Knaller an der Zeitungsfront

Thursday, August 31, 2006

Die Wellenbrecher (SZ)

Die Wellenbrecher
Serienklassiker des Fernsehens (4): Mit Knollennase Karl Malden und Jungspund Michael Douglas durch die "Straßen von San Francisco".
Von Sebastian Schoepp

Das Fernsehen als Sammelplatz der Familie - noch immer teilen sehr viele Menschen diese Erfahrung, und bereichert wird diese Erfahrung vor allem durch einige Serien, die über Jahre liefen, die die Gesprächskultur prägten und irgendwann Kult wurden. In einer Reihe beschreibt die SZ diese TV-Klassiker.

Vorspann ab: Jemand hämmert gnadenlos auf die Tasten eines getunten E-Pianos, und schon ist die Gänsehaut wieder da. Wackatschacka-Wackatschagatak: Fisherman’s Wharf, Golden Gate, Cable Car, Telegraph Hill blitzen in schnellen Schnitten auf. Der Gitarrist tritt sein Wah-wah-Pedal durch wie ein flüchtender Gangster das Gaspedal. Die Bläser setzen ein, und eine vertraute Knollennase erscheint auf dem Bildschirm: Karl Malden als Lieutenant Mike Stone. Danach ein blonder Jungspund namens Michael Douglas als Inspektor Steve Heller. Hallo Freunde!

Wer Die Straßen von San Francisco mit einem Abstand von 20 Jahren einschaltet, dem fallen zwei Dinge auf: Patrick Williams’ Funk-Intro würde noch heute die Playlist jedes Club-DJs adeln. Die Handlung hingegen kommt einem harmloser und vorhersehbarer vor als früher. Aber damals war man Sechstklässler und schreckte vor nichts zurück, um freitagabends länger aufbleiben zu dürfen. "Mama, wenn ich die Spülmaschine ausräume, darf ich dann Die Straßen von San Francisco sehen?"

Meistens durfte ich, denn Karl Malden und Michael Douglas gehörten zur Familie. Zwar wurde auch in dieser Serie gemordet und gestorben, doch das bekam man selten richtig mit. Und wie der väterliche Lieutenant dem nassforschen Inspektor Lebensweisheit und Gelassenheit beibrachte, davon konnte sogar Papa was lernen - auch wenn nicht alle Tipps jugendfrei waren. Bei Ermittlungen im Hippie-Milieu bietet ein sympathisch-ausgeflippter Dichter den beiden tatsächlich einen Joint an: "Probieren Sie meine Marke, Oregano!" Beim Rausgehen flüstert Heller seinem Vorgesetzten zu: "Das war doch Marihuana, was der da geraucht hat!" Stone: "Aber es hat wunderbar gerochen." Heller: "Willst du ihn nicht festnehmen?" Stone: Wegen was? Wegen Besitzes von Oregano?"

Das war aber schon das Maximum an Lässigkeit, weshalb Die Straßen von San Francisco - anders als die von der deutschen Synchro zu geschwätzigen Gagparaden aufgeblasenen Starsky und Hutch oder Die Zwei - nie eine Kultserie wurde. Ein Kritiker merkte an, eigentlich sei sie eher ein Werbespot für die Ford Motor Company. Wenn Stones’ und Hellers riesiger, weich gefederter LTD bei den Verfolgungsjagden durch die achterbahnartige Stadtarchitektur wie ein blecherner Haifisch in die asphaltenen Wellentäler tauchte, dass der Auspuff Funken schlug, kam mir Vaters Opel Rekord noch kleinpopliger vor als sonst. Alles war größer und breiter, amerikanischer eben: die Koteletten in den Gesichtern der Bösewichte, die Krawatten und die Schlaghosen sowieso.

Väterliche Contenance

Zum ersten Mal flimmerte hier der blumige Geist von Haight-Ashbury durch deutsche Wohnzimmer. Noch 1995 hieß es im Reiseteil der Süddeutschen, San Francisco sei den Deutschen durch die Serie eine "vertraute Welt". Es war der kalifornisch-sonnige Gegenpol zu den düsteren Straßenschluchten Manhattans, wo der Zyniker Theo Kojak ermittelte. Der gütige Lieutenant Stone hingegen hatte die Fähigkeit, noch im übelsten Verbrecher den guten Kern zu erkennen und ihn zur Aufgabe zu überreden, bevor der forsche Heller die 32er zücken konnte - auch die Waffen schienen damals harmloser. Dass Stone seine altväterliche Contenance bei keiner Verfolgungsjagd verlor, brachte ihm Mutters Bewunderung ein: "Wie macht er das nur, dass er nie den Hut verliert?"

Als Karl Malden die Rolle als 60-Jähriger annahm, hatte er eine Laufbahn als Charakterdarsteller hinter sich, hatte mit Elia Kazan gefilmt und für den bösen Mitch in Endstation Sehnsucht 1951 den Oscar für die beste Nebenrolle erhalten. Michael Douglas hingegen war 1972 nur der Sohn des großen Kirk. Für ihn bedeutete die Serie den Durchbruch. 1975 produzierte er nebenbei Einer flog übers Kuckucksnest, qualifizierte sich fürs ernsthafte Genre und nahm seinen Abschied vom SFPoliceDepartment.

Die letzte Folge mit ihm war die einzige, die ich damals nicht sehen wollte. Inspektor Heller sollte eine Kugel in die Brust bekommen und sich laut Drehbuch nach seiner Genesung als Dozent an die Polizeischule verabschieden, stand in der Vorankündigung der Hörzu. Und das wäre so gewesen, wie hilflos zuzusehen, wenn der beste Freund von den großen bösen Jungs auf dem Schulhof verprügelt wird. Nachfolger Richard Hatch gefiel noch Mama, während Vater und Sohn die Nase rümpften über den weichen Schönling. Und Karl Malden musste erkennen, dass er nur die Hälfte des Ganzen gewesen war.

Die Quoten schmierten ab, 1977 wurde die Serie eingestellt. Hatch flog mit Kampfstern Galactica ins schauspielerische Abseits, und Malden beendete seine Karriere als Reklamefigur für Kreditkarten. Michael Douglas ging auf die Jagd nach dem grünen Diamanten und wurde ein Star. Doch wer mit Inspektor Heller aufgewachsen war, hatte noch Jahre das Gefühl, irgendetwas fehle an seiner Seite.

Muskuläre Aufrüstung (FAZ)

Doping im Bodybuilding
„Medikamentenabhängige Mutanten“


Jörg Börjesson, 39 Jahre, hat als Bodybuilder in den achtziger Jahren regelmäßig „Kuren“ mit Anabolika gemacht. Heute muß er deswegen mit großen gesundheitlichen Problemen fertig werden. Er hat sich die Aufklärung über die Folgen des Anabolika-Mißbrauchs zum Anliegen gemacht.

Herr Börjesson, am Dienstag sind acht Personen wegen Verdachts auf illegalen Anabolikahandel festgenommen worden. Einer von ihnen war früher deutscher Meister im Bodybuilding. Kannten Sie ihn?

Solche Leute kennt man aus den Bodybuildingmagazinen, in denen das Thema Doping und Drogen nicht vorkommt. Die dort als Bodybuilder bezeichnet werden, sind in Wahrheit medikamentenabhängige Mutanten.

Es scheint sich bei den Festgenommenen um Mitglieder einer kriminellen Vereinigung zu handeln.

Tatsächlich haben die Leute, die die Mittel vertreiben, mit dem Sport oft gar nichts zu tun, sondern sind Dealer, die neben anderen Drogen auch Anabolika verkaufen. Bekannte Bodybuilder dienen oft als Mittelsmänner, zu denen die Jugendlichen aufschauen. Vor kurzem hat mich ein Dealer angerufen, selbst ein Bodybuilder, mit einem Armumfang von 52 Zentimetern. Er wolle aussteigen, hat er gesagt, wegen der Brutalität in der Szene. Wenn dir einer eine Knarre an den Kopf hält, dann helfen 52 Zentimeter Armumfang nicht viel.

Sie selbst sind auch über einen bekannten Bodybuilder zum Anabolikakonsum gekommen...

