu errichten. Obwohl der Löwenanteil der Investitionssumme - 99 Prozent der veranschlagten sieben Billionen Rubel - auf die Instandhaltung von Atomkraftwerken und den Ausbau der Öl- und Gasförderung fallen sollten, war wenigstens die Idee der Nutzung erneuerbarer Energien aufgekommen.

Doch im Jahr 2005 wurde das ganze Programm mit fadenscheinigen Begründungen eingestellt. Freilich hat die Regierung ein neues Programm für erneuerbare Energien angekündigt. Doch wann dieses verabschiedet wird, steht in den Sternen. Auch die Verabschiedung eines seit langem angekündigten Energiesparprogramms wird immer wieder hinausgeschoben, gegenwärtig soll es im Jahr 2010 in Kraft treten.

Als Grund für die Rückständigkeit Russlands bei der Nutzung erneuerbarer Energien wird daher meist genannt, dass es kein Gesetz zu ihrer Förderung gebe. Zweifellos spielt all das eine Rolle. Doch die eigentliche Frage lautet: Warum gibt es ein solches Gesetz nicht?

Grünbuch (pdf, 220 KB)
Eine erhebliche Rolle spielen die großen Vorräte an den fossilen Energieträgern Erdgas, Erdöl und Kohle. Die russische Führung sieht keinen Anlass zu einer energiepolitischen Wende. Manche sehen in erneuerbaren Energien sogar eine unliebsame Konkurrenz für Russlands fossile Energieträger, deren Export so wichtig für das Land ist. Über die Nutzung regenerativer Energien wird, wenn überhaupt, nachgedacht, wenn es darum geht, wie der Binnenverbrauch von Erdöl und Erdgas gesenkt werden kann, um die Erlöse aus dem Öl- und Gasexport weiter zu steigern.

Hinzu kommt, dass die zu Zeiten der Sowjetunion errichteten Großkraftwerke für eine zentrale Versorgung riesige Kapazitäten geschaffen haben. Damit wird ein energiepolitischer Pfadwechsel enorm erschwert: Die mächtige Atom- und die Kohleindustrie sowie die Betreiber der großen Wasserkraftwerke sind nicht am Ausbau erneuerbarer Energiequellen interessiert, sondern an der staatlichen Subventionierung ihres Sektors. Wie erfolgreich diese Sektoren um staatliche Mittel werben, hat sich erst im Dezember 2007 wieder gezeigt, als die Regierung beschloss, den Kohleabbau in einer Grube in der Republik Tuwa mit mehr als zwei Milliarden US-Dollar aus dem Investitionsfonds zu fördern.

Eine weitere, weniger offensichtliche Ursache dafür, dass selbst kleine Projekte wie die Errichtung von kombinierten Wind-Diesel-Anlagen zur Versorgung entlegener Siedlungen im Hohen Norden scheitern, sind staatliche Transfergelder und die mit ihnen verbundene Korruption. Die hochsubventionierte Belieferung der Außenposten im Hohen Norden mit Energie ist ein Feld für systematische Unterschlagungen und Korruption. An der Erhaltung des Status quo sind ein ganzer "informeller" Wirtschaftszweig sowie die eng mit diesem verbundenen korrupten Beamten interessiert.

Die Aussichten für die erneuerbaren Energien sind also wenig rosig. Seit Ende 2007 gibt es jedoch einen Hoffnungsschimmer. Dank der Lobbyarbeit des nationalen Stromversorgers EES Rossii wurden bei der Novelle des Elektrizitätswirtschaftsgesetzes, die im Herbst 2007 durch die Duma und den Föderationsrat gepeitscht wurde, einige Bestimmungen aufgenommen, die auf die Förderung erneuerbarer Energien zielen.Grund für die Eile war, dass Mitte 2008 EES Rossii umstrukturiert werden soll. In dem neuen Gesetz werden erneuerbare Energien in mindestens vier Artikeln erwähnt. Das ist ein enormer Fortschritt, fiel doch das Wort "erneuerbar" in der Fassung des Gesetzes aus dem Jahr 2003 kein einziges Mal. Allerdings bleiben die staatlichen Maßnahmen zur Förderung erneuerbarer Energien vage: Gemäß Art. 21 der neuen Fassung des Gesetzes legt die Regierung- Ziele für die Produktion und den Verbrauch von Strom aus erneuerbaren Energien fest, beschließt Pläne zur Erreichung dieser Ziele und fördert die Nutzung erneuerbarer Energien; - Kriterien für die Bereitstellung von Subventionen aus dem Staatshaushalt fest, um den Anschluss von Kraftwerken, die eine Kapazität von maximal 25 Megawatt haben und mit erneuerbaren Energien betrieben werden, an das landesweite Stromnetz zu finanzieren; - auf der Basis des Strompreises auf dem Großhandelsmarkt einen zusätzlichen Vergütungssatz für Strom aus erneuerbaren Energien sowie verbindliche Ankaufsmengen fest.

