Knaller an der Zeitungsfront

Friday, November 30, 2007

Die unglaublichsten Lebensgeschichten (Tagesspiegel)

Feuilleton
Nachrufe
Die unglaublichsten Lebensgeschichten
David Ensikat ist eine Ausnahme in seinem Beruf: Er arbeitet als Nachruf-Redakteur beim Berliner Tagesspiegel.

Sie haben ständig mit dem Tod zu tun…
Nein, mit dem Leben. Sicher, bei meiner Arbeit geht es um Verstorbene, aber mir als Nachrufschreiber geht's um das Leben, das sie geführt haben und was da Bemerkenswertes passiert ist. Das recherchiere ich und arbeite es auf. Das ergibt dann je nach Qualität und Substanz der Geschichte zwischen 80 und 250 Zeilen Text. Der Tod findet da, wenn überhaupt, nur auf ein paar Zeilen statt.

Was reizt Sie daran, Nachrufe zu schreiben?
Man lernt etwas über das Leben, das angeblich alltägliche, aber jedes Mal einzigartige. Es geht ja nicht darum, Karriere, Verdienste oder Auszeichnungen aufzulisten oder ein Leben von A bis Z chronologisch nachzuzeichnen. Es geht um jene Geschichten, die jedes Leben besonders machen.

Von welchen Lebensläufen sind Sie denn überrascht worden?
Zum Beispiel von Renate Weinberg. Eine Frau, die während einer Psychoanalyse mitten im Zweiten Weltkrieg ihre Träume aufgeschrieben hatte. Oder Heinz-Friedrich Wendt, der ein scheinbar geschlechtsloses Leben geführt hat und nur für die Sprache da war - er war Cheflektor bei Langenscheidt. Im Krieg hatte er wegen seiner Sprachbegabung in Görings Spionage-Amt gearbeitet.

Und wie kommen Sie an die Todesfälle? Hinterbliebene rufen Sie an…
…und bitten mich bzw. einen unserer Autoren zu sich, damit wir das Leben des Verstorbenen besprechen. So entstehen etwa die Hälfte unserer Nachrufe. Die andere recherchieren wir selbst, meine sieben freien Autoren und ich. So sichten wir Todesanzeigen, rufen nach einiger Zeit die Hinterbliebenen an, die dort aufgeführt sind, und fragen sie, ob sie mit einem Besuch von uns einverstanden sind.

Aber was Sie über den Toten erzählt bekommen, ist doch sicher oft geschönt?
Ja, das mag sein. Aber wir sind nun mal abhängig von dem, was uns erzählt wird. Die ganze Wahrheit kennen wir nicht, und die Frage ist, ob die Angehörigen sie kennen. Wenn es möglich ist, Zweifelhaftes oder Unvollständiges nachzurecherchieren, dann versuchen wir das. Aber einen vollständigen Wahrheitsanspruch kann man bei einer Tätigkeit wie der unseren realistischerweise nicht haben.

Die Angehörigen haben sicher andere Erwartungen an den Nachruf als Sie?
Ja, manche erwarten nichts als eine Würdigung des Toten, also eine positive Charakterisierung, oder auch einen umfassenden Lebenslauf - Schulabschlüsse, Ausbildungen, Familiengründung, Hobbys, Ehrungen. Den Leser aber, der den Menschen nicht kannte, würde das langweilen. Also versuchen wir, das Bemerkenswerte, Beklemmende, Traurige und auch Lustige aus diesem Leben zu erfragen und aufzuschreiben.

Auch Lustiges?
Wenn der Humor in einem Leben einen wichtigen Platz hatte oder wenn skurrile Situationen erzählt werden können, warum soll das im Nachruf keinen Platz haben?

Wurde Ihnen schon mal ein "Honorar" geboten, damit Sie einen Nachruf nach dem Geschmack der Hinterbliebenen drucken?
Nein, das ist noch nie passiert. Aber fertig getextete Nachrufe bekomme ich durchaus schon mal vorgelegt, ja. Aber das geht natürlich nicht, wir recherchieren und schreiben es schon selbst.

Die Besuche bei Hinterbliebenen, die bedrückende Atmosphäre, Tränen, die vergossen werden - belastet Sie das nach sieben Jahren nicht seelisch?
Da gibt es Möglichkeiten, sich dagegen zu wappnen. Ich sitze als Journalist bei diesen Leuten, meist drei Stunden lang. Die Atmosphäre präge ich mit meinen möglichst sachlichen Fragen. Einmal allerdings ging mir eine Geschichte derart unter die Haut, da saß ich mit meinem Block auf dem Sofa und hatte Tränen in den Augen.

Welche?Bei einem Verkehrsunfall waren ein Mann, seine Lebensgefährtin und ein elfjähriges Mädchen, die Nichte des Fahrers, ums Leben gekommen - auf dem Rückweg von der Beerdigung des Großvaters. Mein Sohn ist auch elf Jahre alt.

Gibt es Reaktionen auf die Nachrufe?
Ab und zu sagt eine Familie Dankeschön, lobt den Text oder sagt, wie gut das Gespräch getan hat. Manchmal, selten kommt's auch anders. Für den Nachruf auf einen Ex-RIAS-Chefredakteur hatte die Autorin mit seiner Tochter gesprochen. Die berichtete schonungslos über ihren Vater, der ein ziemlich kalter Krieger gewesen war. Nach der Veröffentlichung rief mich ein Ex-Kollege des Verstorbenen an und sagte: "Genauso war er - unausstehlich, ein Tyrann! Aber so deutliche Worte gehören doch nicht in einen Nachruf!"

Was gibt es an Reaktionen, wenn Sie sich mit Ihrem Beruf vorstellen?
Verständnislosigkeit, ungläubiges Staunen: Wie bitte, Nachruf-Redakteur? Einige lachen auch hämisch, fragen, ob ich die schwarzen Linien um die Todesanzeigen ziehe. Nachrufe zu schreiben ist nicht leicht, aber wunderbar! Immer wieder stößt man auf die unglaublichsten Lebensgeschichten. Was will ich mehr als Journalist?
Interview: Michael Santen

Zur Person
David Ensikat wurde am 12. Juni 1968 in Ost-Berlin geboren. Er studierte Geschichte und Publizistik, begann 1998 als Volontär beim Berliner "Tagesspiegel". Seit Oktober 2000 ist er Redakteur der Nachruf-Seite, die stets freitags erscheint. Er ist Autor der Bücher "Was bleibt - 50 Nachrufe auf unbekannte Berliner" (Berliner Taschenbuch-Verlag) und "Kleines Land, große Mauer" (Piper). David Ensikat lebt mit seiner Freundin in Berlin, hat eine Tochter (5) und einen Sohn (11).

Was braucht man eigentlich zum Leben?

Vom Luxus des Verzichts
Was braucht man eigentlich zum Leben?
Die US-amerikanische Schriftstellerin Judith Levine hat ein Jahr nur das Nötigste eingekauft.
Von Johannes Gernert

Manchmal war ihr auch einfach langweilig. Judith Levine saß dann auf dem Sofa in ihrem New Yorker Apartment und überlegte, was sie unternehmen könnte. Griechisch lernen vielleicht? Oder noch ein Buch aus der öffentlichen Bibliothek lesen? Sie hatte Zeit, viel Zeit. Es war für sie ein neues, ein ungewohntes Gefühl.

Judith Levine ist 55 Jahre alt, hat kurze, graue Haare und trägt gerne eine schwarze Hornbrille, ihr Beruf: Schriftstellerin. Vor ein paar Jahren kam sie auf die Idee des Konsumverzichts. Wie lässt sich das Leben ertragen, wenn man nur noch das Nötigste einkauft? Und auf jeden Luxus verzichtet, sich also ein Jahr lang keine neuen Klamotten leistet, keine Elektro-Accessoires, auch nicht in Restaurants, Kinos oder Theater geht, sich keinen Kaffee zum Mitnehmen gönnt und keine DVDs aus der Videothek ausleiht. Weg mit dem Überfluss, denn bevor sie das Experiment startete, entdeckte sie in ihrer Speisekammer acht Sorten Reis, sechs Öle und neun Essigsorten. Viel zu viel. Ihr Lebensgefährte Paul machte mit bei dem Experiment, auch wenn er anfangs ein wenig meckerte, weil sein Wein nicht zu den notwendigen Lebensmitteln zählte.

Isoliert, ohne die neuen FilmeAnfangs fiel es Judith Levine schwer, sich von den Auslagen in den Schaufenstern New Yorks nicht verführen zu lassen. Sie entdeckte beispielsweise limetten-grüne Schuhe, die sie zu gerne gehabt hätte. Zweimal konnte sie den Versuchungen nicht widerstehen und kaufte sich eine Hose und ein Shirt. Aber sie fühlte sich nicht gut danach. Je länger sie verzichtete, desto unwichtiger wurden Dinge wie die limetten-grünen Schuhe. Das "Jagdfieber", die Lust am Stöbern und Suchen, ließ nach. Sie verbrachte stattdessen viel Zeit mit ihrem Partner. Schon nach den ersten Ausflügen dachten sie daran, Proviant mitzunehmen, weil sie ja nichts kaufen wollten. Irgendwann fingen die beiden an zu backen, zu basteln, falteten Origami-Papierfiguren. Samstags gingen sie in die Bibliothek. Paul lernte dort kostenlos Italienisch.

Aber sie merkten auch, wie schwierig es ist, Freundschaften zu pflegen, wenn man kein Geld ausgeben will. Nach der Lesung eines Freundes noch zum Chinesen? "Ich hätte bei einem Glas Wasser dabei sitzen können", sagt Levine, "während die anderen aßen." Sie fühlte sich isoliert, wenn sie immer wieder sagen musste: "Nein, keine Kneipe. Lass uns doch ein paar Schritte laufen." Sie fürchtete, dass sich ihre Freunde langweilen würden. Es fehlten ihr nicht nur die Kinobesuche, sondern auch die Themen, die neue Filme, Theaterstücke und Bücher liefern. In den öffentlichen Bibliotheken gab es nur alte Bücher. Zu der Zeit kam auch Michael Moores "Fahrenheit 9/11" in die Kinos, der eine politische Diskussion entfachte. Levine hat ihn bis heute nicht gesehen: "Ich habe auch gemerkt, dass solche Phänomene schnell vorüberziehen. Besonders in New York strömen permanent neue Dinge auf dich ein. Wenn du dich teilweise davon abkapselst, wird alles viel langsamer."

Manchmal stellte sich Levine vor, wie die Menschen während des Kalten Kriegs im Ostblock gelebt hatten und wie sie damit umgingen, nicht alles kaufen zu können. Die Menschen wünschten sich Produkte, sie sehnten sich nach großer Auswahl in Geschäften, aber die habe es nicht gegeben, sagt Levine. Dafür hätte die Familie eine viel größere Bedeutung gehabt, so ihr Eindruck.