Das Fitnessstudio, in dem ich trainierte, hatte den damaligen deutschen Meister im Bodybuilding zu einem Seminar eingeladen. Der Kerl war zwei Meter groß, schaffte 250 Kilogramm im Bankdrücken. Das war kein dreckiger Dealer von der Straße. In der Umkleidekabine haben ein paar Jugendliche gefragt, ob er Tips hat. Dann hat er jedem ein paar Anabolikapillen gegeben. Auch mir.

Nach jahrelangem Steroidmißbrauch haben Sie heute große gesundheitliche Probleme und versuchen in Seminaren, Jugendliche aufzuklären. Welche vor allem?

Das Zeug wird von Leuten genommen, die sich ausschließlich über ihre Körper definieren. Sie könnten Kokain schnupfen, um gesprächiger zu werden. Statt dessen nehmen sie Anabolika oder spritzen sich ein Öl in den Bizeps, was eine allergische Reaktion auslöst: Der Muskel schwillt an. Ich habe mit Deutschtürken geredet, die Schwierigkeiten mit Neonazis haben. Die pumpen sich voll und laufen dann mit Muskelshirts durch deren Viertel. Muskuläre Aufrüstung nennt man das: Wer den dicksten Arm hat, hat am meisten zu sagen.

Zur Körperlichkeit gehört auch die Libido, die unter Anabolikamißbrauch leidet. Schreckt das die Jugendlichen nicht ab?

Die Dealer sprechen nicht von solchen Nebenwirkungen. Zu Beginn der Einnahme, gerade bei Pubertierenden, bei denen der Testosteronspiegel von Haus aus sehr hoch ist, tritt sogar der gegenteilige Effekt auf: Sie haben praktisch eine Dauererektion. Nach und nach stellt der Körper seine eigene Testosteronherstellung ein, was zu sexuellen Schwierigkeiten führt. Dann müssen die Konsumenten nachlegen.

Beschränkt sich der Drogenmißbrauch im Breitensport auf soziale Randgruppen?

Nein. Ich habe Manager reiferen Alters erlebt, die es ihren jüngeren Kollegen beim Berlin-Marathon mal so richtig zeigen wollten. Einer fragte mich nach Mittelchen, mit denen er innerhalb von drei Wochen fit werden könnte. Für einen Marathon! Ich kenne Soldaten, die sich mit Drogen für die Einzelkämpferausbildung bei der Bundeswehr fit zu machen versuchen. Unter Gogo-Tänzern ist es wiederum nicht unüblich, auf den Strich zu gehen, um Anabolika zu kaufen, mit denen sie in der Disko besser auszusehen glauben.

Wer ist schuld an der Misere?

Die Fitnessstudios haben zu lange weggeschaut, sie wollten sich keine Schwierigkeiten einhandeln. Hinzukommt, daß die Pharmaindustrie ihre Überproduktion überhaupt nicht im Griff hat. Es muß zumindest undichte Stellen geben. Wie sonst ist zu erklären, daß bei Razzien immer wieder Originalverpackungen bekannter Unternehmen gefunden werden? Im übrigen kommt man heute im Internet so einfach an anabole Steroide wie an Reisen bei Neckermann. Sogar an Präparate, die in der Medizin nie zugelassen worden sind.

Die Fragen stellte Timo Frasch.
Text: F.A.Z., 31.08.2006, Nr. 202 / Seite 7Bildmaterial: dpa/dpaweb

Die palästinensische Fieberkurve (FAZ)

Naher Osten
Die palästinensische Fieberkurve. Das israelische Militär gehört zum Leben in Nablus
Von Jörg Bremer, Nablus.
31. August 2006.

Die Fahrt von Jerusalem nach Nablus dauert an diesem Tag nur eine Stunde. Selbst an den Kontrollpunkten auf dem Weg sind die Schlangen kurz: Das Westjordanland schläft. Der Krieg im Libanon hat daran nichts geändert. Vor allem die Wirtschaft verharrt weiter wie eingefroren. Nur ein paar Hotels profitierten. Israelische Araber aus dem von Katjuscha-Raketen beschossenen Norden Israels zogen während des Krieges nach Jericho oder Bethlehem - „in die sichere Sommerfrische“ im Süden, wenn sie dafür israelische Genehmigungen erhielten, denn eigentlich dürfen Israelis, auch wenn sie Araber sind, nicht in die palästinensischen Gebiete.

In der „Kasba“, der Altstadt von Nablus, geht es zwischen den osmanischen Palästen und den Neubauten aus den siebziger Jahren im Marktviertel lebendig zu. Früher kamen auch Israelis dorthin, um bei Abu Ali Schaschlik und Houmus zu essen, woran ein vergilbter Zeitungsartikel aus „Jediot Ahronot“ hinter Glas erinnert. Jetzt kommen die Israelis nur noch als Soldaten im Panzer, oft mit Verstärkung aus der Luft. Sie schießen auf „Terroristen“ und „Widerstandskämpfer“ und legen dabei auch prächtige Gebäude in Schutt und Asche, die den Ruf der reichsten, grünsten und schönsten Stadt im Krisengebiet des Nahen Ostens begründeten. 200.000 Menschen leben zwischen den beiden hohen Bergen längs der historischen Straße, die schon Ägypter und Babylonier nutzten und wo römische Grabanlagen vom Erbe der Provinz Palästina berichten.

Ein Milliardär als letzte Wirtschaftskraft einer Stadt

Die Soldaten kommen täglich, meist in der Nacht. Dann suchen sie zum Beispiel auch im Flüchtlingslager Balata in der Nähe des historischen Teil des bronzezeitlichen Sichem nach Terroristen. An diesem Tag sind sie am Mittag auch in der Kasba. Den Betrieb des Kartonherstellers am Rand der Stadt beeinträchtigt das nicht. Die Firma scheint auf dem weitläufigen Gelände unter hohen Dächern ohnehin vor allem Stille und Leere herzustellen. Hazem al Aghar sitzt in der verstaubten Pracht des Chefbüros eines Betriebes, der sich großmundig „The National Carton Industry“ nennt. Dabei konnte das Unternehmen nur gerettet werden, weil es die Padico-Holding des Wirtschaftsmagnaten Munib al Masri kaufte und so vor dem Untergang rettete. Der Milliardär Masri, der oft als der nächste palästinensische Ministerpräsident genannt wird, ist wohl die letzte Wirtschaftskraft in seiner Heimatstadt. Sein Palladio-Palast hoch oben auf dem Gerezim neben den Ruinen des persischen Samaritaner-Tempels kündet von seiner Rolle in Nablus.

Aghbar ist einer seiner Angestellten. Da andere Padico-Unternehmen auch Kartons brauchen, haben er und seine 35 Mitarbeiter noch ihren Arbeitsplatz. Früher konnte der Betrieb 90 Mitarbeiter ernähren. Die meisten kommen aus dem Balata-Lager, das zuletzt eher als ein Zentrum von Kriminalität, Gewalt und Terror auf sich aufmerksam machte und Nablus den Beinamen „Chicago des Nahen Ostens“ eintrug. 1997 hatte der Kartonhersteller gut zwei Millionen Euro Umsatz gemacht, heute sind es 250.000 Euro. Damals gingen 80 Prozent der Produktion nach Israel; heute schulden die letzten Abnehmer Aghbar noch knapp eine Million Euro. Der Betrieb hat noch nicht einmal mehr Kunden überall in den palästinensischen Gebieten: Der Gazastreifen wird von Israel „allemal seit dem Abzug der Siedler als eigene Wirtschaftseinheit angesehen. Wegen der vielen Kontrollpunkte gehen aber auch kaum Waren über Nablus hinaus“, sagt al Aghbar. Vor Jahren konnte ein Fahrer am Tage mehrere Kunden zwischen Nablus und Hebron besuchen. Heute dauert die Tour nach Hebron einen Tag. Das verteuert den Transport einer Ladung von 80 Euro auf 500 Euro.

Palästinas beste Botschafter gegen Extremismus...