Da der Regierung keine Vorgaben gemacht werden, in welchem Zeitraum, wie konkret und in welchem Umfang sie erneuerbare Energien fördern wird, gleichen die Aufforderungen zum Ausbau regenerativer Energien einer Sammlung frommer Wünsche. Die einzige Bestimmung, die den Einsatz erneuerbarer Energien konkret verlangt, betrifft Verluste in den Stromnetzen, welche die Netzgesellschaften in erster Linie durch Strom aus regenerativen Energien kompensieren müssen. Allerdings gibt es auch hier zahlreiche Schlupflöcher. So ist mit einer Regierung, die bisher keinerlei Neigung gezeigt hat, die Nutzung erneuerbarer Energien zu fördern, von dem neuen Gesetz nicht viel zu erwarten.Vollends könnte der Fortschritt, den es gebracht hat, zunichte gemacht werden, wenn der Strom aus großen Wasserkraftwerken der Energie aus erneuerbaren Quellen zugeschrieben wird. Dann könnte, was unter dem Namen Förderung der regenerativen Energien firmiert, auf eine Subventionierung hydroenergetischer Megaprojekte hinauslaufen.

Doch auch wenn der Staat untätig bleibt, spricht vieles dafür, dass sich der Anteil erneuerbarer Energien an der Primärenergieproduktion in Russland in den nächsten Jahrzehnten erhöhen wird. Zum einen sorgen die steigenden Preise für fossile Brennstoffe auf dem Binnenmarkt dafür, dass jene Siedlungen in entlegenen Gebieten, die nicht an die zentralen Energienetze angeschlossen sind, ihre Energieversorgung umstellen müssen, wenn sie nicht ganz aufgegeben werden. Zum anderen werden sich auch in den urbanen Zentren immer mehr Hausbesitzer mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass die fossilen Energieträger endlich sind und die Wärme und Stromversorgung aus dieser Quelle daher immer teurer und unsicherer wird. Das Ende des fossilen Zeitalters wird kommen, und mit ihm das energiepolitische Umdenken auch in Russland.

Grünbuch.Politische Ökologie im Osten Europas. Themenheft der Monatszeitschrift Osteuropa, Berlin. 496 Seiten, 28 Euro.



Die AutorenWladimir Tschuprow ist Physiker, Energiereferent und Mitarbeiter von Greenpeace Russland in Moskau.Alexei Grigorjew ist Biologe, Energieexperte der Sozialökologischen Union und Pressesprecher der russischen Vertretung der Internationale Union for Conservation of Nature and Natural Resources in Moskau.Der dokumentierte Beitrag ist dem Grünbuch Osteuropa entnommen. Übersetzt aus dem Russischen wurde er von Vera Ammer, Euskirchen.

Die Tragödie an der Teufelswand (SZ)

17.07.2008 16:25 Uhr
Tod in der Eisspalte
Die Tragödie an der Teufelswand
Der Extrem-Bergsteiger Karl Unterkircher steckt in einer Gletscherspalte am Nanga Parbat, seine Gefährten mussten ihn zurücklassen - es gibt keine Rettung mehr.Von Julius Müller-Meiningen

Der Extrem-Bergsteiger Karl Unterkircher steckt in einer Gletscherspalte am Nanga Parbat, seine Gefährten mussten ihn zurücklassen - es gibt keine Rettung mehr.