Nach ein paar Monaten besuchte sie auch die Therapiegruppe "Simple Living". Dort trafen sich Menschen, die ständig einkaufen wollen. Man saß in der Wohnung eines Mitglieds zusammen und redete über Konsum und Verzicht. Einige Teilnehmer erzählten von ihrem Konsumrausch, von der Sucht, immer wieder einkaufen zu müssen. Ein paar Leute planten ernsthaft, größere Kühlschränke zu kaufen, um noch mehr Lebensmittel lagern zu können.

Kekse als Geschenk

Als das Jahr vorbei war, staunte Judith Levine, denn sie hatte nicht nur abgenommen, sondern auch viel Geld gespart. Mehr als umgerechnet 5000 Euro konnte sie an Kreditkartenschulden zurückzahlen. Und ihr Bewusstsein hatte sich verändert. Sie sagt, dass sie inzwischen kritischer einkauft. "Ich frage mich: Woher kommt das Produkt? Welche Ressourcen sind verwendet worden? Wo landet es, wenn ich es nicht mehr benutze?" Sie hat gelernt, was sie wirklich benötigt und was nicht. Und sie konsumiert weiterhin weniger, dafür spendet sie mehr: für Frauengruppen, Hilfsorganisationen für Gefangene und Umweltverbände.

In diesen Tagen, wenn die Weihnachtseinkäufe beginnen, wird sie wieder viel Zeit haben. Levine und ihr Lebensgefährte Paul werden zu Hause bleiben. Sie werden Plätzchen backen, sie in selbst gestalteten Kartons verpacken und zu Weihnachten verschenken. Der Einkaufstrubel ist ihnen zuwider. In dem Gewühl ist Judith Levine vor vier Jahren auch der Einfall für ihr Experiment gekommen. Sie stand im Regen mit aufgeweichten Papiertaschen und dachte: "Ich kaufe einfach gar nichts mehr. Ein Jahr lang." Die Freunde, die Kekse geschenkt bekommen, sind ihr und Paul übrigens nicht böse: "Die wissen genau, dass sie sich für uns auch nichts besonders Großes überlegen müssen."

Wednesday, November 28, 2007

Im Maschinenraum der Literatur (SZ)

5 SZ Kultur 25.11.2007 19:00
Im Maschinenraum der Literatur: Sechs Fragen an den Lektor
Sechs Antworten auf sechs Fragen, die einem Lektor häufig gestellt werden / Von Martin Hielscher

Für den Beruf des Verlagslektors für belletristische Literatur gibt es in Deutschland keine klassische Ausbildung. Man muss ein Homme oder eine Femme de Lettres sein, viel gelesen und in der Regel ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert haben, in einigen Fällen, je nach Verlag, auch promoviert und nicht nur in der kanonisierten Literatur, sondern auch im Gewirr der Gegenwartsliteratur, der ausländischen und der deutschen, zu Hause sein.

Weil es keine typische Ausbildung, keinen standardisierten Werdegang gibt, weil Lektoren nur bedingt in die Öffentlichkeit treten, weil ihre Arbeit im Werk der Autoren, das sie lektorieren und die sie betreuen, verschwindet, gibt es über diesen Beruf - der im pragmatischen Sinne notwendig ist und doch etwas staunenswert Orchideenhaftes besitzt - wenig Informationen. Im Folgenden greife ich einige der häufig gestellten Fragen zu diesem Beruf auf, wobei ich das Berufsbild eines Lektors voraussetze, der ein anspruchsvolles, also nicht rein kommerzielles Programm betreut und zudem Programmverantwortung trägt, die Titel also auch auswählt, die er lektoriert.

Erste Frage:
Nach welchen Kriterien werden die Manuskripte ausgewählt, die tatsächlich zu Büchern werden?

Zwei Faktoren spielen im Bereich anspruchsvoller Literaturprogramme eine Rolle - zum einen die Subjektivität des Lektors, zum anderen das jeweilige Verlagsprofil. Schon innerhalb seines Verlages, auf den Konferenzen, im Angesicht der Entscheidungswege und -instanzen, muss der Lektor sein subjektives Urteil begründen, vermitteln. Es wird rationalisiert, durch andere Urteile ergänzt oder gebrochen. Und wenn er mit anderen Lektoren aus anderen Verlagen um Manuskripte und Autoren konkurriert, werden seine subjektiven Geschmacksurteile doch auf eine Objektivität treffen. Das ist eine Erfahrung, die man auch in Jurys machen kann. Es gibt Texte, die sofort alle überzeugen.

Der Lektor muss wissen, wonach er sucht, wenn er Manuskripte und damit Autoren sucht. Bestimmte Bücher gehören in den Suhrkamp Verlag, aber nicht zu Kiepenheuer & Witsch, zu Piper, aber nicht zu C. H. Beck. Es ist nicht immer leicht zu definieren, worin die Unterschiede bestehen, aber es ist für den Lektor lebenswichtig, sie zu erkennen. Ebenso gibt es eine Schnittmenge von Büchern, die in allen diesen Programmen erscheinen können, um die man eventuell sogar konkurriert.

Auch ein sogenanntes anspruchsvolles Buch soll - und hier sind wir bei der eierlegenden Wollmilchmaus - sich verkaufen lassen können, interessant sein, sei es durch die Geschichte, den Humor, den Schauplatz, den Plot, die Spannung, die Figuren, durch ein "Thema". Dass ein literarischer Text aus einer existentiellen Notwendigkeit entsteht, spricht nicht dagegen, dass er zugleich eine Mitteilung sein will.

Der Lektor sucht nicht einfach nach Büchern, sondern nach Autoren - jedenfalls in den literarischen Programmen. Das heißt, er versucht - und das ist für alle Beteiligten zunächst nur ein Wunsch und nicht ausgemacht - Menschen zu entdecken, die weiterschreiben, denen er zutraut, die riskante Existenz eines Autors durchzustehen, und die er dabei begleiten möchte. Bei den vielen Manuskripten, die der Lektor täglich, wöchentlich lesen muss, ist nicht so sehr die Menge der schlechten bedrückend - belastend ist die hohe Zahl der beinahe guten, denn hier fällt die Entscheidung viel schwerer.

Zweite Frage:
Wie kommt der Lektor an seine Autoren?

Das "unverlangt eingesandte" Manuskript hat bekanntlich die geringsten Chancen, wahrgenommen zu werden. Die meisten dieser Manuskripte werden von ihren Autoren querbeet, ohne Ansehen des einzelnen Programms, ohne Kenntnis der Verlagsprofile herumgeschickt und passen - wenn sie überhaupt eine gewisse Qualität besitzen - meist nicht zu dem Programm, für das der Lektor zuständig ist. In gewissen Abständen wird der Stapel unverlangt eingesandter Manuskripte von einem Mitarbeiter gesichtet und abgearbeitet, und sollte doch ein Manuskript hervorstechen, wird es weitergereicht. Hin und wieder werden auf diesem Wege Autoren entdeckt - die Wahrscheinlichkeit ist aber sehr gering.

Es ist eher so, dass Lektoren ein Netzwerk von Kontakten aufbauen, zu Agenten, Autoren, anderen Leuten im Literaturbetrieb, zu Journalisten, Übersetzern, Kollegen in anderen Verlagen, zu Literaturwettbewerben fahren und seit einigen Jahren natürlich auch das verfolgen, was an neuer Literatur rund um Institutionen wie das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig, Textwerk in München, das Studio für Literatur und Theater in Tübingen, die entsprechenden Studiengänge in Hildesheim und an der LMU in München und anderswo entsteht.

Für Autoren, die einen Verlag suchen, stellt sich natürlich immer wieder die Frage, wie sie überhaupt die Schwelle überwinden können, jenseits derer eine Lektorin, ein Lektor sich ernsthaft mit ihrem Manuskript beschäftigt. Denn es wird unendlich viel mehr geschrieben, als gedruckt werden kann. Und: Es gibt kein Menschenrecht darauf, gedruckt zu werden.

Dritte Frage:
Warum gibt es überhaupt Lektoren?

Lektoren gibt es nur, weil die Autoren ihren eigenen Texten gegenüber nicht selten einen blinden Fleck haben - und weil sich historisch die Funktionen des Buchdruckers, Buchhändlers und Verlegers ausdifferenziert haben. Dabei wurde die Funktion des Verlegers noch einmal zerlegt in einen eher geschäftsführenden, gesamtverantwortlichen und repräsentativen Bereich und den der Programm- und Lektoratsarbeit im engeren Sinne. In Kleinverlagen werden diese Zuständigkeiten oft von derselben Person wahrgenommen. Je größer der Verlag, desto stärker werden Verantwortlichkeiten auf verschiedene Mitarbeiter verteilt.

Literarische Arbeit ist nur zu einem Teil bewusste, konzeptuelle, planvolle Tätigkeit. Es bleibt ein Anteil Unbewusstes, Spontanes. Von einem bestimmten Punkt an kann ein Autor nicht mehr genau erkennen, wie geschlossen, stimmig, logisch, überzeugend der Text geworden ist, die Daseinswucht des Textes und die Mühen der Produktion haben ihn zu etwas Evidentem gemacht, dessen angenommenes Sosein der Autor nicht mehr in Frage stellen kann, selbst wenn er an gewissen Stellen ein physisches Unbehagen verspürt - als Zeichen dafür, dass hier irgendetwas nicht stimmt.

Interessanterweise sind es oft genau diese Stellen, auf die ein Lektor kritisch eingeht. Er kann als Frage formulieren, als Kritik, Verbesserungsvorschlag auf den Punkt bringen, was in einem Text seinem eigenen, innewohnenden "Gesetz" nicht gehorcht. Der Lektor ist dem Text fast so nah wie der Autor und hat zugleich genügend Distanz, um eben diesen "zweiten Blick" auf den Text werfen zu können, der dem Autor nicht mehr möglich ist. Das dem Text innewohnende Gesetz ist dabei zugleich das immanente Kriterium für ein Lektorat. Ein guter Lektor trägt nicht seine Vorstellungen, was ein guter Text sei, von außen an die Manuskripte heran. Er bezieht vielmehr seine Kriterien aus dem Text selbst, aus der begründeten Vorstellung davon, wohin der Text von sich aus will. Dieses immanente Ziel eines Textes, sein telos, ist nicht selten auch dem Autor selbst keineswegs von vornherein klar, sondern stellt sich ihm bei der Arbeit eher als "technisches", erzählerisches, konzeptuelles Problem dar, das er lösen muss.

Vierte Frage:
Wie stark greift ein Lektor in den Text ein?