Aus Schweden, Finnland und Deutschland kommt das Papier für den Betrieb. „Nach einem Streik am Hafen sind wir Palästinenser die letzten Kunden, die abgefertigt werden.“ Israelische Fahrer bringen die Rohstoffe an die Stadtgrenze zum Warenkontrollpunkt Hawarta. Dort müssen sie auf einen palästinensischen Wagen umgeladen werden. Das bedeutet eine weitere Verzögerung und Verteuerung. Erst dann darf der Betrieb angesteuert werden. „Zum Glück kann Karton lange auf der Straße sein“, sagt Aghbar, „doch wer mit Obst oder Gemüse handelt, hat oft längst aufgegeben.“

Palästinenser sind traditionell Händler und Geschäftsleute. So wurde in Nablus, wo nicht ohne Grund die Lufthansa ein Büro unterhält, 1997 die Börse eröffnet. Unscheinbar auf ebener Erde in einem Hochhaus am Rande der Innenstadt, aber modern ausgestattet ist „The Palestine Securities Exchange“. Die Angestellten sitzen hier mit Schlips und Kragen vor den Computern. Meist ist von Terror und Gewalt die Rede, aber in Nablus oder Ramallah leben eben auch die jungen gutausgebildeten Palästinenser, die oft im Ausland studiert haben und in ihrer Heimat gerne Geschäfte und Gewinne machen würden. Sie haben mit der Politik wenig zu tun und wären die besten Botschafter gegen den Extremismus; aber auch sie können sich wie die Börsenmitarbeiter kaum bewegen.

... haben kaum Bewegungsfreiheit

Es gibt gerade einmal 300 Mitglieder im Club der Besitzer einer „Business Man Card (BMC)“, die, von der Autonomieregierung nach formalen Kriterien - Stellung, Umsatz, Mitarbeiter - ausgesucht, von Israel eine Computer-Karte erhalten haben. Sie erlaubt ihnen mehr Bewegungsfreiheit in den palästinensischen Gebieten und an den Grenzen, mehr als zum Beispiel einem deutschen Staatsbürger palästinensischer Herkunft, den Israel nicht als Deutschen anerkennt, sondern wie jeden anderen Palästinenser als möglichen Terroristen behandelt.

Wer als Palästinenser jünger als 35 Jahre alt ist - oder auch älter, aber unverheiratet und ohne Kinder -, ist ein „Sicherheitsrisiko“. Neulich erhielt ein palästinensischer Mitarbeiter in der Deutschen Industrie- und Handelskammer den wohl zuvorkommend gemeinten Anruf von einem israelischen Sicherheitsoffizier: Er wolle ihm die gute Nachricht geben, daß gegen ihn keine Sicherheitsbedenken vorliegen. „Aber da Sie unter 35 Jahre alt sind, können wir Ihnen leider keinen Passierschein geben.“

„Al-Quds-Index“ als Barometer der palästinensichen Wirtschaft

Wegen der beiden wichtigsten Konzerne Padico und Paltel, die über Munib al Masri mit Nablus verbunden sind, kam die Börse in diese Stadt. Diese beiden Firmen bringen 80 Prozent des Firmenvolumens der insgesamt 28 Gesellschaften ein, deren Aktien in Dollar oder jordanischem Dinar gehandelt werden. Zunächst hatten auch die meisten Brokerfirmen in Nablus ihren Sitz. Heute sind nur noch zwei in der Stadt; fünf dagegen in Ramallah, der „politischen Hauptstadt“. Mit einem Aktienkapital von mindestens 750.000 Dollar, 100.000 Anteilen und mindestens 100 Aktionären kann eine Firma an die Börse gehen. Das Telekommunikationsunternehmen Paltel ist mit einer halben Milliarde Dollar dabei und gehört zu 30 Prozent dem größten Unternehmen Padico.

Die kleine Börse ist Barometer für die palästinensische Wirtschaft. Kurz nach der Eröffnung wuchs der „Al-Quds-Index“ um 50 Prozent. Keine anderer arabischer Index konnte damals ähnliche Zuwächse verzeichnen. Der Beginn der „zweiten Intifada“ im Herbst 2000 ließ die Kurse vom höchsten Stand bei knapp 293 auf den damals niedrigsten bei 142 fallen. Ende 2004 zog die Börse mit dem Tod von PLO-Chef Arafat an. Nachfolger Abbas war die Hoffnung. Völlig überbewertet, sanken die Kurse dann 2005 wieder, als die Padico-Dividende deutlich unter den Erwartungen ausfiel. Seither bewegt sich die Fieberkurve der palästinensischen Wirtschaft auf niedrigem Niveau; der Wahlsieg der islamistischen Hamas war der letzte Querschläger. „Der Libanon-Krieg hat an den schlechten Kursen nichts mehr geändert. Es konnte nicht schlimmer werden“, sagt der Präsident der Börse, Abdu Libdeh.

Israelische Kontrollpunkte verhindern kaum den Terror

Schon der Weg zur „Nationalen Aluminium und Profil-Gesellschaft“ (NAPCO) zeigt das Dilemma. Der Betrieb liegt am Rande der Stadt und ist nur über einen israelischen Kontrollpunkt an der Hauptstraße erreichbar, wo Soldaten nach dem Weg fragen: „Wenn die nicht wollen, kommen die Arbeiter zu spät oder gar nicht; und den Behelfsweg aus der Stadt, den wir eigens bauten, sollen wir schließen, weil ihn ja auch Terroristen benutzen könnten, sagt die Armee. Wir aber sind ein Schichtbetrieb und brauchen pünktliche Arbeitnehmer“, erläutert der Geschäftsführer.

Die Armee benehme sich „lächerlich“; denn wer Bomben transportieren wolle, könne die unbeobachtet über Land tragen: „Die israelischen Kontrollpunkte halten vor allem den zivilen Verkehr auf und entwürdigen die Menschen, aber sie verhindern kaum den Terror.“ Weil Israel dem Unternehmen verbietet, Schwefelsäure zur Tiefenlackierung des Aluminiums aus Israel einzuführen, liegt das Unternehmen weitgehend lahm. Die Säure könnte nämlich auch zur Herstellung von Sprengstoffen benutzt werden, sagt das Militär. Nun muß dieser Arbeitsgang in Israel erledigt werden, was die Produktion nicht nur verteuert. Die Wettbewerber bedienen NAPCO als letzten ihrer Kunden und drängen zudem in seinen palästinensischen Markt vor. Während sich NAPCO bestimmten Warenkontrollen stellt, überfluten israelische Siedler mit Billigprodukten die Kunden. Das Aktienunternehmen konnte nie zu voller Kapazität ausfahren. 50 Prozent Auslastung waren im Jahr 2000 das Maximum mit 22.000 Tonnen; im ersten Halbjahr 2006 schaffte es der Betrieb auf 600 Tonnen.

Wirtschaftsförderung böte langfristige Sicherheit

Die Druckerei Hijjawi hat andere Probleme. Zwar verfügt das Unternehmen über die besten Druckmaschinen von einem Spitzenhersteller in Heidelberg. Aber die Heidelberger scheuen sich, ihre Maschinen auch zu warten. Sie geben Furcht vor Terroranschlägen vor, reisen nach Israel und Jordanien, aber nicht in die besetzten Gebiete. Husam Hijjawi hat wie alle Unternehmer den israelischen Markt verloren. Jetzt fällt wohl auch der Hauptauftraggeber weg: Die Autonomiebehörde, die bei Hijjawi Schulbücher und Formulare bestellte, kann seit der Machtergreifung der islamistischen Hamas die Rechnungen nicht mehr bezahlen. Derzeit druckt Hijjawi für das neue Schuljahr Anfang September, beschäftigt 120 Arbeitnehmer und sagt resigniert: „Ich kann nur hoffen.“

Sieben Kontrollpunkte riegeln den Großraum Nablus ab, zählt Hijjawi. „Ich würde gerne gegen Terror und Gewalt wirken: doch was kann ich meinen jungen Arbeitnehmern bieten? Bis sie 35 Jahre alt sind, dürfen sie vielleicht einmal mit einer Ausnahmegenehmigung zu einem Kurs.“ Und ist ihr Arbeitsplatz sicher? „Ginge es Israel wirklich um langfristige Sicherheit, dann würde es die Wirtschaft fördern und mindestens im Westjordanland die ,Vereinbarung über Bewegung und Zugang' umsetzen“, sagt Hijjawi.