Es heißt, sie mussten weiter steigen. Einfach weiter. Womöglich hängen Walter Nones und Simon Kehrer noch immer in der Wand, die ihrem Freund Karl Unterkircher zum Verhängnis wurde.

Mittwochfrüh telefonierten Kehrer und Nones per Satellitentelefon nach Südtirol und berichteten von dem Unglück, das sich in der Nacht zuvor zugetragen hatte: Der bekannte Extrem-Bergsteiger und Bergführer Unterkircher war bei der Erstbesteigung der Rakhiot-Wand des 8125 Meter hohen Nanga Parbat in Pakistan auf einem Schneebrett abgerutscht und in eine Gletscherspalte gestürzt.

Sie hätten versucht, so berichteten Kehrer und Nones, ihren unter dem Schnee verschütteten Begleiter zu befreien. Es sei ihnen nur gelungen, Unterkircher das Telefon abzunehmen. Mehrere verzweifelte Versuche, den Verunglückten zu bergen, seien fehlgeschlagen.
"Wir können nicht zurückkehren, von wo wir gestartet sind. Das wäre zu gefährlich. Wir sind auf circa 6400 Meter und müssen weiter nach oben, um dann aus der Wand zu steigen", habe Walter Nones am Telefon zu seiner Frau gesagt. Dann brach die Verbindung ab.

Mindestens drei Tage soll es dauern, bis die Überlebenden über die lebensgefährliche Route im Basislager ankommen. "Nones und Kehrer sind jetzt nicht mehr erreichbar." So steht es auf Karl Unterkirchers Webseite geschrieben.

Freunde von Karl Unterkircher haben eine Hilfsexpedition zur Rettung der beiden Bergsteiger auf der Steilwand gestartet. Inwieweit den Männern geholfen werden kann, ist unklar. Für Unterkircher gibt es keine Rettung.

Der bekannte Extrem-Bergsteiger Unterkircher war bei der Erstbesteigung der Rakhiot-Wand des 8125 Meter hohen Nanga Parbat in Pakistan auf einem Schneebrett abgerutscht und in eine Gletscherspalte gestürzt.

"Leider können wir für Karl im Moment überhaupt nichts tun. Es ist uns unmöglich, den Punkt zu erreichen, wo er abgestürzt ist", sagte ein Freund des Verunglückten, Agostino Da Polenza. Der Unfallort scheint für Hilfsaktionen zu entlegen, selbst der Einsatz eines Hubschraubers ist wegen der steilen Wand unmöglich.

Der 38-jährige Unterkircher hinterlässt drei Kleinkinder und seine Frau Silke. "Sie haben bestimmt alles getan, um ihn zu retten. Soviel ich weiß, gibt es kaum Hoffnungen", sagte sie einem italienischen Fernsehsender. Bergsteigen sei eben das gewesen, was Karl liebte.

Reinhold Messner, dessen Bruder Günther wie 61 andere Kletterer am Nanga Parbat ums Leben kam, bezeichnete Unterkircher einmal als "neuen Stern am Bergsteiger-Himmel". Die Besteigung der Rakhiot-Wand am neunthöchsten Gipfel der Welt sollte nur eine weitere Etappe des aus dem Grödnertal stammenden Bergführers sein.

"Der Berg ruft"
Allein 40 Erstbesteigungen in den Dolomiten gehen auf Unterkircher zurück; 2004 ließ er sich ins Guinness-Buch der Rekorde eintragen, weil er als Erster innerhalb von 63 Tagen die beiden höchsten Gipfel der Welt, den Mount Everest und den K2, ohne Sauerstoffflaschen bestiegen hatte. Eine lebensgefährliche Jagd nach Rekorden, die nicht erst seit dem Unglück vor wenigen Tagen auf der Zugspitze die Diskussionen anheizt. Am Sonntag waren zwei Extremsportler nach einem Wettlauf auf den höchsten deutschen Berg gestorben.