Das Lektorieren geschieht überhaupt nur unter der Voraussetzung, dass sich Autor und Lektor zunächst grundsätzlich über den Text verständigt haben. Dies spielt in der "Anbahnungsphase" zwischen Autor und Lektor oft die maßgebliche Rolle und entscheidet nicht selten darüber, ob Autor und Verlag sich überhaupt einig werden. Wenn hier ein grundsätzliches Einverständnis erzielt worden ist, können Lektor und Autor formulieren, was an einem Manuskript noch zu tun ist.

Man kann die Vermutung anstellen, dass Œuvres auch deshalb entstehen, weil ein Autor immer den gleichen Text zu schreiben versucht, aber erst von Buch zu Buch sich immer mehr die Mittel zu erarbeiten vermag, die er braucht, um schließlich schreiben zu können, was er schon am Anfang hatte schreiben wollen. Zugleich erfährt ein Autor auch erst im Laufe der Zeit genauer, was ihn treibt, was er mit jedem neuen Buch zu klären und zu erfahren versucht. Ein Lektor kann deshalb einem Autor auch nur das abverlangen, was dieser zu dem jeweiligen Zeitpunkt literarisch umzusetzen vermag.

Es gibt Autoren, die ihren Lektor sehr früh bei der Entstehung eines neuen Werkes beteiligen, Anregungen und Lektürevorschläge aufnehmen, ästhetische, philosophische, aber auch ganz handfeste technische Fragen diskutieren. Manche zeigen Teile eines neuen Manuskriptes in einem noch vorläufigen Stadium, brauchen Rat, was aus einem noch unfertigen Werk möglicherweise zu machen ist. Andere zeigen dem Lektor erst eine bereits durchgeschriebene Fassung, die sie dann womöglich zweimal, dreimal überarbeiten, wieder andere liefern nahezu perfekte Manuskripte ab, die nur noch einer Art Feinarbeit bedürfen.

Es kann sein, dass der Lektor in hohem Maße an der Konzeption und auch an der Formulierung eines Werkes beteiligt ist, dass manche Figuren, Ideen, Passagen und Motive ohne ihn nicht entstanden wären oder ganz von ihm stammen. In anderen Fällen sind es vielleicht nur ein paar Worte oder Sätze, die geändert, gestrichen oder hinzugefügt wurden.

Fünfte Frage:
Wer entscheidet, was von den Lektoratsvorschlägen übernommen wird?

Diese Entscheidung trifft der Autor. Ein Lektor macht Vorschläge - der Text ist der Text des Autors, er entscheidet, was geändert wird und was nicht. Dabei gibt es einen Bereich der sprachlichen und sachlichen Richtigkeit, der juristischen Belangbarkeit, auch der politischen und moralischen Identität eines Verlages, über den im Zweifelsfall nicht verhandelt werden kann. Hier muss der Lektor wissen, dass er Repräsentant eines Verlages ist und nicht nur Freund, Kollege, Fürsprecher seiner Autoren.

Sechste Frage:
Kann ein Lektor den Stil eines Autors beeinflussen oder ändern?

Es gibt berühmte Beispiele für Lektoren, die den Stil eines Autors maßgeblich mitgeprägt haben, Paul Schaaf bei Heinrich Böll, Gordon Lish bei Raymond Carver, Klaus Roehler bei Günter Grass, Gary Fisketjon bei Richard Ford, Christian Döring bei Marcel Beyer, um nur einige zu nennen. Bei Raymond Carver ist es eklatant: der lakonische, von einer Art Zen-mäßiger Stille eingefasste Ton seiner Erzählungen kam erst zustande, weil sein Lektor teilweise jeden zweiten Satz im Manuskript zu streichen empfohlen hat. Es bedarf der Einsicht, mitunter der Größe eines Autors, solche Empfehlungen auch anzunehmen.

Ein Autor hat bestimmte Möglichkeiten, andere nicht. Der Lektor kann womöglich sehen, an welchem Punkt ein Autor, der sich nach einem größeren Lesepublikum sehnt, durch seinen Stil eben das verhindert, indem er etwas Opakes, Unnahbares, In-sich-Verschlossenes fortschreibt, das er sogar benennen, aber nicht ändern kann - weil er nicht einsehen mag, dass es ihn behindert, weil es für ihn als ästhetisches Mittel höher rangiert als jeder Kommunikationsakt, den seine Prosa vollzieht: Die Leser sollen sich unterwerfen. Das ist eine durchaus ehrwürdige, gut begründbare ästhetische Konzeption der Moderne - und dennoch haben wir dieses implizite Hierarchieverhältnis hinter uns gelassen, auch das Pathos einer ästhetischen Gegenwelt, das sich dahinter verbirgt.

Ein Lektor kann beim besten Willen diese Haltung nicht ändern, er kann allenfalls darauf hinweisen und dem Autor mehr oder weniger erträgliche Streitgespräche darüber liefern, weil ästhetische Konzeptionen eben nicht rein intellektuell begründete Haltungen sind, sondern existentielle Dispositionen. Seine eigene Poetologie kann der Autor sich nicht aussuchen, sie ist ihm als existentielle Disposition oft nicht einmal bewusst und nur begrenzt bewusst zu machen. Weil sie an den ureigenen Antrieb rührt, ist sie kaum verhandelbar, wenn der Lektor sie in Frage stellt, wird dies - man muss leider sagen, nicht zu Unrecht - als Angriff auf die Person empfunden.

Dennoch gibt es die Möglichkeit, dass Autor und Lektor sich wechselseitig verändern, so wie das gelungene Werk ja auch den Leser verändert. Die Literatur selbst ist ein Prozess mit einem offenen Ende und diejenigen, die sie schreiben und lektorieren, können, wenn sie dazu bereit sind und sich nicht zu sehr an das klammern, was sie für ihr Selbst halten, in diesen Prozess eintreten und von ihm weitergetragen werden, an einen Ort in der Zeit, an dem sie noch nicht waren.

Der Autor Martin Hielscher, geboren 1957 in Hamburg, arbeitete nach einem Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie als Autor, Redakteur und Übersetzer. Er war Lektor im Luchterhand Literaturverlag und bei Kiepenheuer & Witsch. Seit 2001 ist er Programmleiter für Literatur beim Verlag C.H.Beck in München.

Von Hitler zu bin Laden (Tagesspiegel)

Judenhass
Von Hitler zu bin Laden
Der Kampf gegen die Juden: Islamismus und Nationalsozialismus sind historisch und ideologisch eng miteinander verknüpft. Die Frage, ob Deutschland die aus seiner Nazivergangenheit resultierenden Schlussfolgerungen gezogen hat, beantwortet sich nicht in Sonntagsreden, sondern konkret, findet Matthias Küntzel.
Von Matthias Küntzel 25.11.2007 0:00 Uhr

Die Deutschen sind die Einzigen, die uns den Grund erklären können“, schrieb kurz nach dem 11. September der in Yale lehrende Computerwissenschaftler David Gelernter. „Bin Ladens Terroristen haben versucht, die größte jüdische Stadt in ein Brandopfer zu verwandeln. Die Amerikaner verstehen das nicht: reiner unmotivierter Hass auf die Juden? Deutsche verstehen das sehr wohl.“

Der erste Krieger, der Manhattan mit Selbstmordpiloten zerstören wollte, saß in der Tat in Berlin. „Nie habe ich Hitler so außer sich gesehen wie gegen Ende des Krieges, als er wie in einem Delirium sich und uns den Untergang New Yorks in Flammenstürmen ausmalte“, hielt Albert Speer in seinem Tagebuch fest. „Er beschrieb, wie sich die Wolkenkratzer in riesige brennende Fackeln verwandelten, wie sie durcheinanderstürzten, wie der Widerschein der berstenden Stadt am dunklen Himmel stand.“ Nicht nur Hitlers Fantasie, auch sein Plan, sie zu verwirklichen, erinnert an 2001: Kamikaze- Piloten sollten mit Sprengstoff beladene Kleinstflugzeuge ohne Landevorrichtung in die Wolkenkratzer von Manhattan jagen. Die Konstruktionszeichnungen des im Frühjahr 1944 von Daimler-Benz konzipierten „Amerika-Bombers“ liegen vor.

Die Ekstase, in die Hitler beim Gedanken an das brennende Manhattan geriet, verweist auf das damit verbundene Motiv: Hitler wollte nicht einfach einen Feind bekämpfen. Er wollte Juden töten, um die Menschheit zu befreien. Für ihn, der von der Idee besessen war, den gesamten Zweiten Weltkrieg gegen imaginäre jüdische Mächte zu führen, galten „die USA als jüdischer Staat“ und New York als das Zentrum des Judentums schlechthin. 60 Jahre später wurde der reale Angriff auf das World Trade Center zufällig in Deutschland geplant. Der erste Hamburger 9/11-Prozess brachte Anfang 2003 ein zentrales Motiv der Attentäter um Mohammed Atta an den Tag: „Die glaubten an eine Weltverschwörung der Juden“, berichtete der Zeuge Schahid Nickels, der zu Attas „Koranrunde“ gehörte. „Die dachten, New York sei das Zentrum des Weltjudentums.“ Mitbewohner des Angeklagten Munir al Motassadek berichteten, er habe Hitlers Judenpolitik verteidigt und die bevorstehende „große Aktion“ herbeigesehnt: „Die Juden werden brennen, und am Ende werden wir auf ihren Gräbern tanzen.“ Taucht in Motassadeks Vorfreude auf „brennende Juden“ nicht auch eine Spur der Hitler’schen Ekstase wieder auf?

Ein mörderischer Antisemitismus ist Bestandteil von Al Qaidas Programm. Für Osama bin Laden gelten Amerika und der Westen als von Juden beherrscht; der Klassiker des islamischen Antisemitismus – Saijid Kutbs „Unser Kampf gegen die Juden“ – wird in den Trainingslagern der Dschihadisten gelehrt. Diese Überschneidung der Ideologien hatte Gelernter im Sinn, als er die Deutschen um Erklärung bat. Doch auch historisch sind Islamismus und Nationalsozialismus miteinander verknüpft.

Es war die 1928 in Ägypten gegründete Organisation der „Muslimbrüder“, die den Islamismus als Massenbewegung begründete. Bis heute sind die Muslimbrüder für den Islamismus das, was die Bolschewiki für die kommunistische Bewegung des 20. Jahrhunderts waren: der ideologische Bezugspunkt und der organisatorische Kern, der alle nachfolgenden Tendenzen von Khomeini bis bin Laden maßgeblich inspirierte und bis heute inspiriert. Zwar hatte die britische Kolonialpolitik den Islamismus als Widerstandsbewegung gegen die „kulturelle Moderne“ hervorgebracht und den Ruf nach Wiederherstellung der Scharia- Ordnung provoziert. Doch wurden die Muslimbrüder erst im Zuge ihrer antijüdischen Kampagnen zu einer Massenorganisation: Zwischen 1936 und 1938 stieg ihre Mitgliedszahl von 800 auf 200 000 steil an.

