Knaller an der Zeitungsfront

Friday, November 30, 2007

Was braucht man eigentlich zum Leben?

Vom Luxus des Verzichts
Was braucht man eigentlich zum Leben?
Die US-amerikanische Schriftstellerin Judith Levine hat ein Jahr nur das Nötigste eingekauft.
Von Johannes Gernert

Manchmal war ihr auch einfach langweilig. Judith Levine saß dann auf dem Sofa in ihrem New Yorker Apartment und überlegte, was sie unternehmen könnte. Griechisch lernen vielleicht? Oder noch ein Buch aus der öffentlichen Bibliothek lesen? Sie hatte Zeit, viel Zeit. Es war für sie ein neues, ein ungewohntes Gefühl.

Judith Levine ist 55 Jahre alt, hat kurze, graue Haare und trägt gerne eine schwarze Hornbrille, ihr Beruf: Schriftstellerin. Vor ein paar Jahren kam sie auf die Idee des Konsumverzichts. Wie lässt sich das Leben ertragen, wenn man nur noch das Nötigste einkauft? Und auf jeden Luxus verzichtet, sich also ein Jahr lang keine neuen Klamotten leistet, keine Elektro-Accessoires, auch nicht in Restaurants, Kinos oder Theater geht, sich keinen Kaffee zum Mitnehmen gönnt und keine DVDs aus der Videothek ausleiht. Weg mit dem Überfluss, denn bevor sie das Experiment startete, entdeckte sie in ihrer Speisekammer acht Sorten Reis, sechs Öle und neun Essigsorten. Viel zu viel. Ihr Lebensgefährte Paul machte mit bei dem Experiment, auch wenn er anfangs ein wenig meckerte, weil sein Wein nicht zu den notwendigen Lebensmitteln zählte.

Isoliert, ohne die neuen FilmeAnfangs fiel es Judith Levine schwer, sich von den Auslagen in den Schaufenstern New Yorks nicht verführen zu lassen. Sie entdeckte beispielsweise limetten-grüne Schuhe, die sie zu gerne gehabt hätte. Zweimal konnte sie den Versuchungen nicht widerstehen und kaufte sich eine Hose und ein Shirt. Aber sie fühlte sich nicht gut danach. Je länger sie verzichtete, desto unwichtiger wurden Dinge wie die limetten-grünen Schuhe. Das "Jagdfieber", die Lust am Stöbern und Suchen, ließ nach. Sie verbrachte stattdessen viel Zeit mit ihrem Partner. Schon nach den ersten Ausflügen dachten sie daran, Proviant mitzunehmen, weil sie ja nichts kaufen wollten. Irgendwann fingen die beiden an zu backen, zu basteln, falteten Origami-Papierfiguren. Samstags gingen sie in die Bibliothek. Paul lernte dort kostenlos Italienisch.

Aber sie merkten auch, wie schwierig es ist, Freundschaften zu pflegen, wenn man kein Geld ausgeben will. Nach der Lesung eines Freundes noch zum Chinesen? "Ich hätte bei einem Glas Wasser dabei sitzen können", sagt Levine, "während die anderen aßen." Sie fühlte sich isoliert, wenn sie immer wieder sagen musste: "Nein, keine Kneipe. Lass uns doch ein paar Schritte laufen." Sie fürchtete, dass sich ihre Freunde langweilen würden. Es fehlten ihr nicht nur die Kinobesuche, sondern auch die Themen, die neue Filme, Theaterstücke und Bücher liefern. In den öffentlichen Bibliotheken gab es nur alte Bücher. Zu der Zeit kam auch Michael Moores "Fahrenheit 9/11" in die Kinos, der eine politische Diskussion entfachte. Levine hat ihn bis heute nicht gesehen: "Ich habe auch gemerkt, dass solche Phänomene schnell vorüberziehen. Besonders in New York strömen permanent neue Dinge auf dich ein. Wenn du dich teilweise davon abkapselst, wird alles viel langsamer."

Manchmal stellte sich Levine vor, wie die Menschen während des Kalten Kriegs im Ostblock gelebt hatten und wie sie damit umgingen, nicht alles kaufen zu können. Die Menschen wünschten sich Produkte, sie sehnten sich nach großer Auswahl in Geschäften, aber die habe es nicht gegeben, sagt Levine. Dafür hätte die Familie eine viel größere Bedeutung gehabt, so ihr Eindruck.

Nach ein paar Monaten besuchte sie auch die Therapiegruppe "Simple Living". Dort trafen sich Menschen, die ständig einkaufen wollen. Man saß in der Wohnung eines Mitglieds zusammen und redete über Konsum und Verzicht. Einige Teilnehmer erzählten von ihrem Konsumrausch, von der Sucht, immer wieder einkaufen zu müssen. Ein paar Leute planten ernsthaft, größere Kühlschränke zu kaufen, um noch mehr Lebensmittel lagern zu können.

Kekse als Geschenk

Als das Jahr vorbei war, staunte Judith Levine, denn sie hatte nicht nur abgenommen, sondern auch viel Geld gespart. Mehr als umgerechnet 5000 Euro konnte sie an Kreditkartenschulden zurückzahlen. Und ihr Bewusstsein hatte sich verändert. Sie sagt, dass sie inzwischen kritischer einkauft. "Ich frage mich: Woher kommt das Produkt? Welche Ressourcen sind verwendet worden? Wo landet es, wenn ich es nicht mehr benutze?" Sie hat gelernt, was sie wirklich benötigt und was nicht. Und sie konsumiert weiterhin weniger, dafür spendet sie mehr: für Frauengruppen, Hilfsorganisationen für Gefangene und Umweltverbände.

In diesen Tagen, wenn die Weihnachtseinkäufe beginnen, wird sie wieder viel Zeit haben. Levine und ihr Lebensgefährte Paul werden zu Hause bleiben. Sie werden Plätzchen backen, sie in selbst gestalteten Kartons verpacken und zu Weihnachten verschenken. Der Einkaufstrubel ist ihnen zuwider. In dem Gewühl ist Judith Levine vor vier Jahren auch der Einfall für ihr Experiment gekommen. Sie stand im Regen mit aufgeweichten Papiertaschen und dachte: "Ich kaufe einfach gar nichts mehr. Ein Jahr lang." Die Freunde, die Kekse geschenkt bekommen, sind ihr und Paul übrigens nicht böse: "Die wissen genau, dass sie sich für uns auch nichts besonders Großes überlegen müssen."

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