"In meinem Verantwortungsbewusstsein empfinde ich so etwas wie Furcht, ich denke oft an zu Hause, an meine Lieben. Das Beste, um sicherzugehen und Unvorhergesehenes zu verhindern, wäre natürlich, aus diesem Projekt auszusteigen", schrieb Unterkircher drei Tage vor seinem Absturz in seinem Blog - und stieg weiter auf.

Die Anziehungskraft des Berges war wohl zu groß. Zwischen Furcht und Verklärung pendeln Unterkirchers auf seiner Internetseite nachzulesende Einträge. Von einer "verwunschenen zerklüfteten Eiswand mit den vielen Gletscherspalten", einer "Märchenwelt" ist da die Rede.
Selbst die Furcht wird mystifiziert: "Sicher verursacht diese Wand schon seit Jahrzehnten Angst und Zittern im ganzen Tal und fordert die Einheimischen zu Respekt und Heiligkeit auf. Diese trotzige Teufelswand ließ mich schon am ersten Tag unserer Ankunft nicht in Ruhe, sie macht mich unschlüssig und skeptisch. Es ist wahrhaftig eine gefährliche Mission!"

Bis zu zwölf Stunden berechneten die drei Bergsteiger für die Besteigung der 3000 Meter hohen Steilwand aus Eis. Es klingt wie ein Vermächtnis, als Karl Unterkircher am 28. Juni in sein Tagebuch einträgt: "Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Eiswand genau während unseres Hochsteigens loslöst, ist minimal. . . Ich bin mir bewusst, dass die breite Öffentlichkeit nicht meine Meinung teilt, denn sollten wir wirklich nicht mehr zurückkehren, würden viele sagen: "Was haben sie denn dort nur gesucht? . . . Aber eine Sache steht fest, wer keinen Kontakt mit dem Berg findet, wird es auch nie erfahren. Der Berg ruft!"
(SZ vom 18.7.2008)

Halbmond auf Halbmast (taz)

18.07.2008
Schrift
die wahrheit
Halbmond auf Halbmast
Kreuzberg trägt Trauer. Wie viele Viertel, in denen Menschen mit Miracoli-Hintergrund leben. Dort weht der Halbmond auf Halbmast. Denn ... VON MICHAEL RINGEL

Kreuzberg trägt Trauer. Wie viele Viertel, in denen Menschen mit Miracoli-Hintergrund leben. Dort weht der Halbmond auf Halbmast. Denn der Ölpreisschock hat sein erstes Opfer gefunden: den BMW-Türken.

Seit Wochen schon hatte er sich rar gemacht auf den Straßen, trat an den Kreuzungen kaum mehr in Erscheinung, der prächtige Kerl mit seinen kecken Goldkettchen um den Hals. Sonst ließ er an jeder roten Ampel den Motor aufheulen; winkte beim Kickstart den Kindern auf den Schulhöfen freundlich zu; bretterte mit 100 Sachen durch die Tempo-30-Zone; jagte fröhlich hupend Rolator-Omas über den Zebrastreifen; ließ sommers wie winters seinen muskulösen Arm lässig aus dem Autofenster hängen, aus dem gar köstliche Klänge drangen: umpfff zwirbel, umpfff zwirbel …

Früher da eröffnete Vater Türk einen Gemüseladen, leaste einen Geschäftswagen und übergab den BMW dann dem ganzen Stolz seiner Familie, dem Erstgeborenen, der fortan Abend für Abend seine Runden drehte zwischen McDonald's und McFit. Heutzutage aber fließen bittere Tränen statt Benzin und Super, die zu teuer geworden sind für den jungtürkischen Liebhaber bayerischer Riesenkutschen. Immer mehr Limousinen werden derzeit aus Kostengründen zurückgegeben oder stillgelegt, heißt es in Autohändlerkreisen. An Neuverkäufe der Luxusschlitten sei gar nicht zu denken.

Nun sitzt der bedauernswerte BMW-Türke daheim fest, denn zu Fuß fortbewegen würde er sich nie. Schlimmer wäre nur, von Freunden in einer japanischen Zwergenschleuder gesehen zu werden. Aber das wird nie geschehen, denn BMW ist sein Leben. Der Fünfer-BMW wird nicht grundlos "Türkenblitz" genannt. Wie klänge denn das Umpfff-Gezwirbel auch aus den schwachen Boxen eines Kleinwagens?