Den Anlass dieser Kampagnen lieferte die verstärkte zionistische Einwanderung nach Palästina. Zielstrebig wurde die Proteste gegen Zionismus antijüdisch radikalisiert. „Nieder mit den Juden“ und „Juden raus aus Ägypten und Palästina“ lauteten die Parolen der Massendemonstrationen, die die Bruderschaft in den ägyptischen Großstädten organisierte. Auf Flugblättern rief sie zum Boykott jüdischer Waren und Geschäfte auf. In ihrer Zeitschrift „Al Nadhir“ erschien eine regelmäßige Kolumne mit der Kopfzeile „Die Gefährlichkeit der Juden von Ägypten“. Darin wurden die Namen und Adressen von jüdischen Geschäftsinhabern und Besitzern angeblich jüdischer Zeitungen aus aller Welt veröffentlicht und alles Böse – vom Kommunismus bis zum Bordell – auf die „jüdische Gefahr“ zurückgeführt. Die Muslimbruderschaft hatte aber von den Nazis nicht nur viele Inhalte übernommen – sie wurde zugleich bis 1939 mit Geldern des Deutschen Nachrichtenbüros in Kairo erheblich unterstützt.

Ihre Propaganda knüpfte an europäische und islamische Quellen an: Erstens galt ihnen Palästina als muslimisches Einflussgebiet, in welchem Juden bestenfalls als „Dhimmis“, als Schutzbefohlene, leben dürften. Zweitens verwiesen sie auf das Beispiel des Propheten Mohammed, der im 7. Jahrhundert sämtliche Juden von Medina tötete oder vertrieb. Drittens agitierten sie mit den antijüdischen Passagen im Koran. Dieser neuartige – europäisch und islamisch vermixte – Judenhass wurde von den Nazis mithilfe eines neuen Instruments geschürt: Allabendlich wurde die Hassbotschaft vom damals leistungsstärksten Kurzwellensender der Welt in Zeesen bei Berlin auf Arabisch, Türkisch und Persisch in die islamische Welt geschickt. Die in Goebbels-Manier gestalteten Programme hatten sich beträchtlicher Beliebtheit erfreut. Zu ihren regelmäßigen Hörern gehörte ein damals noch ganz unbekannter Religionsgelehrter namens Ruhollah Khomeini. Heute greift Ahmadinedschad dessen antisemitische Tiraden auf. Radio Zeesen stellte seinen Sendebetrieb erst im April 1945 ein. Nun verschob sich das antisemitische Zentrum in die arabische Welt.

1945 verübten die Muslimbrüder das bis dahin größte antijüdische Pogrom in der Geschichte Ägyptens: Demonstranten fielen im November in das jüdische Viertel Kairos ein, plünderten Häuser und Geschäfte und steckten Synagogen in Brand. Sechs Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. 1946 sorgten sie dafür, dass der als Kriegsverbrecher gesuchte Mufti von Jerusalem, Amin al Husseini, in Ägypten Exil und eine neue politische Wirkungsstätte erhielt. Al Husseini, der Führer der palästinensischen Nationalbewegung, hatte während seines Aufenthalts in Deutschland (1941–1945) das antijüdische Vernichtungsprogramm der Nazis mit derselben Bedingungslosigkeit unterstützt, mit der nach 1945 die Muslimbrüder sein Wirken im „Dritten Reich“ verteidigten. Seine publikumswirksame Amnestierung hinterließ in der arabischen Welt einen nachhaltigen Effekt: Hier galt von nun ab die pronationalsozialistische Vergangenheit als „eine Quelle des Stolzes, nicht der Scham“, wie Bernard Lewis schreibt. Jetzt zogen in Europa gesuchte Nazis scharenweise nach Ägypten, wo die ehemaligen Muslimbrüder Gambal Abdel Nasser und Anwar as Sadat das berüchtigtste Textbuch des Antisemitismus, „Die Protokolle der Weisen“ von Zion verbreiteten. Das Naziverbrechen an den Juden aber wurde, wenn nicht gerechtfertigt, so doch ignoriert.

Dieser verzerrte Blick auf die Vergangenheit überlagert bis heute die Gegenwart des Nahostkonflikts: Wer die Schoah leugnet, kann die internationale Rückendeckung für die Gründung Israels nur verschwörungstheoretisch erklären. So interpretierten (und interpretieren) die Muslimbrüder den UN-Beschluss von 1947, Palästina in zwei Staaten zu teilen, als „ein internationales Komplott, ausgeführt von den Amerikanern, den Russen und den Briten unter dem Einfluss des Zionismus“, wie der Historiker al Awaisi schreibt. Auf diese Weise gewann die in Deutschland seit dem 8. Mai 1945 unterdrückte Wahnidee von der jüdischen Weltverschwörung in Teilen der islamischen Welt neue Resonanz. Die Wirkungsmacht dieses Erbes belegt die 1988 verabschiedete Charta der Hamas, „die so klingt, als sei sie direkt aus dem ,Stürmer‘ abgeschrieben“, wie der frühere PLO-Vertreter von Jerusalem, Sari Nusseibeh, treffend kritisiert. Hier wird nicht nur alles Jüdische als Böse, sondern alles Böse als jüdisch definiert: „Die Juden standen hinter der Französischen Revolution und hinter den kommunistischen Revolutionen.“ Sie standen „hinter dem Ersten Weltkrieg, als sie es schafften, den Staat des islamischen Kalifats zu beseitigen … und sie standen hinter dem Zweiten Weltkrieg, als sie gewaltige Profite aus ihrem Handel mit Kriegsgütern erzielten.“ Sie regten „die Bildung der Organisation der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrats an, um damit die Welt zu beherrschen. Es gab keinen Krieg …, ohne dass sie ihre Finger dahinter im Spiel haben … Ihr Vorhaben steht in den ,Protokollen der Weisen von Zion‘, und ihr gegenwärtiges Tun ist der beste Beleg für das, was wir sagen.“

Aufgeklärte Menschen tun dies als kranke Fantasien ab. Islamisten aber glauben dieser Feindzuschreibung aufs Wort. „Sagt es uns“, rief Ahmadinedschad kürzlich den westlichen Regierungen zu. „Wenn die Zionisten euch beherrschen, können wir euch helfen. Wir und die freien Völker haben das Potenzial, euch zu helfen. Rettet eure Völker.“ So wie Nazis die Vernichtung der Juden als „Freiheitskampf“ betrachteten, so glauben Islamisten, die Menschheit durch Israels Vernichtung „erlösen“ zu können: „Das zionistische Regime wird wegradiert und die Menschheit befreit werden“, hatte Irans Präsident im Dezember 2006 erklärt.

Die schockierende Bösartigkeit derartiger Ankündigungen verleitet dazu, sie als „Rhetorik“ abzutun und zu verdrängen. Wer aber vor der islamistischen Ideologie – ihrem Todeskult, ihrem Antisemitismus, ihrem Hass auf Selbstbestimmung – die Augen verschließt, dem fällt stets nur ein und dieselbe „Ursache“ für den Terror ein: Israel und die USA. Das Resultat ist eine paradoxe Umkehr der Verantwortlichkeit: je mehr Terror, desto größer die „Schuld“ der USA. Je höher die Opferzahlen in Amerika, desto intensiver der Antiamerikanismus in der Welt.

Die Beliebtheit dieser Schuldzuweisung hat mit der Hoffnung zu tun, die sie suggeriert: Wenn der Terror der Islamisten in der Politik der USA seine Ursache hat, bedarf es nur der Politikveränderung und schon ist man den bösen Spuk los. Auf diese psychologische Dynamik kann Al Qaida sich verlassen: je verheerender der Terror, desto zwingender das Bedürfnis nach Selbstberuhigung. Je blutrünstiger der nächste Anschlag in Europa, desto größer die Wut auf die USA.

Dieselbe Umkehrlogik ist uns vom Nahostkonflikt und seiner verzerrter Rezeption vertraut: Wer den Antisemitismus der Hamas ignoriert, muss für den Selbstmordterror andere Erklärungen finden, und was bleibt, ist: Israel! „Je barbarischer der antijüdische Terror, desto ungeheuerlicher die israelische Schuld!“, lautet dann die Devise. Mit diesem Kurzschluss wird Israel zum Sündenbock für den Terrorismus gestempelt und das „Der Jud ist schuld“-Stereotyp auf die Höhe der Zeit gebracht – ein Vorgang, der den Intentionen der Attentäter ohne Zweifel dient. So wird Verzicht auf Klarheit zum Beginn von Komplizenschaft.

Deutsche können Amerika den Judenhass der Islamisten erklären, hatte David Gelernter vor sechs Jahren notiert und hinzugefügt: „… weil Deutschland seine Vergangenheit ernst nimmt.“ Heute erleben wir, dass der Antisemitismus der Hamas, der Hisbollah und des iranischen Regimes in Amerika zur Sprache kommt – in Deutschland aber nicht. Obwohl Irans Atompolitik den Nahen Osten in den Schatten eines nuklearen Holocaust zu stellen droht. Oder weil? Ist es gerade die Nähe zum historischen deutschen Verbrechen, die Erkenntnis und Einsicht blockiert? Die Frage, ob Deutschland die aus seiner Nazivergangenheit resultierenden Schlussfolgerungen gezogen hat, beantwortet sich nicht in Sonntagsreden, sondern konkret. (Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 25.11.2007)

Die geteilte Wahrheit /Tagesspiegel

Die geteilte Wahrheit
Kabale, Ketzer, Kommunisten: zur Debatte um die DDR-Dissidenten Robert Havemann und Wolf Biermann
Von Kerstin Decker 25.11.2007 0:00 Uhr

Es gibt kein Denken ohne Begriffe. Sie sind das Werkzeug des Geistes. Der Einfachheit halber benutzen wir immer dieselben: Dissident zum Beispiel. Oder Regimegegner. Oder Unrechtsstaat. Was sich denken lässt, ist damit schon vorentschieden. Und was sich nicht denken lässt, auch.

Nächste Woche erscheint Florian Havemanns Roman „Havemann“, und schon vorab ist er in vieler Munde. Weil der Sohn des Oberdissidenten der DDR darin große Löcher macht in die Dissidentenaura seines Vaters Robert und in die des Vizedissidenten Wolf Biermann gleich mit. Was, der Vater hat antisemitische Briefe geschrieben? Und Biermann hat vorher gewusst, dass er rausfliegt aus der DDR, wenn er in Köln singt anno 1976? Letzteres ist zwar keine neue Nachricht, aber für viele wächst nun doch die Irritation. Warum eigentlich? Weil das Wort Dissident, Andersgläubiger also, klingt wie der Gute, Aufrechte, Gerechte. Und nun sollen Havemann und Biermann auch teilgebückt und ungerecht gewesen sein.

