Knaller an der Zeitungsfront

Friday, November 30, 2007

Die unglaublichsten Lebensgeschichten (Tagesspiegel)

Feuilleton
Nachrufe
Die unglaublichsten Lebensgeschichten
David Ensikat ist eine Ausnahme in seinem Beruf: Er arbeitet als Nachruf-Redakteur beim Berliner Tagesspiegel.

Sie haben ständig mit dem Tod zu tun…
Nein, mit dem Leben. Sicher, bei meiner Arbeit geht es um Verstorbene, aber mir als Nachrufschreiber geht's um das Leben, das sie geführt haben und was da Bemerkenswertes passiert ist. Das recherchiere ich und arbeite es auf. Das ergibt dann je nach Qualität und Substanz der Geschichte zwischen 80 und 250 Zeilen Text. Der Tod findet da, wenn überhaupt, nur auf ein paar Zeilen statt.

Was reizt Sie daran, Nachrufe zu schreiben?
Man lernt etwas über das Leben, das angeblich alltägliche, aber jedes Mal einzigartige. Es geht ja nicht darum, Karriere, Verdienste oder Auszeichnungen aufzulisten oder ein Leben von A bis Z chronologisch nachzuzeichnen. Es geht um jene Geschichten, die jedes Leben besonders machen.

Von welchen Lebensläufen sind Sie denn überrascht worden?
Zum Beispiel von Renate Weinberg. Eine Frau, die während einer Psychoanalyse mitten im Zweiten Weltkrieg ihre Träume aufgeschrieben hatte. Oder Heinz-Friedrich Wendt, der ein scheinbar geschlechtsloses Leben geführt hat und nur für die Sprache da war - er war Cheflektor bei Langenscheidt. Im Krieg hatte er wegen seiner Sprachbegabung in Görings Spionage-Amt gearbeitet.

Und wie kommen Sie an die Todesfälle? Hinterbliebene rufen Sie an…
…und bitten mich bzw. einen unserer Autoren zu sich, damit wir das Leben des Verstorbenen besprechen. So entstehen etwa die Hälfte unserer Nachrufe. Die andere recherchieren wir selbst, meine sieben freien Autoren und ich. So sichten wir Todesanzeigen, rufen nach einiger Zeit die Hinterbliebenen an, die dort aufgeführt sind, und fragen sie, ob sie mit einem Besuch von uns einverstanden sind.

Aber was Sie über den Toten erzählt bekommen, ist doch sicher oft geschönt?
Ja, das mag sein. Aber wir sind nun mal abhängig von dem, was uns erzählt wird. Die ganze Wahrheit kennen wir nicht, und die Frage ist, ob die Angehörigen sie kennen. Wenn es möglich ist, Zweifelhaftes oder Unvollständiges nachzurecherchieren, dann versuchen wir das. Aber einen vollständigen Wahrheitsanspruch kann man bei einer Tätigkeit wie der unseren realistischerweise nicht haben.

Die Angehörigen haben sicher andere Erwartungen an den Nachruf als Sie?
Ja, manche erwarten nichts als eine Würdigung des Toten, also eine positive Charakterisierung, oder auch einen umfassenden Lebenslauf - Schulabschlüsse, Ausbildungen, Familiengründung, Hobbys, Ehrungen. Den Leser aber, der den Menschen nicht kannte, würde das langweilen. Also versuchen wir, das Bemerkenswerte, Beklemmende, Traurige und auch Lustige aus diesem Leben zu erfragen und aufzuschreiben.

Auch Lustiges?
Wenn der Humor in einem Leben einen wichtigen Platz hatte oder wenn skurrile Situationen erzählt werden können, warum soll das im Nachruf keinen Platz haben?

Wurde Ihnen schon mal ein "Honorar" geboten, damit Sie einen Nachruf nach dem Geschmack der Hinterbliebenen drucken?
Nein, das ist noch nie passiert. Aber fertig getextete Nachrufe bekomme ich durchaus schon mal vorgelegt, ja. Aber das geht natürlich nicht, wir recherchieren und schreiben es schon selbst.

Die Besuche bei Hinterbliebenen, die bedrückende Atmosphäre, Tränen, die vergossen werden - belastet Sie das nach sieben Jahren nicht seelisch?
Da gibt es Möglichkeiten, sich dagegen zu wappnen. Ich sitze als Journalist bei diesen Leuten, meist drei Stunden lang. Die Atmosphäre präge ich mit meinen möglichst sachlichen Fragen. Einmal allerdings ging mir eine Geschichte derart unter die Haut, da saß ich mit meinem Block auf dem Sofa und hatte Tränen in den Augen.

Welche?Bei einem Verkehrsunfall waren ein Mann, seine Lebensgefährtin und ein elfjähriges Mädchen, die Nichte des Fahrers, ums Leben gekommen - auf dem Rückweg von der Beerdigung des Großvaters. Mein Sohn ist auch elf Jahre alt.

Gibt es Reaktionen auf die Nachrufe?
Ab und zu sagt eine Familie Dankeschön, lobt den Text oder sagt, wie gut das Gespräch getan hat. Manchmal, selten kommt's auch anders. Für den Nachruf auf einen Ex-RIAS-Chefredakteur hatte die Autorin mit seiner Tochter gesprochen. Die berichtete schonungslos über ihren Vater, der ein ziemlich kalter Krieger gewesen war. Nach der Veröffentlichung rief mich ein Ex-Kollege des Verstorbenen an und sagte: "Genauso war er - unausstehlich, ein Tyrann! Aber so deutliche Worte gehören doch nicht in einen Nachruf!"

Was gibt es an Reaktionen, wenn Sie sich mit Ihrem Beruf vorstellen?
Verständnislosigkeit, ungläubiges Staunen: Wie bitte, Nachruf-Redakteur? Einige lachen auch hämisch, fragen, ob ich die schwarzen Linien um die Todesanzeigen ziehe. Nachrufe zu schreiben ist nicht leicht, aber wunderbar! Immer wieder stößt man auf die unglaublichsten Lebensgeschichten. Was will ich mehr als Journalist?
Interview: Michael Santen

Zur Person
David Ensikat wurde am 12. Juni 1968 in Ost-Berlin geboren. Er studierte Geschichte und Publizistik, begann 1998 als Volontär beim Berliner "Tagesspiegel". Seit Oktober 2000 ist er Redakteur der Nachruf-Seite, die stets freitags erscheint. Er ist Autor der Bücher "Was bleibt - 50 Nachrufe auf unbekannte Berliner" (Berliner Taschenbuch-Verlag) und "Kleines Land, große Mauer" (Piper). David Ensikat lebt mit seiner Freundin in Berlin, hat eine Tochter (5) und einen Sohn (11).

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