Gerade erst hatte der BMW-Türke den ersten existenziellen Schock seines Lebens verarbeitet. Sein Elfterseptember fand im Dezember 2002 statt, als im Ärmelkanal der Autotransporter "Tricolor" nach einer Kollision mit einem anderen Schiff sank und 3.000 nagelneue BMW mit sich in die Tiefe riss. In Kreuzberg wurden Trauerseminare eingerichtet. Schwarze Schleifen an Rückspiegeln prägten lange Jahre das Bild der türkischen Autogemeinden zwischen Berlin und Istanbul.

Quo vadis, Freund Jungtürke?, fragen sich jetzt nicht nur deutsche Fußgänger und befürchten weitgehende Folgen für den sozialen Frieden in Deutschland. War der BMW dem Deutschländer doch immer auch ein Ventil, mit dem er überschüssige Hormone in Zylinder umleiten konnte. Steht der BMW-Türke also am Scheideweg? Wird er umschulen auf Hybridauto? Oder wird er auf das schrecklichste Fortbewegungsmittel umsteigen, das er sich überhaupt nur vorstellen kann? Einen Volkswagen?

Da könne er ja gleich deutsche Volksmusik hören, sagt sich der zutiefst verunsicherte Bosporus-Bleifuß. Seinen fellbesetzten Autositz hat er ausgebaut und sich beleidigt in sein von Wehklagen und Wandteppichen verhangenes Schneckenhaus zurückgezogen. Dort träumt er von seiner großen Vergangenheit und einer glücklichen Zeit, als er abends noch mächtig rumseldschukte in seinem "Busen müssen wackeln", abgekürzt: BMW.

die wahrheit auf taz.de

Tuesday, July 15, 2008

Epochaler Wahnsinn (taz)

Epochaler Wahnsinn
Rafael Nadal entthront in einem dramatischen Finale den langjährigen Maestro von Wimbledon. Die Niederlage von Roger Federer markiert den Beginn einer neuen Zeitrechnung in der Tenniswelt. VON DORIS HENKEL

WIMBLEDON taz Fehlte nur noch, dass der Kerl da oben auf dem Flachdach der Fernsehkabine die Arme ausgebreitet und den 15.000 Leuten in der von zuckenden Blitzlichtern durchsetzten Dunkelheit zugerufen hätte: Ich bin der König der Welt! Aber so was hätte er nie getan; schließlich war er auf dem Weg zum Thronfolger seines Landes, dem Kronprinzen Felipe. Dennoch hätte es gestimmt, denn nach dem Ende eines epochalen, völlig wahnsinnigen Spiels war Rafael Nadal nichts weniger als der neue Souverän.

Von den Dingen, die sich an diesem Sonntag zwischen halb drei und viertel nach neun auf Wimbledons Centre Court zutrugen, werden alle, die dabei waren, ihren Kindern und Enkeln noch erzählen. Mehr an Drama, mehr an Stärke und Beharrlichkeit, mehr an atemberaubendem Wechsel der Strömungen kann in einem Spiel kaum enthalten sein. Und erst recht nicht mehr von der Herausforderung an die Helden des Dramas, mit all dem umzugehen.

Als Nadal auf dem Dach stand, hockte Roger Federer unten auf dem dunklen Centre Court auf einem Stuhl, und sein Blick verlor sich im Nirgendwo. Später sagte er, diese ersten Momente seien nicht die schlimmsten, die nehme man kaum wahr. Aber es war in diesem Moment schon klar, dass ihn die Niederlage mitten ins Herz getroffen hatte. Seine Serie von fünf Titeln, das Gefühl, bei diesem Turnier und auf diesem Platz der bewunderte und verehrte Champion zu sein, hatte ihm immer mehr bedeutet als alles andere in der Welt des Tennis.