Beide verstanden sich als Kommunisten, darum waren sie gegen ihre Glaubensbrüder an der Macht. Wir sind die echten Kommunisten! Fast alle Unterzeichner des Protests gegen die Biermann-Ausbürgerung sahen sich als Kommunisten. Der „Spiegel“ nannte sie vor Jahresfrist „Helden“. Man sollte sich das unter den Bedingungen der wiederkehrenden einfachen Weltbegriffe klarmachen: Diese Dissidenten waren Kommunisten und galten trotzdem als die Guten, gerade im Westen.

Die Formel von den „zwei Diktaturen auf deutschem Boden“ ist formal richtig, aber nur eine Teilerkenntnis. Absurd zu denken, die Gegner der Nationalsozialisten hätten je argumentiert: Wir sind die besseren Nazis! Wenn der Parallelruf in der DDR – Wir sind die besseren Kommunisten! – aber nicht nur möglich, sondern wirklich und wirksam war, muss die Wahrheit tiefer liegen. Natürlich, wer sich heute einen Kommunisten nennt, ist entweder Zyniker oder nimmt die zugehörige Weltanschauung noch immer als Religionsersatz. Biermann hat das für seine Generation vielleicht am besten gesagt: Wer jetzt noch Kommunist ist, ist wohl nie einer gewesen.

Opposition ist kein Privileg der 68er. Der junge Robert Havemann, Student und Doktorand am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie, hatte vor 1933 seine Kreise, die eigene Familie inklusive, gern mit seiner kommunistischen Weltsicht erschreckt. 1933 sah das schon anders aus. Zu Jahresanfang hatten er und seine Freundin im Auftrag der „Kommunistischen Internationale“ den bald als Reichstagsbrandstifter mitangeklagten Bulgaren Wassili Taneff versteckt. Der Hauptangeklagte war Georgi Dimitroff.

Provokante Gedankenfreizügigkeit konnte lebensgefährlich sein. Nicht nur Florian Havemann hat ein Buch über seinen Vater geschrieben, der vom Volksgerichtshof 1943 wegen Zugehörigkeit zu einer Widerstandsgruppe zum Tode verurteilt wurde – Harold Hurwitz, emeritierter FU-Professor für Soziologie schreibt auch gerade eins. Auch Hurwitz kennt die antisemitischen Briefe vom Frühjahr 1933, aber er lässt keinen Zweifel daran, dass es Tarnbriefe waren (siehe Interview, Tsp. vom 24.11.).

Ein Kommunist im Dritten Reich – das war keine gute Identität, schon gar nicht für einen ehrgeizigen Doktoranden. Und wer wie Havemann gleichzeitig für eine kommunistische Untergrundorganisation arbeitete, durfte alle möglichen Identitäten besitzen, aber keinesfalls seine wahre. Antisemit war nicht die unglaubwürdigste. Ob ein Moment von Ranküne im Spiel war – Havemanns Doktorvater war Jude, viele Professoren und auch der Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts, die jetzt gehen mussten – wer will das entscheiden? Es gibt einen Namen für Havemanns neue Existenzform seit 1933: Doppelleben. Ohne einen sportiven Faktor – wer ich heute bin, entscheide immer noch ich – wird man nicht gut darin. Und Havemann war gut. Selbst die besten Freunde nahmen diese Seite an ihm wahr: „Für Robert stand die Wahrheit nicht an erster Stelle. Viel wichtiger war sein Wirken.“ (Jürgen Fuchs)

Und nun der Zeitsprung in die DDR. Vater und Sohn. Wer jung ist, neigt zu moralischen Unbedingtheiten, braucht Orientierung, erst recht in einer Diktator. Der Vater spricht im Namen der ungeteilten Wahrheit, einerseits, und lebt, andererseits, im Namen der Einsicht: Die Wahrheit ist nicht so wichtig, jedenfalls nicht so wichtig wie ich. Zeigte dieser Kompass nicht in alle Richtungen zugleich? Noch in der Todeszelle der Nazis hatte Robert Havemann „kriegswichtige Arbeiten“ geleistet. Er war nicht zu stellen. Aus solchem Bemerken, Sohnesbemerken, entsteht historische Erfahrung. Sie hat ihr eigenes Recht.

Schon hat mancher Florian Havemanns Roman mit Wolf Biermanns Worten über Havemann junior vom Tisch gewischt: „Ein tragischer Fall.“ Welch dumme Härte. Denn es gibt nicht viele Menschen von so viel reflexiver Kraft, ja fast Weltweisheit, wie Florian Havemann, den Brandenburger Laien-Verfassungsrichter. Auch wenn der radikal subjektive Ton seines Buchs immer wieder das Prätentiöse streift.

Biermann. Es gibt Menschen, auf die man sich im Notfall verlassen kann – und die anderen. Biermann gehört ziemlich eindeutig zur zweiten Gruppe, das haben viele in Ost – und später in West! – bezeugt. Und die Unterzeichner des Protests gegen die Ausbürgerung Biermanns wurden nie müde zu betonen, dass es nicht um Biermann ging, nicht um die Person, nur um den Fall. Ein Prahler, ein Geck, ein Aufreißer, der selbst vor Margot Honecker nicht haltmachte? Biermann selbst schreibt, M. H. habe bei ihm zu Hause „mit zusammengeklemmten, ideologisch weggeknickten Knien“ hochoffiziös in dem Sessel gesessen, der sonst Robert Havemann vorbehalten war. Ja, mein Gott, der Mann ist Künstler.

Bärbel Bohley, Malerin, Dissidentin der vorletzten Stunde und Inkarnation des moralischen Gewissens zur Wendezeit, hörte auf zu malen, als sie Dissidentin wurde. Sie repräsentiert den nicht seltenen Typus des Gegenfanatikers, vermeintlich selbstlos. Biermann sagte immer zuerst „ich“, bevor er „wir“ sagte. In gewissem Sinne ist das beruhigend. In gewissem Sinne gibt es gar nichts Beunruhigenderes als die Selbst-Losigkeiten.

Biermann und Margot Honecker. Das Proletarierkind Margot aus Halle taucht unter bei den Biermanns in Hamburg, wo Wolf gerade erfuhr, dass sein Vater im KZ umgekommen ist. Man hilft einander. Ein Rotfrontkämpfer (Biermanns Großvater) dem anderen (Margots Vater). Wenn Arbeiter nicht Arbeitern helfen, hilft ihnen keiner. Das prägte den Begriff von proletarischer Solidarität. So stellten sich die Kommunisten, die im Osten nach 1945 an die Macht kamen – viele direkt aus den KZs und Zuchthäusern – das neue sozialistische Leben vor.

Sie kannten oft nichts anderes: bedingungslose Hilfe auf der einen Seite, Zuchthaus, Gefängnis auf der anderen. Nur dass jetzt sie die Unwilligen, die Störenfriede ins Gefängnis steckten. Für uns oder gegen uns! Dass sich mit unbedingter (konspirativer!) Solidarität eine Untergrundorganisation oder eine Sekte führen lässt, aber nie eine Gesellschaft, haben die alten Genossen nie verstanden. Aber es war zu keiner Stunde die programmatische Menschenverachtung der Nationalsozialisten, die sie zu Menschenverächtern in der Praxis werden ließ. Es war ihr abstrakter Glaube an ein Ideal.

Ja, wahrscheinlich war Biermann gewarnt worden, dass er nicht zurückdurfte 1976. Aber was ändert das? Biermann gibt auch zu, vorher mit Havemann über diese Möglichkeit gesprochen zu haben. Dass zwischen den beiden Proletarierkindern inzwischen Welten lagen, ja ganze Sonnensysteme, mag man an Margot Honeckers Satz ermessen: „Ach Wolf, wenn du doch mit uns den richtigen Weg gehst, dann könntest du in der DDR der größte Dichter werden.“ – In einem an sich wohlmeinenden Satz lag die ganze Zumutung, Unhaltbarkeit und Dummheit des Systems.

Der furchtbar kluge, vor allem aber klug-furchtbare Oberstalinist Peter Hacks hat einmal gesagt, der häretische Verstand sei selten faltenreich. Er hat – leider – oft recht behalten. Der nächste Verwandte des Dissidenten ist nicht umsonst der Ketzer. Dissidenten und Ketzer haben meist Gegenwahrheiten, Opferwahrheiten, auch Hasswahrheiten. Es sind Wahrheiten, nur meist keine ganzen. Denn ihre Träger kennen selten Distanzen, auch nicht zu sich selbst. Und vielleicht sollte man Menschen misstrauen, die sich notfalls für ihre Wahrheit verbrennen lassen?

Dass Havemann und Biermann schon vom Typus her nicht zu ihnen gehörten, spricht letztlich für sie. Also gab es selbst unter den Dissidenten keinen, an dessen Mut, Moral und Verstand man sich gleichermaßen halten konnte? Einen Gerechten im umfassendsten Sinn? Doch, gibt es. Wolfgang Ullmann war einer. Oder Friedrich Schorlemmer, der 1983 im Lutherhof von Wittenberg ein Schwert zu einer Pflugschar umschmieden ließ, 1988 auf dem Evangelischen Kirchentag mit zwanzig DDR-kritischen „Wittenberger Thesen“ auffiel und nach der Wende dennoch Erich Honecker aufgenommen hätte, als der auf seiner entwürdigenden Flucht durchs Land war.

Seit er vierzehn war, wurde er bespitzelt von der Staatssicherheit, die später erwog, das Problem Schorlemmer mittels Autounfall aus der Welt zu schaffen. Wie viel Grund hätte er zu einer einfachen Wahrheit gehabt. Und er zieht noch immer die schwere vor, die konkrete, die in keine Schublade passt. Nicht aus christlicher Sanftmut – es gibt keine Sanftmut des Denkens – wohl aber aus Achtung vor der eigenen Biografie. (Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 25.11.2007)

Tuesday, November 20, 2007

Im Leben der anderen (Berliner Zeitung)

Im Leben der anderen
Jetzt kommt Licht in die Arbeit der tschechischen Geheimpolizei StB - zwei prominente Fälle zeigen die Perfidie
Daniel Kaiser

PRAG. Ein Jahr der Akten geht zu Ende. In Tschechien begann eine lang aufgestaute Debatte über die kommunistische Geheimpolizei StB (Statní Bezpecnost) und ihre Archive. Nicht, dass das Thema zuvor unbekannt gewesen wäre. Das erste Verzeichnis von Inoffiziellen Mitarbeitern wurde 1992 publiziert, illegal zwar, aber bis auf Ausnahmen, korrekt. Kritiker behaupteten damals, es seien nur schlichte Namenseintragungen, man müsse immer die ganze Geschichte des IM kennen, um zu urteilen. Heute sagen diese Kritiker, die StB-Materialien hätten keine Aussagekraft, weil für die StB Lüge Methode gewesen sei und die Polizei während der Samtenen Revolution viele Unterlagen vernichtet habe.