Verarmung stärkt die Islamisten

Die amerikanische Außenministerin Rice hatte im November einen Vertrag über mehr Freizügigkeit durchsetzen können. Aber die Umsetzung blieb stecken. Und die islamistische Hamas verfolgt keine marktwirtschaftliche Politik, will womöglich die Krise noch verschärfen; denn die Verarmung stärkt die Islamisten. Israels Militär denkt dagegen nur in Begriffen kurzfristiger Sicherheit und scheut Risiken. So sind bei Nablus die Schlangen der Lastwagen am Warenkontrollpunkt Hawarta lang. Am Übergang für Personen dagegen werden Fahrzeuge mit israelischen Kennzeichen wie auch an allen anderen Kontrollpunkten durchgewinkt. Der Transport einer Bombe wäre hier nicht aufgefallen.

Text: F.A.Z., 31.08.2006, Nr. 202 / Seite 3 Bildmaterial: AP, REUTERS

Tuesday, August 29, 2006

Guantanamo Bay (SZ)

Christian Wernicke:
"Das ist der amerikanische Gulag"
Gefangene, die ohne Hoffnung bleiben, und Bewacher, die sich hinter banaler Routine verschanzen - wie in Camp Delta das Unrecht verwaltet wird.

Er ist ein "Master-at-Arms", und er führt diesen Titel mit Stolz. In der Armee würden sie ihn schnöde Sergeant rufen.

Aber er ist eben bei der US-Navy, ein schneidiger Fähnrich zur See. Der feine Unterschied ist ihm wichtig, gerade hier an Land, wo er seit elf Monaten am immer selben Ort seine Pflicht tut.

"Ich versuche, es als Einsatz wie jeden anderen zu begreifen", sagt er, "dies hier ist eine neue Art von Schlachtfeld - weniger physisch, mehr mental."

"MA-One", wie man ihn der Kürze zuliebe nennen darf, wähnt sich an der Front in Amerikas Anti-Terror-Krieg. Jeden Tag auf dem Weg zum Dienst passiert er die Losung der Truppe: "Ehre verpflichtet, die Freiheit zu verteidigen", Honour bound to defend freedom, verkündet das angerostete Schild am Eingang zum Knast.

Besucher mögen das Logo als makaber empfinden, ihn plagen solche Zweifel nicht. Der schwarze, breitschultrige Hüne hat sich freiwillig gemeldet zum Einsatz auf Guantanamo Bay, ein Jahr schiebt er täglich zwölf Stunden Wache in Camp Delta, dem Hauptkomplex des umstrittensten Gefängnisses der Welt.

Kalte Disziplin gegenüber den "feindlichen Kämpfern"

Draußen brennt die kubanische Mittagssonne, vier Geier kreisen im Aufwind über dem Lager. Drinnen in der Holzbaracke wischt sich MA-One den staubigen Schweiß von der Stirn. Er selbst gibt sich cool, sogar jetzt, da der 33-Jährige von seinem "ganz speziellen Erlebnis" erzählt. Das war vorigen November: "Da hat mir einer der Häftlinge einen Cocktail ins Gesicht geschleudert."

Cocktail nennen die Soldaten jene Mischung aus Fäkalien, Urin und Essensresten, die Gefangene in den weißen Styropor-Schachteln vom Mittagessen anrühren und regelmäßig durchs Zellengitter auf ihre Wächter abfeuern. MA-One zuckt mit den Schultern: "Okay, das war eine Erfahrung fürs Leben."

Keine Wut, keine Rachlust? Der Seemann schüttelt den kahlen Schädel: "Nach einer Stunde war ich wieder auf Posten." Unter die Dusche, rein in die zweite Uniform - "sobald du die Kontrolle verlierst, bestimmst du nicht mehr, was läuft." Schlimmer noch, "wenn ich ausraste, gefährde ich nebenan vielleicht ein Verhör, das uns hilft, draußen im Feld ein amerikanisches Leben zu retten."

Fähnrich MA-One bestimmt gern, weshalb er am liebsten alles unter Kontrolle hält. Er wahrt kalte Disziplin, pflegt kühle Distanz nicht nur gegenüber den "feindlichen Kämpfern", die er ausschließlich mit ihrer "ISN", ihrer Internierungs-Serien-Nummer anspricht: "Hier persönlich zu sein, kann dich das Leben kosten." Jeder Soldat ist strikt angewiesen, im Lager sein Namensschild auf der Uniform mit Klebeband zu verdecken.

"Die Häftlinge schnappen alles auf"

Eine Vorsichtsmaßnahme, falls "der Feind" irgendwann und irgendwie doch rauskommt - trotz Fußfesseln und Handschellen, trotz Wachtürmen, messerscharfem Stacheldraht und drei Reihen hoher Zäune. Ein Gefangener, so berichtet MA-One, habe auch ihm prophezeit, er werde "mich jagen und töten, samt meiner Familie".

MA-One hat, auf eigene Weise, die anonyme Logik des Systems Guantanamo zur Perfektion getrieben: Seinen bürgerlichen Namen offenbart er nicht mal seinen Stubenkameraden. Sein Geburtsort? Brooklyn, New York. Ein Foto? - "Meinetwegen." Aber keine Initialen, weder Vor- noch Zuname. "Hier im Lager genügt ein unvorsichtiger Gruß von Kameraden, ein falsches Wort", erklärt er sein zwölfmonatiges Inkognito gegenüber Freund wie Feind: "Die Häftlinge schnappen alles auf, das verbreitet sich wie ein Lauffeuer." Dass ihn die Kumpel hinterrücks abends beim Bier belächeln, quittiert er mit einer abfälligen Handbewegung: "Ich habe keine Angst vor niemandem. Für mich ist das einfach eine perfekte Operation." Alles geregelt, alles im Griff.

"A perfect operation" - solche Worte kommen dem obersten Dienstherrn von MA-One, George W. Bush, längst nicht mehr über die Lippen, wenn er über Guantanamo redet. Im Gegenteil, angesichts weltweiter Kritik bekundet der US-Präsident inzwischen, auch er möchte sein Internierungs-Camp "lieber geschlossen sehen". Es scheint, als bröckele in Washington das Fundament für das Lager auf dem US-Militärstützpunkt an Kubas felsiger Südostküste. Der Oberste Gerichtshof bekrittelt neuerdings ein Regime, das 450 vermeintliche Taliban- und Al-Qaida-Mitglieder seit viereinhalb Jahren ohne rechtsstaatliche Prozesse einkerkert.

"Etliche von uns saufen einfach zu viel"

Obendrein erschüttern Foltervorwürfe, Hungerstreiks und zuletzt die Selbstmorde dreier Gefangenen das Image von Lager und Nation. Und wann immer es einer, wie jetzt der Deutsch-Türke Murat Kurnaz, doch schafft, auf dem diplomatischen Gnadenwege aus Guantanamo zu entkommen, steht sofort ein neuer Kronzeuge bereit, die Zustände an der Bay anzuprangern.

Nur draußen auf Kuba, an vorderster Anti-Terror-Front, beeindruckt das niemanden. Kein Offizier, kein einfacher Soldat, der Zweifel durchblicken ließe an seinem Tun und Sein auf der Insel. "All die Typen, die da an uns herummäkeln", winkt etwa MA-One ab, "die haben nicht den Mut zu dienen. Die sind nicht bereit, ihr Leben für die Freiheit zu geben." So denken hier die meisten.

Nicht der Dienst, die Langeweile nach Feierabend nervt sie: Fischen, Schnorcheln, Beach-Volleyball und abends lauter Karaoke-Singsang beim Bier - viel mehr ist nicht los auf den 45 Quadratmeilen der US-Militärexklave. "Etliche von uns saufen einfach zu viel", sagt einer.