Er wusste, dass er sich nicht beschweren durfte über die Niederlage in fünf Sätzen (4:6, 4:6, 7:6, 7:6, 7:9) nach vier Stunden und 48 Minuten im längsten Finale der Geschichte Wimbledons. Denn hätte Nadal alle Chancen genutzt, unter anderem schon Mitte des dritten Satzes, dann wäre das Spiel vielleicht schon vor der ersten Regenpause zu Ende gewesen. Aber offenbar hatte sich der Himmel vorgenommen, ein Schauspiel zuzulassen, wie es das im nächsten Jahr und denen danach nie mehr geben wird. Mit einem Dach über dem Centre Court wären dem Spiel ein verspäteter Beginn und zwei Regenpausen erspart geblieben, aber es hätte eben auch jener dramatische Moment der Verzögerung gefehlt und die schillernde halbe Stunde am Schluss in der hereinbrechenden Dunkelheit. Am Ende, sagt Federer, habe er kaum noch erkannt, gegen wen er spiele, und Nadal meinte: "Als ich zum Match aufgeschlagen habe, hab ich nichts mehr gesehen".

Er musste nichts sehen, er konnte sich blind auf seinen Instinkt verlassen. Und auf seine offenbar angeborene Fähigkeit, sich von keiner Situation aus der Ruhe bringen zu lassen. Wie konnte er schaffen, die Unterbrechungen und die beiden vergebenen Matchbälle im Tiebreak des vierten Satzes wegzustecken? Das sei gar nicht schwer gewesen, versicherte er. "Nachdem ich den vierten Satz verloren hatte, hab ich mich hingesetzt und gedacht: Ich spiele gut, ich bin gut drauf, ich werde so weitermachen, und dann sehen wir ja, was passiert". Gegen diese mentale Stärke, gegen diese gottgegebene jugendliche Gelassenheit stand der bisweilen zögernde Zauberer Roger Federer auf verlorenem Posten.

Er wird lange brauchen, um sich von dieser Niederlage, der zwölften im 18. gemeinsamen Spiel, zu erholen. Unendlich länger jedenfalls als nach der überaus klaren Niederlage vor vier Wochen im Finale der French Open. "Paris war gar nichts", sagte er eine Stunde nach der Niederlage mit einer Spur von Tränen in den Augen, "das hier ist ein Desaster". Er war untröstlich und wäre vermutlich am liebsten irgendwo in der Dunkelheit verschwunden. Um auch die Diskussion nicht zu hören, ob die erste Niederlage an dieser Stelle nach sechs Jahren so etwas wie eine Zeitenwende sei. Ein Ereignis wie seinerzeit 1981 die erste Niederlage nach fünf Titeln von Björn Borg gegen den aufmüpfigen, stürmischen John McEnroe.

Die Nummer eins des Tennis wird er auf dem Papier zunächst mal bleiben. Aber erst in ein paar Wochen, gibt Federer zu bedenken, könne man Genaueres zu den Machtverhältnissen sagen, nach den Olympischen Spielen und den US Open. Als er am Montagmorgen nach einer kurzen und vermutlich nicht besonders schönen Nacht aus dem Fenster blickte, zeigte Wimbledon dem entthronten Maestro noch mal die kalte Schulter; es regnete in Strömen. So ist das nun mal: Nichts hält für alle Ewigkeit; das kleine Glück wird täglich neu verhandelt. Vielleicht wird es darin bestehen, das Bild des Turners auf dem Dach nicht allzu oft im Traum zu sehen.

Tuesday, July 08, 2008

Bittere und süße Tränen nach dem Wimbledon-Finale

07.07.2008
Bittere und süße Tränen nach dem Wimbledon-Finale
London (dpa) - Als Rafael Nadal im Gras lag und heulend vor Glück alle Viere von sich streckte, war das Geschichtsbuch des Tennis um eines seiner ruhmreichsten Kapitel dicker.

Im vielleicht besten Endspiel auf dem «Heiligen Rasen», auf jeden Fall aber dem längsten Wimbledon-Herrenfinale, zerstörte der muskelbepackte Tennis-Held aus Mallorca brutal und ohne mit der Wimper zu zucken Roger Federers Traum vom sechsten Triumph in Serie. Der Schweizer hätte damit den legendären Björn Borg als Rekordhalter übertrumpft. Doch als das Licht ausging, stand der Branchenprimus im Londoner Regen und musste nach 4:48 Stunden mit 4:6, 4:6, 7:6 (7:5), 7:6 (10:8), 7:9 seine schlimmste Niederlage überhaupt hinnehmen. In der Weltrangliste rückte Nadal bis auf 550 Punkte an ihn heran.