Zwei Beispiele von Agenten, der eine Freund des jetzigen Ministerpräsidenten, der andere enger Mitarbeiter des Oppositionsführers, zeigen, dass eine Differenzierung dennoch möglich ist.
Der Ministerpräsident Mirek Topolanek lässt sich gerne mit seinem Freund Jaromír Nohavica sehen. Nohavica, ein rothaariger Folksänger aus Ostrava ist nämlich schon seit zwanzig Jahren enorm populär. Als 1992 die inoffizielle IM-Liste erschien, stand auch Nohavica drauf. Knapp bestritt er jeden Verdacht, gab in den 90ern drei gute CDs heraus und übersprang mit seiner Popularität jede Generationengrenze. In diesem Jahr wurde aber in einem noch nicht bearbeiteten Sack ein Dokument vom Januar 1989 entdeckt. Darin verrät Nohavica Leute, die ihm eine Petition angetragen hatten, in der sie die Haftentlassung des Dissidenten Vaclav Havel forderten. Nohavica gab daraufhin zu, dass er gelegentlich einen StB-Offizier getroffen hat, verteidigte sich aber: "Ich saß mit der Hure im Lokal, auf's Zimmer ging ich nie."

Die Medien befassten sich ausführlich mit dem Fall, und bald konnten Journalisten Nohavicas Bekanntschaft mit der Hure einigermaßen rekonstruieren. 1985 war die Polizei auf den jungen aufmüpfigen Liedermacher aufmerksam geworden. Vom größten Folk-Festival im Lande, "Porta" in Pilsen, holte ihn die Polizei ab. Verhöre fingen an, Nohavica wurde mit einem Prozess wegen Aufwiegelung bedroht und verpflichtete sich zur Zusammenarbeit. Noch ist nicht klar, was genau er in den Jahren bis zur Wende der Polizei meldete. Seine persönlichen Akten wurden (wie die Mehrheit der laufenden Akten) im Dezember 1989 vernichtet, und IM-Berichte aus Ostrava gehen die Forscher erst jetzt durch. Der Fall Nohavica zeigt ein Dilemma: Wiegt es schwerer, dass der Sänger dem Regime umfassend schadete, oder dass er demselben Regime diente?

Das andere Beispiel wirft solche Fragen nicht auf. Milos Schmiedberger, Hoffotograf des ehemaligen Ministerpräsidenten und jetzigen Vorsitzenden der oppositionellen Sozialdemokratie (CSSD) Jirí Paroubek, ist auch Hauptautor eines üppigen Bildbandes, der Paroubek auf 400 farbigen Porträts zeigt. Schmiedberger war stets an lukrativen Aufträgen interessiert und, so wurde jüngst publik, meldete er sich in den 70er-Jahren wegen des Geldes freiwillig als IM. Auf perfide Weise setzte ihn die StB gegen ihren Erzfeind Pavel Landovsky ein. Der Schauspieler, ein enger Freund von Vaclav Havel, war populär, heiratete 1975 ein blondes Fotomodell. Doch 1976 wurde Landovsky aus seinem Theater entlassen - aus politischen Gründen. Seinen kleinen Sohn wollte kein Kindergarten aufnehmen, das Geld ging aus, Landovsky trank, seine Frau Eva tröstete sich in einer Beziehung mit dem Frauenhelden Schmiedberger. Der IM wurde direkt beauftragt, auf diese besonders perfide Weise Landovskys persönliche Lage unerträglich zu machen.

Der CSSD-Vorsitzende Paroubek tat die Affäre mit Schmiedberger ab, StB sei halt eine verbrecherische Organisation gewesen, auch im Nachhinein unglaubwürdig. Er scheint nicht gemerkt zu haben, wie dramatisch sich die StB-Debatte verändert hat: Es fing unauffällig an. Im Jahre 2004 schmuggelte eine konservative Senatorin einen Paragrafen in das neue Archivgesetz ein, wonach alle Akten der Geheimpolizei und der Kommunistischen Partei bis 1989 geöffnet werden sollen. Die linke Regierung mochte den Antrag nicht, wollte aber ein eigenes Gesetz an einem Paragrafen nicht scheitern lassen, entschloss sich also, das Gesetz still zu sabotieren. Zwei Jahre lang herrschte im Archiv des Innenministeriums eisiges Klima, in mehreren Fällen wurden vorhandene Unterlagen verleugnet, wenn Forscher Einsicht begehrten. Das stellte sich heraus, als nach den Wahlen 2006 die konservative ODS des Mirek Topolanek an die Macht kam und genau jene Forscher ins Archiv führte, die bis dahin hart mit dem Archivpersonal gekämpft hatten. Aus Papier wurde tatsächlich Gesetz.

Schnell erfassten die Medien die neuen Möglichkeiten. Das größte Interesse galt bekannten Persönlichkeiten aus dem Showgeschäft, wie dem Sänger Nohavica, Schauspielern und Spitzenpolitikern.

Am Anfang hatten die Enthüllungen etwas Komisches: Über IM-Fälle schrieben in der Regel sehr junge Journalisten, die sich zuvor nicht mit der kommunistische Ära beschäftigt hatten. Akademische Historiker, die bis dahin fast nichts zur neuesten Geschichte publiziert hatten, wurden auf diese Journalisten und vor allem auf die neuen StB-Archiv-Verwalter eifersüchtig. Als eine Zeitung die Akten des Staatspräsidenten Vaclav Klaus publizierte (Klaus, eine "feindliche Person", schneidet darin gut ab), sagte ein Historiker im Ernst, das Material sei der Zeitung sicher zugespielt worden, weil eine junge Journalistin sich doch im Archiv gar nicht auskenne.

Offensichtlich wusste er nicht, dass Tschechien heutzutage das liberalste Archivgesetz der Welt hat. Marianne Birthler zeigte sich beim Treffen mit Tschechiens Innenminister Ivan Langer und seinem Archivchef Pavel Zacek (beide waren 1989 Studentenführer) in Berlin beunruhigt über das Ausmaß an Offenheit. Wirklich jeder kann die Akte von jedem einsehen, der in den StB-Materialien vorkommt - als Spitzel oder auch als Bespitzelter. Die Prozedur ist unbürokratisch, aber potenziell rücksichtslos. Ein StB-Opfer kann sich nicht wehren, wenn jemand in seinem 20 Jahre vergangenen Privatleben schnüffeln will. Andererseits finden viele Bürgerrechtler, ordentliche Aufarbeitung der Geschichte sei wichtiger als die Privatsphäre.

Die Öffnung kommt 16 Jahre nach der Wende, die meisten Figuren aus den Archiven sind vergessen, das Reservoir jener, die noch das Interesse der Boulevardzeitungen zu wecken vermögen, ist fast verbraucht. Jetzt beginnt die Kleinarbeit: Das Innenministerium baut ein System auf, das alle Akten digitalisiert und vieles angeblich Vernichtete aus diversen Quellen doch noch rekonstruiert. Es wird Jahre dauern. Die Debatte wird die Massen nicht mehr bewegen. Dafür mag sie ein Niveau erreichen, von dem man noch vor einem Jahr nur träumen konnte.

Berliner Zeitung, 20.11.2007

Saturday, November 03, 2007

Putin und sein Trupp (Berliner Zeitung)

Putin und sein Trupp
Die Jugendorganisation Naschi organisiert nicht nur den Jubel für den russischen Präsidenten, sie zieht auch Kader für Politik und Wirtschaft heran
Katja Tichomirowa

WORONESH. Es ist noch einmal warm geworden in Woronesh. "Ganz und gar ungewöhnlich für den Oktober in dieser Gegend", sagt Wadim Petrowitsch. Er trägt einen Sommeranzug ohne Mantel und blinzelt in die Herbstsonne. "Hier, auf dem Platz, vor dem Büro des Gouverneurs, stehen die Veteranen der Arbeit", sagt der Mann mit fester Stimme. An diesem Vormittag sind es genau vier. Drei alte Damen und er. Sie halten ein Transparent, auf dem steht, der Gouverneur solle sich zum Teufel scheren. "An uns Alten wird ein Genozid verübt", sagt Wadim Petrowitsch. "Wie sollen wir von 2 874 Rubel im Monat leben, das sind nicht mal 100 Dollar. Schon die Heizung kostet 500 Rubel."

"Sie wollen, dass wir alle verrecken", schreit seine Mitkämpferin. "Wir hatten keine Kindheit und keine Jugend! Ein Alter sollen wir auch nicht haben!" Vier Rentner, die sich zu Füßen des Lenin-Denkmals versammelt haben, neunzig Jahre nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Sie trinken Tee aus der Thermoskanne, essen ihre mitgebrachten Piroschki und demonstrieren für das Recht der Pensionäre auf ein Überleben im Russland Wladimir Putins.

Sie tun es unbemerkt, der Platz ist menschenleer, bis auf ein paar Arbeiter, die letzte Stahlverstrebungen an einer Bühne vor dem Gouverneurssitz verschrauben. Lange dürfen die Rentner nicht mehr auf ihrem Posten bleiben, dann müssen sie den Ort räumen für die Jugend - und diese wird zahlreich erscheinen. Es steht eine Großveranstaltung an.

Naschi heißt die Jugend, die hier demonstrieren will, die Unseren. Es sind die Enkel jener Generation, der Wadim Petrowitsch angehört. Sie sagen, dass sie zum "Kommando des Präsidenten" zählen, zu Wladimir Putin. Naschi ist die Jugendorganisation der russischen Präsidentenpartei Edinaja Rossija, Einiges Russland.

Seit Wladimir Putin bekannt gab, dass er bei der Parlamentswahl am 2. Dezember für Edinaja Rossija kandidiert, finden überall in der russischen Provinz Kundgebungen statt, die dem Präsidenten huldigen. Wie an diesem Oktobertag in Woronesh, einer Stadt mit knapp einer Million Einwohnern, 450 Kilometer südöstlich von Moskau.

Die Parlamentswahl, erklärte der Vorsitzende von Edinaja Rossija, Boris Gryslow, dieser Tage, sei eine "Volksabstimmung über Putin".

Und so lautet das Motto des Aufmarsches in Woronesh schon mal: "Putins Plan ist unser Sieg."
Seit einer Woche bereiten sich die Aktivisten von Naschi in Woronesh auf ihre Aktion vor. Im Stabsquartier wird am Abend zuvor noch gewerkelt. Eine Kreissäge lärmt. Holz wird zugeschnitten für die bedruckten Transparente: Auch hier leuchtet "Putins Plan ist unser Sieg" in roter Schrift auf weißem Grund.