Bei Tageslicht präsentiert sich Guantanamo wie ein amerikanisches Provinznest. McDonald’s und Starbucks locken an der Hauptstraße, nebenan steht der Supermarkt. Ein Souvenirladen bietet Memorabilien feil, Kaffeebecher mit Piratenköpfen oder T-Shirts mit Wachtürmen und der Aufschrift: "The Taliban Towers - das neueste Fünf-Sterne-Resort in der Karibik".

Überall grünt der akkurat gemähte Rasen, hinter den Gartenzäunen der Offiziershäuser sprießen Blumen.

Der Stützpunkt genügt sich selbst. Seit der Kuba-Krise Anfang der sechziger Jahre produziert eine Entsalzungsanlage das eigene Trinkwasser und Strom. Am Zaun zu Castros Reich herrscht Grabesruhe - auch jetzt, da der alte Mann in Havanna dem Siechtum verfällt und niemand weiß, was wohl geschieht da drüben, im eigentlichen Kuba.

Von Kriegsgefangenen redet der Lagerkommandant nicht gern

Fidel Castro und der Kommunismus, das sind die vergilbten Feindbilder im Hinterland. Der neue, bedrohlichere Feind lauert in Bagdad oder in Kandahar. Und hockt unten am Felsufer hinter Schloss und Riegel. Lindgrüne Planen versperren Wächtern wie Bewachten die Sicht auf die blaue See, und ähnlich verschlossen sind hier die Denkmuster. "Dies ist ein idealer Platz, um unsere Mission zu erfüllen", sagt Konter-Admiral Harry Harris, "wir haben das Recht, diese feindlichen Kämpfer vom Schlachtfeld fernzuhalten, solange dieser Krieg nicht beendet ist."

Zwei Beweise, dass dies lange dauern kann, hat seine Regierung gerade drüben am Hang in Beton gegossen: Ein Hochsicherheitsgebäude samt automatischen Zellentüren und Kameraüberwachung, daneben ein heller Klotz für 200 minder gefährliche Kombattanten. Gesamtkosten: 47 Millionen Dollar.

Von "P.O.W.s", von Kriegsgefangenen, redet der Lagerkommandant nicht gern. Denn dann würde die Genfer Konvention ihm und den US-Geheimdiensten verbieten, den mutmaßlichen Terroristen in Verhören angeblich noch immer wertvolle Informationen abzuringen. Mit schneidender Stimme wischt Harris den Einwand beiseite, seine Regierung könnte ihm den einen oder anderen Unschuldigen ins Camp gesetzt haben.

"Ich rate Ihnen, fassen Sie das mit Vorsicht an"

Immerhin belegt eine Studie unabhängiger Juristen, dass nur ganze fünf Prozent der Gefangenen einst in Afghanistan oder Pakistan eigenhändig von US-Truppen arrestiert wurden; gleichzeitig lockten damals hohe Prämien Scharen von Kopfgeldjägern an. Willkür, Betrug? "Nein, die Inhaftierten sind alle angemessen überprüft worden.

"Harris kennt alle Argumente, er ist präpariert. Und bereit nachzuhelfen. Freundlich beugt der kleine Mann den Kopf mit dem markigen Scheitel nach vorn, als wolle er dem Besucher über der Tischkante ein Geheimnis anvertrauen: "Diese Studie wurde nur erstellt auf der Grundlage veröffentlichter Informationen - da ist nicht berücksichtigt, was wir alles als geheim eingestuft haben. Ich rate Ihnen, fassen Sie das mit Vorsicht an."

Harris weiß, damit hat er niet- und nagelfest einen Teufelskreis geschlossen. Wie, bitte sehr, soll dann ein Gefangener überhaupt seine Unschuld beweisen? "Das ist eine juristische Frage, für Schuld oder Unschuld bin ich nicht zuständig. Das müssen Anwälte beantworten."

"Das ist Guantanamo - der amerikanische Gulag"

Tom Wilner ist Anwalt. Und er wäre - hätte er denn im holzvertäfelten Konferenzsaal der Kommandantur zu Guantanamo zugehört - "mal wieder die Wände hochgegangen". Aber der 62-jährige Jurist hockt dieser Tage weit weg in seiner Kanzlei in Washington und sagt: "Es ist genau dieser Zirkelschluss, der mich so aufregt." Unter dem Papierwust auf seinem Schreibtisch kramt er ein Buch hervor, das den Alltag in Stalins sibirischen Lagern schildert.

Im Stehen liest er vor, wie damals ein Wächter das sowjetische System erklärte: "Wir verhaften nie jemanden, der nicht schuldig ist. Und selbst wenn du nicht schuldig wärst, können wir dich nicht freilassen. Denn dann würden die Leute sagen, wir würden Unschuldige einlochen." Kurze Kunstpause. Wilner setzt sich, fügt hinzu: "Das ist Guantanamo - der amerikanische Gulag."

Seit Februar 2002 arbeitet Wilner, Yale-Absolvent und einst in derselben Burschenschaft wie der heutige Präsident, sich am Guantanamo-Komplex ab. Damals suchten zwölf kuwaitische Familien verzweifelt einen Rechtsbeistand für ihre Söhne, und Wilner - eigentlich Spezialist für lukrative Wirtschaftsprozesse - sagte zu."

Damals dachte ich, die Sache würde sich einige Monate hinziehen", sagt er bitter. Sechs sind inzwischen frei, ausgeflogen und abgeschoben in die Heimat wie jetzt Murat Kurnaz. Der Bremer war der 311. Fall, der auf Guantanamo (politisch, nicht juristisch) ad acta gelegt wurde. Nur, auf seinem Aktendeckel wird für immer ein Stempel prangen: "feindlicher Kämpfer".

Ein Dutzend Male war der Anwalt mittlerweile auf Kuba. Sein Honorar spendet er, von der Unschuld seiner Mandanten ist er überzeugt. Wilner glaubt deren Darstellung, sie seien damals als Kinder reicher Familien für wohltätige Zwecke in Afghanistan unterwegs gewesen und dann für ein paar Dollar Prämie denunziert worden. "Aber darum geht es gar nicht. Hier in den USA steht viel mehr auf dem Spiel - das Ur-Recht auf rechtliches Gehör." Wilner senkt die Stimme, spricht langsam: "Kein König darf dich ohne Richter in den Karzer werfen."

Diesen Grundsatz auszuhöhlen, das sei "das Verdienst von fürchterlichen Juristen", vor allem im Stab von Vize-Präsident Dick Cheney. Die hätten schlicht eine Militärvorschrift außer Kraft gesetzt, die noch in Vietnam und bei Amerikas erstem Irak-Krieg eine strikte Prüfung eines jeden Gefangenen möglichst nah am Schlachtfeld verlangte: "Diesen Fehler versuchen sie bis heute verzweifelt zu vertuschen." Wilner redet sich in Rage, schimpft "über die bornierten Ideologen in der Regierung". Seine Frau glaubt, er sei wie besessen.

Für die Seelen sorgt "Dr. K."

"Das stimmt", sagt er und grinst, "ich habe so manche Party verdorben mit diesem Thema." Schon verfinstert sich Wilners Miene, der Blick aus dem Fenster gleitet auf das prächtige Gebäude des Nationalarchivs: "Dies erschüttert meinen Glauben an Amerika. Uns eint keine Rasse, keine Religion. Es ist allein der Glaube an das Recht, der unsere Nation zusammenhält."

Tom Wilner ist Jude. Zwei seiner arabischen Klienten haben ihm neulich gesteckt, sie seien bei Verhören gewarnt worden, "nur ja nicht einem jüdischen Anwalt zu vertrauen". Auf Guantanamo bestreiten sie solche Vorwürfe, und "leider, leider" sei es Journalisten verboten, die Häftlingen selbst zu befragen - "zu gefährlich" und "aus Respekt vor der Genfer Konvention".