«Daran werde ich noch lange zu knabbern haben», sagte der gestürzte Rasen-König. Seine großen Ziele für 2008 sind nun Gold bei den Olympischen Spielen und direkt danach der erste Grand-Slam-Sieg des Jahres bei den US Open. Wie in Trance erlebte Federer die Minuten nach dem Matchball, den er in der beginnenden Dunkelheit von Wimbledon kaum noch gesehen und ins Netz geschlagen hatte. Wie ein Gentleman gratulierte er Nadal und sackte gedankenverloren auf seinen Stuhl. Die Hände vors Gesicht gepresst, begann er still zu weinen.

Auf der anderen Seite turnte Nadal hinauf zu seiner Familie in die Spielerbox und balancierte auf dem Dach der Sprecherkabine zur königlichen Loge, wo Spaniens Kronprinz Felipe und dessen Frau Letizia schon warteten. «Der Kronprinz war schon häufiger bei meinen Spielen», erzählte der viermalige French-Open-Sieger. Dass er seinem Land nur acht Tage nach der Fußball-Europameisterschaft den nächsten Triumph geschenkt hatte, machte ihn doppelt froh.

In den britischen Zeitungen verdrängte das «epische Match» sogar den Formel-1-Sieg Lewis Hamiltons in Silverstone von den Titelseiten. «Nadal ist der Triumphator von Wimbledon», titelte die «Times», und der «Observer» schrieb von einem «historischen Finale, in dem Federers Traum vorüberging». In markigen Lettern erkor die «Sun» den Spanier zum «Größten» und fabulierte: «Beeindruckender Nadal beendet die Regentschaft von King Roger». Im «Independent» schließlich hieß es: «Nadal ist der Triumphator nach unvergesslichem Wimbledon-Drama.»

Der nach 65 Siegen auf Rasen erstmals wieder geschlagene Federer war geschockt wie noch nie nach einem Tennis-Match. Seine roten Augen, die leise Stimme und der traurige Blick verrieten, was in ihm vorging. «Ich habe alles versucht. Aber ich bin immer ein bisschen zu spät gewesen. Schauen sie, Rafa ist ein verdienter Champion. Er hat ganz einfach fantastisch gespielt.»

Den einen kleinen Tick war der 22-Jährige, der als erster Spanier nach Manuel Santana 1966 den goldenen Pokal umarmen durfte, besser. Vor allem war er schneller aus den Startlöchern gekommen. «Ich habe die ersten beiden Sätze gewonnen und dann zweimal den Tiebreak abgegeben. Warum sollte ich deshalb nervös werden», sagte Nadal ganz locker und bedankte sich artig bei Federer. «Er zeigt eine großartige Haltung, wenn er gewinnt, aber auch, wenn er verliert. Er ist die Nummer eins und hat hier fünf Mal gewonnen. Ich erst ein Mal.»

Einig waren sich beide, dass die einsetzende Dunkelheit am Ende des Matches eine Zumutung war. «Als ich zum Match servierte, habe ich nichts mehr gesehen», sagte Nadal. Und Federer meinte: «Ich will nicht motzen. Aber es war schon sehr, sehr dunkel. Das hat das Finale noch dramatischer gemacht und für den Champion noch fantastischer.»

Auch die Tennis-Legenden unter den 15 000 Zuschauern rund um den Center Court waren begeistert von dem Finale, das sich nahtlos in die Reihe der Klassiker wie Goran Ivanisevic gegen Patrick Rafter im Jahr 2001, Stefan Edberg gegen Boris Becker 1990 oder Björn Borg gegen John McEnroe 1980 einreiht. «Es war das größte Match, das ich je gesehen habe», urteilte McEnroe, der 1981 Borgs sechsten Wimbledon- Triumph verhindert hatte. Und auch der dreimalige Wimbledonsieger Becker stimmte ein: «Es gab noch nie ein besseres Endspiel.»