Es sind die Farben von Naschi. Alexander Kowaljow führt hier das Kommando. Er ist "Massowik", verantwortlich für die Organisation von Veranstaltungen aller Art, vorzugsweise aber von solchen mit massenhafter Beteiligung. Er macht das jetzt seit eineinhalb Jahren. Seiner Abteilung gehe mittlerweile der Elan etwas ab, sagt er, was ihm Sorge bereitet. "Wir wissen jetzt, wie man solche Veranstaltungen bewältigt. Irgendwie ist der Drive weg." Der Jubel für Putin ist ihnen Routine geworden.

Die Flugblätter sind fertig und im Druck, morgen werden sie die Banner auf den Platz vor dem Gouverneursitz postieren, es müssen noch zusätzlich "Aktive" mobilisiert werden, aber im Prinzip sind Alexander Kowaljow und seine Leute mit den Vorbereitungen fertig. Er rechne mit 500 bis 600 Teilnehmern, sagt Kowaljow. Für seine Putin-Aktionen überlegt er sich gern eine spezielle Tageslosung. Diesmal lautet sie: "Sei in der Mannschaft des Präsidenten und trage Verantwortung für Dein Land!"

"Zu uns kommt nur, wer wirklich interessiert ist", sagt Kowaljow. Im Anschluss an seine Politshow findet am gleichen Ort noch eine Großdemonstration der Gewerkschaften statt. Das sei ein "zufälliges Zusammentreffen", wie der Organisator beteuert, alles verschmelze zu einer großen Aktion zur Unterstützung des Präsidenten.

Dass auch die "staatlichen Ressourcen", sprich die Behörden der Stadt, eingeschaltet sind, garantiere eine rege Teilnahme. "Die haben es einfacher mit der Agitation", sagt Kowaljow. "Sie brauchen nur in den Universitäten und Betrieben anzurufen: Da müsst ihr hin!"
Und sie kommen, zu Hunderten. Am Nachmittag füllt sich der Lenin-Platz in Woronesh. Studenten der verschiedenen Hochschulen wie auch Abordnungen aus den Betrieben nähern sich dem Ort der Kundgebung.

Fahnen werden geschwenkt, die russische Trikolore und das Naschi-Banner, ein Andreas-Kreuz, weiß auf rotem Grund. Junge Frauen stöckeln eingehakt, mit Winkelementen in der Hand, über den Platz und beobachten kichernd das Geschehen. Aus den Lautsprechern wummert die Naschi-Hymne, ein Rap: "Wenn du ein Patriot bist, dein Land wartet auf dich. Dann bist du in unseren Reihen willkommen ... Naschi - immer vorwärts! Naschi - nie zurück! Naschi - auf unserer Seite ist das Volk! Naschi - das ist unser Jahr! Ein Häuserblock nach dem anderen. Ein Bezirk nach dem anderen. Schulter an Schulter für die Bewegung, im Gleichschritt ..."

Auf die Bühne stürmt jetzt, sehr dynamisch, der Massenkoordinator Alexander Kowaljow: "Seid gegrüßt! Jugend!", brüllt er ins Mikrofon. "Ich begrüße auf der Bühne die Leiter der Projekte und Bewegungen, die die Probleme von Woronesh lösen und ihre selbstgesetzten Ziele erreichen wollen!" Eine Gruppe Jugendlicher läuft federnden Schritts auf die Bühne. "Willkommen!", schreit Kowaljow.

Die Gruppe tritt im Gleichschritt nach vorn. "Ich bin Tatjana!", ruft eine junge Frau, "Leiterin der freiwilligen Jugendbrigade! Ich habe keine Angst davor zu sagen: Es gibt keine Verbrechen! Wir werden für Ordnung sorgen in der Stadt!" "Ich bin Nikita!", ruft ein junger Mann, "Leiter der demografischen Bewegung. Ich stelle meine Mannschaft so zusammen, dass es modern wird, drei Kinder zu haben!" "Ich bin Irina! Leiterin der Kulturbrigade. Ich werde dafür sorgen, dass die russische Kultur zu einem Maßstab wird für die ganze Welt!"

Zwischen den Auftritten der Brigade-Führer kreischen ein paar junge Mädchen, die sich vorn vor der Bühne postiert haben, als handele es sich bei den Auftretenden um Popstars. Naschi verspricht seinen Mitgliedern nicht mehr und nicht weniger als eine Zukunft.

Woronesh ist nicht Moskau. In der Provinz muss sich nach der Decke strecken, wer einen gut bezahlten Job finden will. Naschi betreibt zu diesem Zweck ein Programm unter dem Namen Lenta. Es geht um die Rekrutierung "junger, national orientierter Kader" für Posten in der Verwaltung und der Industrie. Wer sich an die Kader-Agentur wendet, so wird versprochen, steht auf der richtigen Seite und profitiert von den richtigen Kontakten.

Dass nur Mitglieder von Naschi in den Genuss dieses Berufsförderungsprogramms kommen sollen, hält Elena Kudrjaschowa für normal. "Selbstverständlich fördern wir nur die Unseren", sagt die Leiterin der Agentur in Woronesh und lächelt gewinnend. Naschi eben. In der Broschüre von Lenta ist von einer Mitgliedschaft nicht die Rede. Es findet sich nicht einmal ein Hinweis darauf, dass Lenta eine Initiative von Naschi ist. Das war vor kurzem noch anders, damals hieß das Programm "Naschi-Profi".

Elena kann nicht erkennen, was an der Verknüpfung von politischer Meinungsbildung und Jobvermittlung schlecht sein soll.

Auch der Rektor der Pädagogischen Universität kann das nicht. Wjatscheslaw Podkolsin ist ein Förderer des Programms. Er sitzt am Konferenztisch seines eben renovierten Büros. Das Porträt des Präsidenten im Blick, erklärt er, Lenta sei eine sehr gute Initiative. "Sehen Sie, zu sowjetischer Zeit war Karriere ein Schimpfwort. Der Staat entschied über die Menschen und ihre Zukunft. Heute leben die jungen Leute unter anderen Bedingungen. Sie wollen sich verwirklichen, ein gutes Gehalt beziehen, ihr Potenzial ausschöpfen und einen höheren Lebensstandard erreichen."

Dass die Bewegung von ihren Kritikern "Naschisti", Naschisten, genannt wird, weil sie mit ihrer Kader-Struktur, ihren Kommissare genannten Agitatoren und Schulungsleitern, mit ihren paramilitärischen Übungen und ihrem Geburtenförderungsprogramm Anleihen bei totalitären Vorläufern nimmt, davon will Podkolsin nichts gehört haben. "Das kann ich nicht glauben", sagt er. "Es mag sein, dass ihre Kampfmethoden mitunter einen anti-demokratischen Charakter haben, aber dass sie eine faschistische Ideologie unterstützen - nein, das glaube ich nicht. Irgendwer muss sie ja führen. Und dann wird diese Organisation ja auch von der Staatsführung unterstützt." Das macht sie in seinen Augen unverdächtig.

Eine Jugendorganisation, die nicht von der russischen Staatsführung, dafür aber von der Europäischen Union unterstützt wird, ist "Golos", Stimme. Das Programm soll die Bürgergesellschaft in den russischen Regionen fördern.

Natalja Swjagina leitet die Aktivitäten von Golos in Woronesh. Nahezu zeitgleich mit den Veranstaltungen von Naschi findet auch eine Aktion von Golos statt. Eigentlich war sie für den Freitag angemeldet, sagt Natalja, aber die Stadtverwaltung hat sie auf den Donnerstag vorverlegt. "Wir wollen die Bürger von Woronesh auf die Gefahr von Verstößen gegen das Wahlrecht aufmerksam machen", erklärt Natalja.

In den vergangenen Jahren habe sich in Russland die Ansicht verfestigt, dass Wahlen per se unehrlich seien, doch keiner könne sagen, worin die Verstöße gegen das Wahlrecht bestehen. "Alle haben sich daran gewöhnt, dass der Gouverneur eine Partei unterstützt", sagt Natalja, "dass der Bürgermeister erklärt, welchen Kandidaten er bevorzugt, dass in den öffentlichen Verkehrsmitteln für die Regierungspartei geworben wird." Niemand sehe darin einen Verstoß gegen das Wahlgesetz. Ihre Organisation wolle daran erinnern, dass es dieses Wahlgesetz gibt, dass es von der Regierungspartei verabschiedet wurde und dass sich alle an dieses Gesetz halten müssen, auch die Regierungspartei.

Natalja ist eine ernste, selbstbewusste Person. Dass ihre Initiative kaum Mitglieder findet, kann ihren Elan nicht bremsen. Golos hat kein Stabsquartier, Golos bekommt keine staatliche Unterstützung, es tritt auch kein russischer Politiker für die Ziele der Gruppe ein.
"Das sind tapfere Leute", sagt Andrej Jurow, Ehrenpräsident des Youth Human Rights Movement, eines internationalen Netzwerkes von jungen Menschenrechtsaktivisten, "aber es interessiert sich hier keiner für sie." Das Gros der russischen Jugend sei vollkommen unpolitisch.
Und Naschi?
"Bullshit", sagt er, "wenn man ihnen mehr Geld und einen noch besseren Job verspricht, demonstrieren sie morgen für die Opposition."
Berliner Zeitung, 02.11.2007

Im Geist, der stets vereint (Tagesspiegel)

Im Geist, der stets vereint
„Haut ab“, rufen sie, „das ist unsere Straße.“ Sie wohnen in der Oderberger, Prenzlauer Berg. Und kämpfen gegen die Sanierung. Denn danach wäre ihr Quartier ja wie jedes andere
Von Nadja Klinger 3.11.2007

Wenn man den Geist sehen könnte, hätte er eine armeegrüne Schirmmütze auf dem Kopf. So wie Oskar Neumann. Er würde berlinern, große Biere trinken und Zigaretten drehen. Er hätte Augen wie Karin Powilleit. Augen, die groß werden, sobald es Neuigkeiten gibt, die rollen, wenn eine Sache aus dem Ruder läuft. Man nennt ihn den Geist der Oderberger Straße. Jedermann, aber auch wirklich jeder hier, kann ihn beschwören. Jens-Holger Kirchner, Stadtrat von Pankow, hat das erlebt. Es hat ihn wütend gemacht. Aber dazu später.