Stattdessen werden die Besucher durch leere grüne Zellentrakte geleitet. Penibel referiert ein Soldat die Hausordnung: etwa, dass gehorsame Insassen blaue Schuhe statt Gummilatschen tragen dürfen, dass ihnen als comfort items ein Gebetsteppich zustehen, ein Fläschchen Moschusöl und eine richtige Zahnbürste statt eines kurzen Fingerhuts mit Borsten. Zwei mal zwei Meter groß ist jeder Metallverschlag, unterm Fenster ein Abtritt, daneben - in Kniehöhe - das Waschbecken aus Aluminium.

"Das erleichert denen die Fußwaschung", erklärt ein Offizier. Fünfmal am Tag, wenn per Tonband ein virtueller Muezzin zum Gebet ruft, wird ein gelbes Warnzeichen in den Gang gerückt - als Mahnung an die Wachen, die Ruhe des Ritus zu wahren.

Guantanamo wirkt wie banale Routine

Die schlimmsten Zustände sind längst vorüber. Das berüchtigte Camp X-Ray etwa, wo 2002 die Gefangenen in orangefarbene Overalls gesteckt und massenhaft in Drahtkäfige gepfercht wurden, ist längst geschlossen. Hüfthoch wuchert das Gras, tropische Ranke hat bereits die Blechdächer erobert. Eine Geisterstadt. Der letzte Gefangene ist ein Truthahngeier, der sich im Stacheldraht verfing und nun am Zaun elendig verwest.

Guantanamo wirkt wie banale Routine. Keine Exzesse, alles gehorcht der Vorschrift. Alles ist Alltag, für Willkür bleibt kein Platz. Die Kantine kocht nach muslimischen Regeln halale Speisen, der medizinische Dienst verschreibt jeden Monat 1200 Medikamente. In der Holzbaracke werden zwei Hungerstreikende über Plastikschläuche zwangsernährt, sie sind die letzten von einst 131 Protestlern. Der Lagerarzt, ein ergrauter Reservist namens "Dr. H.", versichert, bei Verdacht auf Misshandlungen erstatte er sofort Meldung: "Aber viele Narben können irgendwo anders her stammen."

Tom Wilner, der Anwalt, glaubt sowieso, für Insassen wie seine Mandanten sei "die wahre Folter in Guantanamo nicht physisch, sondern mental. Es ist das Gefühl, keine Chance zu haben." Auch dafür hält das System eine Antwort parat: "Dr. K."

Die eifrige Neuropsychologin bietet 18 depressiven Patienten ihren Beistand an. "Dr. K." weiß, dass sie kaum mehr als Symptome kuriert. Aber sie müht sich redlich, der Lage ihrer Klienten "einen anderen Rahmen zu geben". Wie das geht? Ungefähr so: "Niemand weiß, wann irgendwer nach Hause kommt. Aber wir müssen weiter die Hoffnung einflößen, dass dies keine ewige Situation ist."

The hunter hunted (The Guardian)

Kirsty ScottMonday August 28, 2006, The Guardian:
The hunter hunted ... but who is killing Scotland's birds of prey?
Wildlife groups blame gamekeepers - who in turn hint at 'mischief makers'

On the high slopes of a Perthshire glen, Dave Dick slows his car to point out the distinctive mottled patchwork of managed grouse moor, the tufts of heather burned and teased into differing lengths to suit both adult and juvenile birds."A pole trap, poisoned bait, a pigeon tied to a post ..." Mr Dick, the RSPB's senior investigations officer in Scotland, reels off a list of abuses he has dealt with in this one glen alone over the years: efforts aimed at killing raptors, among them the golden eagle, Scotland's iconic bird of prey.

"If we were in Berwickshire or Aberdeenshire I would be saying the same," he says. "It is widespread and it's a scandal."Further on, the slopes of a second glen steepen into giddy inclines crested with grey rock. Four pairs of golden eagles live in this area, but it is late afternoon and warm and they are not inclined to soar out in a wide circling sweep for a photo-opportunity. The birds are thriving here. "No grouse moors," says Mr Dick bluntly.

In June, he hiked some eight miles (12km) in the Cairngorms to retrieve the body of a golden eagle that had been killed with the illegal poison carbofuran. It was one of two found dead within a few weeks, a development which prompted the RSPB to offer a reward for the first time in its 102-year history for the arrest and conviction of those responsible. It says such a measure was necessary. Despite toughened legislation against wildlife crime, this year the number of confirmed poisoning incidents has soared, already exceeding last year's total.

Figures compiled by the Scottish Agricultural Science Agency (Sasa) show that there have been 28 cases of confirmed pesticide abuse in Scotland this year so far, compared with 19 cases in all of 2005, with some of the cases involving several birds or other creatures at a time. The dead include buzzards, red kite, a tawny owl, the two golden eagles and ravens. A number of animals, including a dog and cat, were also affected. More than 20 poisoned baits were also found.

"It's clear there are a number of people out there who are prepared to go to all sorts of lengths to remove birds of prey," said Ken Hunter, Sasa's head of chemistry.

Separate figures from the RSPB show that last year there were 77 reports of persecution of raptors, other than poisoning. Twenty of these were confirmed, another 21 were classed as probable and 26 were considered possible.

Agencies such as the RSPB and the Scottish Raptor Study Groups lay the blame squarely at the door of gamekeepers and landowners, too many of whom, they say, allow the abuses to continue in the mistaken belief that raptors are the chief culprit in the decline of the grouse.

"It is primarily gamekeepers. Some shepherds, but primarily gamekeepers. But gamekeepers are doing it with the tacit permission of landowners," said Logan Steele of the Scottish Raptor Study Groups. "The public are becoming more and more concerned about it. Green tourism has really taken off in Scotland. We stand to get ourselves a bad name as the bad man in Europe because we have this terrible poisoning record.

"There are 440 pairs of golden eagles in Scotland, a population he says is being kept static by persecution. "The golden eagle population in Scotland is, at best, treading water and a lot of birds poisoned are not being replaced easily because the available pool of young birds isn't as great as it was."

The Criminal Justice (Scotland) Act 2003 and the Nature Conservation (Scotland) Act 2004 did improve the scope for effective wildlife crime policing, but, say campaigners, most recent prosecutions have resulted in moderate fines, if those responsible are caught at all. "Until we see some sort of penalty passed that makes the eyes water I don't think it will be taken seriously," says Mr Steele.

Bert Burnett has been a gamekeeper for 40 years and is a committee member of the Scottish Gamekeepers' Association. It's far too convenient, he says, to blame the profession. He doubts the claims that persecution is endemic and its impact as devastating as it is sometimes painted. "The death of the eagles could be anybody. It does not necessarily have to be a gamekeeper," he said."

As far as the continued persecution, we would say it has reduced drastically and the use of poison by the gamekeeper has definitely reduced drastically. There are more people involved in finding these carcasses ... You are finding maybe more where there is actually less.

"We find it very strange that most of these things are found near a track ... There are gamekeepers out there who need their arse kicked but there's something else going on here. I think there are mischief makers out there, whether it's anti-shooting or what. We had animal rights people setting gin traps."

The association, he says, condemns the illegal killing of raptors, a view echoed by the landowners' body the Scottish Rural Property and Business Association, whose chairman, Keith Arbuthnott, said: "We cannot condone the illegal persecution of any species, golden eagles or otherwise, and as an organisation continue to work closely with other agencies and interests to put an end to these deplorable incidents."

But Mr Burnett said many gamekeepers were frustrated by the unwillingness of the Scottish executive to allow them licences to deal with birds such as ravens and buzzards. Figures from the Game Conservancy Trust, he said, show that raptors can take up to 40% of winter grouse stock.

"We have offered [the Scottish executive] solutions and they are refusing. So it's not surprising that on occasion someone just says, oh to hell with this ... It could be anybody, and they say to hell with this and take the law into their own hands ... The raptor situation is getting worse. People could go back to doing stupid things."

