Knaller an der Zeitungsfront

Tuesday, October 14, 2008

Ein Gesang aus der Hölle (Frankfurter Rundschau)

"Terror und Traum"
Ein Gesang aus der Hölle
VON ARNO WIDMANN

Mehr als achthundert engbedruckte Seiten hat Karl Schlögels Buch "Terror und Traum". Es ist ein Gang durchs Moskau des Jahres 1937 in dreiunddreißig, also kleinen Kapiteln. Das gibt dem Buch, dessen erklärtes Ziel es ist, sich jeder eindimensionalen Erklärung durch die Ausbreitung der unterschiedlichsten Moskauer Aktualitäten des Jahres 1937 entgegenzustellen, eine verblüffende Transparenz. Der Umfang muss Niemanden schrecken. Das Buch türmt sich nicht mit einer gewaltigen Erzählung vor dem Leser auf, sondern es besteht aus dreiunddreißig Novellen. Vielleicht auch Gesänge. Vielleicht hat Schlögel - der Verdacht drängt sich bei soviel kompositorischer Reflexion auf - an Dantes "Commedia" gedacht, deren drei Bücher - Hölle, Fegefeuer, Paradies - auch aus jeweils dreiunddreißig Gesängen bestehen.


Schlögels Moskau von 1937 wäre ein Gesang aus der und über die Hölle. Aber eine Hölle, das macht Schlögel klar, in der das ganz normale Leben weitergeht. Freilich so verflochten mit dem sich entfaltenden Terror des Regimes, dass dieser selbst in die intimsten Wünsche eindringt und sie sich zu eigen macht.

Karl Schlögel ist ein Meister des Grundakkords. Hier ist es der im Titel genannte Zusammenklang von Terror und Traum, von Utopie und Gewalt, von Menschheitsbeglückung durch Menschenvernichtung. Das ist der basso continuo der achthundert Seiten. Nicht zu schaffen wäre das für ältere, empfindlicher gewordene Nerven, also auch nicht für die des Autors. Also interessiert er sich für die gegenläufigen Motive ebenso sehr. Er versucht uns klarzumachen, dass auch in einer Welt, in der jeder damit rechnen musste, dass morgens die Herren in den Gummimänteln an seine Tür klopften und er in den Gulag verschleppt oder erschossen wurde, die Menschen davon träumten, zu begehren und begehrt zu werden, dass Liebesgedichte auch mitten im Terror Menschen zu Tränen rühren können.

Das Puschkin-Jubiläum vom 10. Februar 1937 installiert - nicht einmal einen Monat nach dem zweiten Moskauer Schauprozess - ein sozialistisch-sowjetisches Innenleben, das nur schwer zu unterscheiden ist von der traditionellen Puschkinbegeisterung. Das und nicht die auch auszumachenden Differenzen sind die eigentliche Pointe dieser Montage der stalinistischen Ingenieure der Seele. Der Terror, der an einem verübt wird und den man selber verübt, wird leichter erträglich, wenn man sein Innerstes mit einer Samthaut versieht, die einem ein schönes Gefühl gibt. Auch das ist eine Aufgabe der Literatur.

Schlögels Buch ist das Buch eines Historikers. Er hat die Quellen genau studiert. Es ist aber auch das Buch eines Erzählers, eines Mannes also, der die Quellen hat auf sich wirken lassen, damit sie auf uns wirken. Nach der Lektüre von "Terror und Traum" wissen wir deutlich mehr über den Stalinismus als vor der Lektüre. Wir sind klüger geworden. Vor allem aber sind wir empfindlicher geworden. Wir spüren in manchen Passagen wie die stalinistischen Texte durch Schlögels Reflexionen hindurchschlagen. Wir bekommen eine Ahnung von der Faszination, die der Wille, die Welt, die ganze Welt und den ganzen Menschen zu ändern, für Schlögel, aber auch für viele von uns - seinen Lesern - hat.

Wenn Schlögel vom "integralen Zugriff" der stalinistischen Planung auf das neu zu schaffende Moskau spricht, dann hat der Leser noch im Ohr, wie wichtig es ihm in seinen Vorbemerkungen war, dass die Vielfalt des ganzen Geschehens des Jahres 1937 verstanden wird. Der Erzähler ist dem alles überblickenden Gott ebenso nahe wie dem zentralistischen Planer, bei dem alle Daten einer Gesellschaft zusammenlaufen. Das weiß Schlögel. Darum hat er die eine große Erzählung, in die er immer wieder gerät, zerpfählt in die dreiunddreißig Novellen aus dem Moskau der Pest der Verleumdung und des Terrors. Er verzichtet so auf den Traum des einen alles umfassenden Blickes zugunsten einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven.

Jedes einzelne seiner Kapitel aber spielt mit dem Grundmotiv von Terror und Traum. Die Nichtveröffentlichung der Daten der Volkszählung vom 6. Januar 1937 gehört ebenso zu diesem Jahr wie die Tatsache, dass dem Moskauer Adressbuch von 1936 kein neues folgte. Man liest das und beginnt eine Ahnung davon zu bekommen, welche Kraft Gorbatschows Begriff "Glasnost" entfalten musste in einer Welt, in der alle Daten über die soziale Realität Geheimwissen waren. Eine solche Gesellschaft ist nicht reparaturfähig.

Karl Schlögel zitiert immer wieder sowjetische Zahlen, er berauscht sich und den Leser an den ungeheuren Umwälzungen jener Jahre. Leider gibt es kein Kapitel, in dem erklärt würde, wie wir diese Zahlen zu verstehen, zu lesen haben. Sie waren schließlich von Anfang an vor allem Propaganda.

Schlögel macht klar, wie viel Vernichtung der so frenetisch gefeierte Neu-Aufbau voraussetzte. Das alte Moskau wurde systematisch zerstört. Mit ihm die alten Moskauer, die alten Eliten und die alten Bürger. "Terror und Traum" erzählt nicht nur, wie das schön Gedachte umschlägt in blutige Vernichtung oder der befreiende Impuls im Prozess seiner Realisierung bürokratisch verwaltet und damit zu Tode gebracht wird, sondern auch, wie mitten im Terror das Schöne, der Traum davon sich immer wieder Platz schafft.

Karl Schlögel ist auch darin ein Erzähler, dass er ein melancholischer, die Hoffnung aber niemals aufgebender Mitmensch ist, einer, der an die Menschheitsbeglückung nicht mehr zu glauben vermag, der aber gleichzeitig nicht davon ablassen kann, von ihr zu träumen. Das gibt seinen Texten etwas von dem Pathos seiner Gegenstände und der Art, wie sie im vergangenen Jahrhundert betrachtet wurden. Es ist eine in die Jahre gekommene, für mich freilich unwiderstehliche Schönheit.

Karl Schlögel: Terror und Traum - Moskau 1937. Hanser Verlag, München 2008, 812 Seiten, Abb., Karten, 29,90 Euro

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