Vor Jahrzehnten fing alles an. 1986 beschloss der Berliner Magistrat, die Gründerzeithäuser in der Oderberger Straße in Prenzlauer Berg abzureißen und Plattenbauten hinzustellen. In den Altbauten steckte der Schwamm, Fenster waren marode, Fassaden bröckelten, Balkone stürzten ab, viele Wohnungen hatten Außenklos. Doch die Anwohner hatten mit Maurerkellen ihre Wohnungen, mit Hacke und Spaten die Straße schön gemacht. Zwischen Häusern hatten sie den „Hirschhof“ geschaffen, sie spielten unter Bäumen Theater, zeigten Filme, feierten Feste. Die Anwohner verteidigten sich selbst. Normalerweise war der Wohnbezirksausschuss der Nationalen Front ein Gremium aus folgsamen Bürgern, das überall in der DDR demokratisches Mitbestimmen simulierte. Sie besetzten ihn sozusagen. Sie machten aus ihm, was er vorgab zu sein. Der WBA rettete ihre Häuser. In der Oderberger ging es wirklicher zu als in der Wirklichkeit.

Als es die DDR nicht mehr gab, drohten Sanierung und hohe Mieten. Das Aktionsbündnis, das sich in der Straße fand, um etwas gegen die Verdrängung der Bevölkerung zu tun, nannte sich „Wir bleiben alle“. Abgekürzt: W.B.A. Im Sommer 1992 folgten dem W.B.A. 20 000 Menschen auf eine Demonstration gegen Mieterhöhungen im Osten. In der Oderberger zimmerte man Bänke, setzte Sträucher und Bäume. Man eroberte die eigene Straße und machte sie zum Lebensraum. Auf etwa 500 Metern, die über die Kastanienallee hinweg zum Mauerpark führen, gibt es heute über 30 Kneipen, Cafés, Restaurants, Imbisse, zudem Mode-, Secondhand- und Bioläden. Pflanzen ranken und räkeln sich, Touristen drängen über Gehwege, die mit Mobiliar und Pflanzkästen voll gestellt sind. Die Oderberger ist ein modernes Stück Berlin. Deshalb konnte auch hier nicht verhindert werden, dass viele Menschen kamen und viele gingen. Höchstens ein Fünftel der Anwohner, heißt es, waren schon zur Wende hier.

Und nun spendiert Berlin 2,5 Millionen Euro. Der Bezirk Pankow will mit dem Geld endlich kaputte Wege und die Fahrbahn der Oderberger sanieren. Für den Bau sollen die Gehwege geräumt werden, nach der Sanierung ist wild Wachsendes und selbst Gezimmertes nicht mehr vorgesehen. Die Straße wird „grundhaft erneuert“, sagt das Tiefbauamt. Der Duden kennt „grundhaft“ nicht. Es ist kein Wort, sondern ein Streich. Liefe alles nach Plan, wäre die Oderberger bald verschwunden.

Warum hat S.T.E.R.N., die sich Gesellschaft der behutsamen Stadterneuerung nennt, diesen Sanierungsplan, den sie in Auftrag gab, nicht moniert? Warum hatte Jens-Holger Kirchner, der als Stadtrat für Europas größtes zusammenhängendes Sanierungsgebiet, den Prenzlauer Berg, verantwortlich ist, nichts einzuwenden? Beide mussten wissen: So schnell gibt eine Straße ihren Geist nicht auf.

Kirchner wird bald 48. Nach der Wende saß er am Runden Tisch, in der Bezirksversammlung. Seit 2001 ist er bei Bündnis 90/Die Grünen, seit einem Jahr Bezirksstadtrat für Öffentliche Ordnung und Verkehr. Manchmal setzt er beim Unterschreiben hinter seine Vornamen noch einen in Klammern: Nilson. Unter diesem Spitznamen kennt man ihn hier. Nilson Kirchner fährt mit dem Rad vom Bezirksamt ins Café „Ost Fee“ in der Oderberger Straße. Hier hat sich in der Nacht zuvor die Bürgerinitiative getroffen. Die Tische waren zusammen geschoben, man redete durcheinander, fuchtelte. Kirchner erinnert sich gut, wie es ist, wenn Bürger Aktion machen. Er selbst steht nun einem Amt vor. Er ist rechenschaftspflichtig, steckt in Sachzwängen. Sein alter Spitzname hockt in den Klammern wie weggesperrt. Er bestellt Chai Latte. Welche Sorte?, fragt die Kellnerin. Er wählt Tiger. Er sagt: „Hauptsache stark.“

Als er im September im Saal des Bezirksamtes den Sanierungsplan vorstellte, riefen Anwohner: Das ist unsere Straße! Haut ab! Baut woanders! Berlin hat 60 Milliarden Schulden, und die wollten nicht 2,5 Millionen geschenkt haben? Kirchner verstand das nicht. „Aber wütend wurde ich erst, als 25-jährige Zugezogene mir vom Geist dieser Straße erzählten.“ Er glaubt gesehen zu haben, wie bei jungen Leuten Selbstgerechtigkeit aus jeder Pore tropfte. Er sagt: „Selbst in der Wendezeit, als vieles weh tat, als es um Stasi und so ging, da fehlte nie der Respekt.“

Wenn der Geist der Oderberger Straße eine Biografie hätte, dann wäre es die von Oskar Neumann. Unter seiner Schirmmütze sind Igelfrisur und Geheimratsecken versteckt. Der 36-Jährige hatte eine ABM als Gärtner in der Oderberger. Er studiert Biologie, unterrichtet Bio und Mathe als freier Lehrer, führt Besucher durchs Naturkundemuseum, arbeitet für ein Planungsbüro und in der Altenpflege. Außer neun Wasserschildkröten pflegt er den rothaarigen Kater einer Frau, die ins Pflegeheim musste. Oskar Neumann ist in der Oderberger aufgewachsen und wohnt hier immer noch. Er hat sie in sich. Obwohl nur rund 20 von 2500 Anwohnern in der Bürgerinitiative gegen den Sanierungsplan mitmachen, ist sie für ihn eine Straße der Gleichgesinnten. Er wittert den Feind. Er lehnt Hilfe, die Parteien und Politiker anbieten, nicht ab. Aber er fürchtet: „Die wollen sich den Erfolg auf ihre Fahnen schreiben.“

Abends geht er jetzt oft ins „Entwederoder“. Die Bürgerinitiative hat die Kneipe zu ihrer Schaltzentrale gemacht. Da sitzen sie, kluge Köpfe, die um Ideen ringen. Sie haben eine Umfrage unter den Anwohnern gemacht. Wie sie die Oderberger haben wollen, fragten sie. Es ist ein großer Wunschzettel draus geworden. Die Bürger wollen noch mehr Spielfläche und Bänke, es ist ihnen aber auch zu laut. Sie wollen mehr Grün, aber auch ihre Parkplätze behalten. Nach Wunschzetteln kann man kein Ziel formulieren.

Nicolas Grohmann hat die Bürgerinitiative mitgegründet. Er ist 29 Jahre alt, Grafikdesigner, arbeitete in Portugal am Meer, eher er Sommer 2005 ins mürrische Berlin zurückkam. Er lief durch die Oderberger und blieb. Jeden Abend trägt er portugiesische Pflanzen vom Balkon ins warme Zimmer. Er findet, dass die Gehwege dringend repariert werden müssen. Er sagt „wir“, wenn er von der Oderberger spricht.

Auf den ersten Bürgertreff nahm er Papier und Edding mit. Wollte Brainstorming machen. Oskar Neumann hat gesprochen. Ruhig, bestimmt, alle lauschten. Grohmann hielt sich zurück. Er schlug eine Kampagne vor, um an die Öffentlichkeit zu gehen. Er sprach über Inhalt und Farben, über den richtigen Moment. Irgendwie kam das nicht an. Auf der nächsten Versammlung sagte er: „Wir brauchen Strukturen. Es muss klar sein, was unser Ziel ist.“ Jemand erwiderte: „Der Weg ist das Ziel!“ Grohmann sagt: „Verständigung ist ein großes Problem.“

Immer wenn dieses Problem auftritt, rollt Karin Powilleit mit den Augen. Sie lebt seit 20 Jahren in Berlin, seit zweieinhalb in der Oderberger Straße. Die Terrasse vor ihrer Küche liegt neben Oskar Neumanns Hof. Bis vor kurzem hat sie mit ihm nur über Pflanzen geredet. Sie ist Tischlerin. Sie trägt Hemden und weite Pullover über Hosen. Sie fährt Motorrad, rangiert große Autos mit Ladefläche. Wenn sie in Fahrt kommt, geht eine Sache richtig los.

Im September im Bezirksamt hat sie einfach in den Saal gerufen. Ob er sicher sei, dass die Oderberger wirklich saniert werden würde, hat sie den Stadtrat spitz gefragt. „Herr Kirchner hat mich angesehen, wollte antworten, hat es dann gelassen“, sagt sie. Es war der Moment, da sie in Fahrt geriet. Seitdem fährt sie sonntags in die Werkstatt, um Arbeit nachzuholen, von der die Oderberger sie abgehalten hat.

Die Bürgerinitiative recherchiert. Müssen Wasserleitungen unter den Wegen saniert werden? Sind DDR-Laternen baufällig? Verbrauchen sie zu viel Energie? Kann man ihre Straße, so wie sie ist, unter Denkmalschutz stellen? „Die Laternen sind nicht mein Geschmack“, sagt Karin Powilleit. „Aber ich finde es nicht schön, dass in der Stadt mit den Dingen die Zeit entsorgt wird, zu der sie gehörten.“

An jenem Abend, da sie im Café „Ost Fee“ die Tische zusammenrücken, reden sie von Leitungen, Abwasser, Strom und Beton, von Rotdorn, Platane, Lapplandweide, Eschenahorn. Wollen abstimmen, welche Bäume weg sollen. Jemand sagt: Wir sind hier, um zu bewahren! Oskar Neumann schiebt seine Mütze über die Stirn auf den Hinterkopf, zieht sie wieder zurück. Jemand sagt: Der Geist unserer Straße ist das Engagement!

Sie reden, streiten. Draußen vor der Tür die Raucher, drinnen stehen sie mit roten Köpfen am Tisch. Manchmal kommt jemandem eine Idee, mit der er selbst nicht gerechnet hat. Sollen sie Visionen vertreten oder sich nach der Bürgerumfrage richten? Autofreies Wohnen oder Parkplätze? Karin Powilleit rollt mit den Augen. Sie ruft immer öfter dazwischen. Oskar Neumann legt seine Hand auf ihren Arm, um sie zu bremsen. Sie schmeißt sein Bierglas um.

Jens-Holger Kirchner hat Post vom Senat bekommen. Dort hat man in der Zeitung gelesen, was in der Oderberger los ist. Man wolle sie mit den Millionen nicht zum Glück zwingen, ließ man wissen. Kirchner hat sofort beschwichtigend geantwortet. „Ich will, dass die Straße Pilotprojekt ist“, sagt Karin Powilleit spätabends am Tisch, „ein Beispiel dafür, dass eine Stadt von Toleranz und machbarer Abweichung von den Regeln lebt.“ Der Geist ist hier, mitten im Raum. Jemand fügt hinzu: Wenn dem Senat nicht passt, was hier los ist, soll er sich eine andere Stadt suchen.