Saturday, August 26, 2006

Porträt Timo Boll (FR)

Timo Boll: Lehrreiches im Reich der Mitte
VON KATJA STURM

Der Vorsatz war da. Die Sommerwochen in China wollte Timo Boll dazu nutzen, die Sprache derer zu erlernen, die seinen Sport weltweit dominieren. Eine Stunde täglich, hatte der Tischtennisspieler des TTV Gönnern sich vorgenommen, an den ungewohnten Lauten zu arbeiten. Allein: "Vom Kopf her ging es nicht." Zu sehr schlauchten den Weltranglistenzweiten die ungewohnt hohe Belastung und die schwül-heiße Luft, denen er sich mit seinem Engagement in der chinesischen Superliga aussetzte. Zweimal täglich Training plus Krafttraining waren für ihn als Mannschaftsspieler des Erstligisten Zhejiang Hongxiang Hangzhou, gut zwei Autostunden südwestlich von Schanghai entfernt, angesetzt. Auch vor Spielen. Ruhephasen wie hier zu Lande vor und nach Wettkämpfen - Fehlanzeige. Einen einzigen Tag habe er innerhalb von sieben Wochen frei gehabt, erzählt Boll. Und sogar an diesem habe er Videoaufzeichnungen studieren müssen.

Die Wochen ungewohnter Härte sind nicht spurlos an dem 26-Jährigen vorbeigezogen. Vier Tage nach seiner Rückkehr wirkt er um die Augen herum noch ein bisschen müde, doch durchtrainiert und aggressiv wie nie. Fünf Kilogramm hat er abgenommen. Auch durch das Training. Zudem machte das asiatische Essen Boll zu schaffen. Regelmäßig schmerzte der Magen, quälte ihn Durchfall - irgendwann habe er sich fast nur noch von Reis ernährt. "Aber verhungert bin ich nicht", sagt er lächelnd. Verdurstet auch nicht. Doch die Selbstverständlichkeit, mit der hier zu Lande Trainer ihren Spielern in den Auszeiten Getränke reichen, wird in China schon einmal ausgesetzt. Während eines Spiels seines abstiegsgefährdeten Teams - "es war sehr heiß in der Halle, und es gab keine Klimaanlage" - verwehrte der Coach seiner Nummer eins die so nötige Flüssigkeit. Er solle zuhören statt zu trinken. "Das war erst einmal ein Schock für mich", sagt Boll. "Doch das alles härtet ab.

Auch die Armut erlebt

Boll hatte sich die Bürde selbst auferlegt, auch wenn sie sich schwerer als erwartet erwies. Deshalb jammert er nicht, hebt immer wieder das Positive hervor: "Ich bin jetzt einiges gewohnt." Die Schinderei, die er sich in China antat, hätte er, wie er zugibt, in Deutschland schwerer durchgehalten. Er ist sicher, sportlich profitiert zu haben. Finanziell sowieso. Zudem ist er um viele

Friday, August 25, 2006

Danzig versteht seinen Sohn (SZ)

Außenansicht
Danzig versteht seinen Sohn
Wer Günter Grass die Ehrenbürgerwürde nehmen will, handelt in schlechter kommunistischer Tradition.
Ein Kommentar von Pawel Adamowicz, Danzigs Oberbürgermeister

Mein erster Gedanke, als ich die Nachricht hörte, Günter Grass habe bekannt, als Siebzehnjähriger in den letzten Kriegsmonaten der Waffen-SS angehört zu haben: das ist unmöglich.

Wie ist es möglich, dass ein so großer Schriftsteller, ein bewährter Freund Polens und der Polen, ein Ehrenbürger unserer Stadt, in der Waffen-SS war?

Ausgerechnet in der SS, deren verbrecherischer Ruhm bis heute in Polen präsent ist, in der Literatur, in Familienerinnerungen.

Was war zu tun? Wie sollte auf dieses um Jahrzehnte verspätete Bekenntnis reagiert werden? Am einfachsten wäre in Anbetracht der bevorstehenden Kommunalwahlen zweifellos folgende Lösung gewesen: eine Erklärung abgeben, dass Grass uns getäuscht hat, dass er gelogen hat, und ihm den Ehrenbürgertitel aberkennen.

Aber eine derart überstürzte Reaktion wäre nichts anderes als eine Schweinerei gewesen. Denn dieser herausragende Humanist, Schriftsteller, schließlich auch politische Akteur, dem unsere Stadt und unser Land so viel zu verdanken haben, kann kein Kriegsverbrecher sein.

Die Schicksale der Deutschen und der Polen, die sich viele Jahre in den Fängen zweier großer Totalitarismen befanden, waren ungewöhnlich kompliziert.

"Für das Gift empfänglich"

Viele meiner Landsleute ließen sich vom Stalinismus vergiften, so wie viele Deutsche sich vom Nationalsozialismus betäuben ließen. Grass hat nie verborgen gehalten, dass er in seinen jungen Jahren für dieses Gift empfänglich war.

Der verbrecherische Charakter der SS-Formationen ist heute für jeden offensichtlich. Doch konnte ein Heranwachsender in einem totalitären Staat dies erkennen? Woher?

Überdies hat der Schriftsteller als Erwachsener in seinem Werk wie auch in seiner politischen Tätigkeit alles getan, um den Deutschen das ungeheure Ausmaß der Verbrechen zu verdeutlichen.

Wäre die Anerkennung unserer Nachkriegsgrenzen durch die Bundesrepublik Deutschland zustande gekommen, wenn nicht Grass systematisch auf die Lösung dieses Problems gedrungen hätte? Ich denke: eher nicht.

Auf jeden Fall nicht im Jahr 1970. In die Waagschalen der Gerechtigkeit muss also auf der einen Seite der Fehler eines unreifen Jungen gelegt werden, auf der anderen Seite aber das Verdienst des reifen Mannes. Welche Waagschale ist schwerer?

Leider fanden sich in Polen Politiker, die beschlossen, aus der Jahrzehnte zurückliegenden Jugendsünde eine Waffe für die kommenden Kommunalwahlen zu machen. Dies würde sich auch hervorragend in die derzeit ohnehin nicht sehr guten deutsch-polnischen Beziehungen einpassen. Warum sollte man also nicht auf die Pauke hauen?

Warum sollte man nicht fordern, dass Grass selbst auf den Ehrenbürgertitel verzichtet? Und wenn er nicht wollte, ihm den Titel per Ratsbeschluss aberkennen?

Jede Methode ist nun einmal gut, um Wahlen zu gewinnen. Schade nur, dass meine Politikerkollegen auf diese Weise den unguten Traditionen des kommunistischen Regimes, das das deutsche Schreckgespenst zur Legitimierung seiner Herrschaft brauchte, ein neues Kapitel hinzugefügt haben.

Doch schon bald zeigte sich, dass ich mit meinen Überlegungen zur Causa Grass keineswegs allein stand. Polnische Intellektuelle und Schriftsteller haben mich unterstützt, sie verfassten einen offenen Brief, in dem sie gegen die Versuche protestierten, Grass’ Tragödie für unsere inneren Ränkespiele zu instrumentalisieren.

Den Brief haben unter anderem die Literaturnobelpreisträgerin Wieslawa Szymborska, die Roman-Autoren Pawel Huelle und Stefan Chwin sowie nahezu alle Vertreter des Danziger Künstlermilieus unterzeichnet

"Frei von antideutschen Phobien"

Auch die Reaktionen der "gewöhnlichen" Danziger fielen laut und vernehmlich aus. Eine von mir in Auftrag gegebene Meinungsumfrage ergab, dass nur ein Drittel der Einwohner unserer Stadt der Meinung ist, dass Grass auf seine Ehrenbürgerwürde verzichten sollte.

Sogar 72 Prozent sprechen sich dagegen aus, dass der Stadtrat ihm den Ehrentitel aberkennen sollte. Die Ergebnisse der Umfrage haben gezeigt, dass die Danziger reifer sind, als dies manche Politiker kalkuliert hatten.

Die Umfrage belegt, dass wir Danziger eine Gesellschaft bilden, die frei ist von Komplexen und antideutschen Phobien. Sonst könnten wir nicht Verständnis für andere aufbringen und wären auch nicht bereit zu vergeben.

Doch es bleibt eine für die Danziger überaus wichtige Frage: Warum erfolgte das Bekenntnis Günter Grass’ so spät? Und warum hat Grass uns nicht informiert, dass er sich dazu entschlossen hat, dieses bislang verschwiegene Kapitel seiner Vergangenheit offen zu legen? Er hätte doch voraussehen müssen, dass sein Bekenntnis lebhafte Reaktionen nicht nur in Deutschland hervorruft, sondern auch in Polen, besonders in seiner Heimatstadt.

Ich habe daher einen Brief an den Schriftsteller geschrieben. Ich habe ihn gebeten, uns Danzigern zu erklären, wie es kam, dass er Angehöriger der Waffen-SS wurde, und warum er so lange geschwiegen hat. Die Mail mit diesen Fragen habe ich am vergangenen Samstagabend abgeschickt.

Ich gestehe, dass ich fast die ganze Nacht danach nicht geschlafen habe. Wird er antworten oder nicht? Und wenn er schreibt, wird er sich dann mit ein paar klein dosierten Absätzen begnügen?

In dieser Nacht habe ich Antworten auf die uns umtreibenden Fragen in dem Lieblingsbuch meiner Jugendzeit gesucht, in der Blechtrommel.

Der folgende Tag verlief in nervöser Atmosphäre. Am Abend endlich kam ein Anruf meines Mitarbeiters: "Die Antwort ist da, ich habe schon mit der Übersetzung angefangen." Ich bin ins Auto gesprungen und zum Rathaus gefahren und habe nervös dem Übersetzer über die Schulter auf den Bildschirm geschaut.

Und bald verspürte ich Erleichterung: Es handelte sich nicht um eine floskelhafte Antwort, sondern es war ein ernsthafter und schmerzhaft aufrichtiger Brief.

Am Dienstagabend hat der Danziger Schauspieler Jerzy Kizkis im Rathaus den Brief vor einer großen Zuhörerschar verlesen. Mehrere Fernseh- und Rundfunkprogramme haben die Lesung übertragen.

Als der Schauspieler zum Ende gekommen war, herrschte für einen Moment Stille, dann brach der Saal in stürmischen Beifall aus.

Es applaudierten die versammelten Ratsmitglieder, Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und andere Danziger Bürger.

Danzig versteht seinen Sohn.

Interview Noam Chomsky (Berliner Zeitung)

INTERVIEW
Vasallenstaaten an den Erdölquellen
Der amerikanische Friedensaktivist Noam Chomsky über die Ziele der USA in Nahost

Der Streit um das iranische Atomprogramm spitzt sich wieder zu, Beobachter erinnern daran, dass sich die US-Regierung ein militärisches Vorgehen gegen den Iran als Option vorbehalten hat. Noam Chomsky, Linguistik-Professor und einer der profiliertesten politischen Analytiker und Medienkritiker der USA, beurteilt den Kurs der Bush-Regierung im Nahen und Mittleren Osten.

Der US-Journalist Seymour Hersh will herausgefunden haben, dass der Libanon-Krieg unabhängig vom Anlass geplant war. Sehen Sie diesen Krieg als Probelauf für einen Krieg der USA gegen Iran, vielleicht auch gegen Syrien?

Es geht den USA und Israel um Palästina. Über 30 Jahre haben sie sich einer Zwei-Staaten-Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt widersetzt und Fakten geschaffen, die eine solche Lösung verhindern: Die fruchtbarsten Gebiete und wichtigsten Ressourcen im Westjordanland werden annektiert, die palästinensischen Restgebiete in lebensunfähige Kantone unterteilt. Gaza wird von israelischen Menschenrechtlern als großes Gefängnis bezeichnet. Die einzig bedeutungsvolle Hilfe, die die Palästinenser zuletzt noch bekamen, leistete die libanesische Hisbollah: Ziel des Krieges war ihre Vernichtung.

Es war natürlich ein willkommener Nebeneffekt, dass die Zerstörung der Hisbollah auch den Iran geschwächt hätte - was im Fall einer Konfrontation mit Iran vorteilhaft ist. Ich zweifle, dass es ein Interesse gibt, den Status quo im Verhältnis zu Syrien zu ändern. Syrien ist schwach und zeigt sich nachgiebig, ein Regimewechsel würde islamisch-fundamentalistische Kräfte an die Macht bringen.

Die Entwicklung in Nahost verläuft für die USA nicht wunschgemäß, insbesondere im Irak. Herrscht in Washington Ratlosigkeit oder wird dort tatsächlich eine Strategie -gerichtet auf Demokratisierung und Stabilisierung - verfolgt?

Die Bush-Regierung - also Leute wie Donald Rumsfeld, Dick Cheney, Paul Wolfowitz - wollen gar keinen souveränen und halbwegs demokratischen Irak , trotz aller Rhetorik. Ihr reales Handeln zielt auf die Etablierung eines Vasallenstaates, der auf seinem Territorium, einer der größten Erdöllagerstätten der Welt, US-Basen akzeptiert. Nun wird es aber mit jeden Tag für sie schwieriger, dieses Ziel zu erreichen. Mehr noch: Mit dem Irak-Krieg haben sie das Entstehen einer schiitischen Allianz befördert. Eine Allianz, die die Schiiten des Irak, des Iran und anderer Länder zusammenbringt. Das ist ein Albtraum für Washington - und wird als Horrorszenario nur noch übertroffen, wenn diese Allianz sich dem auf Russland und China basierenden asiatischen Energie- und Sicherheitsverbund anschließt.


Das wichtigste Ziel der US-Außenpolitik seit dem 2. Weltkrieg besteht darin, die Kontrolle über das Erdöl in der Golfregion zu erlangen und zu behalten. Über jene Quelle also, deren Besitz den USA die Veto-Macht über ihre Industrie-Rivalen gibt und ein entscheidendes Druckmittel gegenüber Europas und Asiens Ökonomien ist, wie einst Sicherheitsberater Zbygniew Brzezinski befand.

Zu dieser Ölregion gehört Iran. Werden die USA tatsächlich Militärschläge gegen Iran starten - trotz der Schwierigkeiten im Irak?

US-Militärs und die Geheimdienste lehnen solche Militärschläge gegen den Iran angeblich ab. Doch die kleine Clique der Politikplaner in Washington besteht aus Leuten, die zum Äußersten entschlossen sind und die über eine enorme Macht verfügen. Ich denke aber, dass sie eher zu subversiven Methoden greifen und separatistische Bewegungen im Iran unterstützen. Vor allem in Arabisch Khuzestan, wo sich die größten Erdöllagerstätten des Iran befinden. Ein solches Handeln wird negative Konsequenzen für die Stabilität der Region und der Welt haben.

Wieso ruft der aggressive Kurs der USA kaum Reaktionen hervor?

Die Friedensbewegung blieb während des Libanon-Krieges passiv. Diese Passivität war schockierend, aber nicht erstaunlich. Ein Grund dafür ist sicher die tief verwurzelte imperiale Mentalität im Westen. Die Vorwände, unter denen die USA und Israel den Libanonkrieg führten, wurden deshalb einfach akzeptiert.

Wie erklären Sie sich das?

Es gibt diejenigen, die über einen privilegierten Zugang zu Informationen verfügen. Ihnen eigen ist jedoch diese imperiale Mentalität, die eine unsichtbare, aber zentrale Komponente der herrschenden intellektuellen und moralischen Kultur ist. Ein Prinzip dieser Mentalität ist die Sicht: Die Verbrechen, die wir an den anderen begehen, werden als normale Vorkommnisse gesehen und als solche toleriert. Alles aber, was uns im Westen von den anderen angetan wird, wird als strafwürdiges Verbrechen eingestuft und muss geahndet werden.

Und die Normalbürger?

Die meisten Bürger wissen nicht, was in ihrem Namen und mit ihrer stillschweigenden Billigung tatsächlich geschieht und warum. Sie können es auch nicht wissen - es sei denn, sie beginnen danach zu suchen oder schließen sich Organisationen an, die sich den doktrinären Zwängen nicht unterwerfen. Diese Erklärung für die Passivität soll natürlich keine Rechtfertigung sein. Es ist vielmehr eine Anklage gegen jene, die die entscheidenden Fakten kennen oder wissen könnten - und trotzdem nichts tun.

Die Fragen stellte Martina Doering.
Berliner Zeitung, 25.08.2006