Knaller an der Zeitungsfront

Friday, August 25, 2006

Danzig versteht seinen Sohn (SZ)

Außenansicht
Danzig versteht seinen Sohn
Wer Günter Grass die Ehrenbürgerwürde nehmen will, handelt in schlechter kommunistischer Tradition.
Ein Kommentar von Pawel Adamowicz, Danzigs Oberbürgermeister

Mein erster Gedanke, als ich die Nachricht hörte, Günter Grass habe bekannt, als Siebzehnjähriger in den letzten Kriegsmonaten der Waffen-SS angehört zu haben: das ist unmöglich.

Wie ist es möglich, dass ein so großer Schriftsteller, ein bewährter Freund Polens und der Polen, ein Ehrenbürger unserer Stadt, in der Waffen-SS war?

Ausgerechnet in der SS, deren verbrecherischer Ruhm bis heute in Polen präsent ist, in der Literatur, in Familienerinnerungen.

Was war zu tun? Wie sollte auf dieses um Jahrzehnte verspätete Bekenntnis reagiert werden? Am einfachsten wäre in Anbetracht der bevorstehenden Kommunalwahlen zweifellos folgende Lösung gewesen: eine Erklärung abgeben, dass Grass uns getäuscht hat, dass er gelogen hat, und ihm den Ehrenbürgertitel aberkennen.

Aber eine derart überstürzte Reaktion wäre nichts anderes als eine Schweinerei gewesen. Denn dieser herausragende Humanist, Schriftsteller, schließlich auch politische Akteur, dem unsere Stadt und unser Land so viel zu verdanken haben, kann kein Kriegsverbrecher sein.

Die Schicksale der Deutschen und der Polen, die sich viele Jahre in den Fängen zweier großer Totalitarismen befanden, waren ungewöhnlich kompliziert.

"Für das Gift empfänglich"

Viele meiner Landsleute ließen sich vom Stalinismus vergiften, so wie viele Deutsche sich vom Nationalsozialismus betäuben ließen. Grass hat nie verborgen gehalten, dass er in seinen jungen Jahren für dieses Gift empfänglich war.

Der verbrecherische Charakter der SS-Formationen ist heute für jeden offensichtlich. Doch konnte ein Heranwachsender in einem totalitären Staat dies erkennen? Woher?

Überdies hat der Schriftsteller als Erwachsener in seinem Werk wie auch in seiner politischen Tätigkeit alles getan, um den Deutschen das ungeheure Ausmaß der Verbrechen zu verdeutlichen.

Wäre die Anerkennung unserer Nachkriegsgrenzen durch die Bundesrepublik Deutschland zustande gekommen, wenn nicht Grass systematisch auf die Lösung dieses Problems gedrungen hätte? Ich denke: eher nicht.

Auf jeden Fall nicht im Jahr 1970. In die Waagschalen der Gerechtigkeit muss also auf der einen Seite der Fehler eines unreifen Jungen gelegt werden, auf der anderen Seite aber das Verdienst des reifen Mannes. Welche Waagschale ist schwerer?

Leider fanden sich in Polen Politiker, die beschlossen, aus der Jahrzehnte zurückliegenden Jugendsünde eine Waffe für die kommenden Kommunalwahlen zu machen. Dies würde sich auch hervorragend in die derzeit ohnehin nicht sehr guten deutsch-polnischen Beziehungen einpassen. Warum sollte man also nicht auf die Pauke hauen?

Warum sollte man nicht fordern, dass Grass selbst auf den Ehrenbürgertitel verzichtet? Und wenn er nicht wollte, ihm den Titel per Ratsbeschluss aberkennen?

Jede Methode ist nun einmal gut, um Wahlen zu gewinnen. Schade nur, dass meine Politikerkollegen auf diese Weise den unguten Traditionen des kommunistischen Regimes, das das deutsche Schreckgespenst zur Legitimierung seiner Herrschaft brauchte, ein neues Kapitel hinzugefügt haben.

Doch schon bald zeigte sich, dass ich mit meinen Überlegungen zur Causa Grass keineswegs allein stand. Polnische Intellektuelle und Schriftsteller haben mich unterstützt, sie verfassten einen offenen Brief, in dem sie gegen die Versuche protestierten, Grass’ Tragödie für unsere inneren Ränkespiele zu instrumentalisieren.

Den Brief haben unter anderem die Literaturnobelpreisträgerin Wieslawa Szymborska, die Roman-Autoren Pawel Huelle und Stefan Chwin sowie nahezu alle Vertreter des Danziger Künstlermilieus unterzeichnet

"Frei von antideutschen Phobien"

Auch die Reaktionen der "gewöhnlichen" Danziger fielen laut und vernehmlich aus. Eine von mir in Auftrag gegebene Meinungsumfrage ergab, dass nur ein Drittel der Einwohner unserer Stadt der Meinung ist, dass Grass auf seine Ehrenbürgerwürde verzichten sollte.

Sogar 72 Prozent sprechen sich dagegen aus, dass der Stadtrat ihm den Ehrentitel aberkennen sollte. Die Ergebnisse der Umfrage haben gezeigt, dass die Danziger reifer sind, als dies manche Politiker kalkuliert hatten.

Die Umfrage belegt, dass wir Danziger eine Gesellschaft bilden, die frei ist von Komplexen und antideutschen Phobien. Sonst könnten wir nicht Verständnis für andere aufbringen und wären auch nicht bereit zu vergeben.

Doch es bleibt eine für die Danziger überaus wichtige Frage: Warum erfolgte das Bekenntnis Günter Grass’ so spät? Und warum hat Grass uns nicht informiert, dass er sich dazu entschlossen hat, dieses bislang verschwiegene Kapitel seiner Vergangenheit offen zu legen? Er hätte doch voraussehen müssen, dass sein Bekenntnis lebhafte Reaktionen nicht nur in Deutschland hervorruft, sondern auch in Polen, besonders in seiner Heimatstadt.

Ich habe daher einen Brief an den Schriftsteller geschrieben. Ich habe ihn gebeten, uns Danzigern zu erklären, wie es kam, dass er Angehöriger der Waffen-SS wurde, und warum er so lange geschwiegen hat. Die Mail mit diesen Fragen habe ich am vergangenen Samstagabend abgeschickt.

Ich gestehe, dass ich fast die ganze Nacht danach nicht geschlafen habe. Wird er antworten oder nicht? Und wenn er schreibt, wird er sich dann mit ein paar klein dosierten Absätzen begnügen?

In dieser Nacht habe ich Antworten auf die uns umtreibenden Fragen in dem Lieblingsbuch meiner Jugendzeit gesucht, in der Blechtrommel.

Der folgende Tag verlief in nervöser Atmosphäre. Am Abend endlich kam ein Anruf meines Mitarbeiters: "Die Antwort ist da, ich habe schon mit der Übersetzung angefangen." Ich bin ins Auto gesprungen und zum Rathaus gefahren und habe nervös dem Übersetzer über die Schulter auf den Bildschirm geschaut.

Und bald verspürte ich Erleichterung: Es handelte sich nicht um eine floskelhafte Antwort, sondern es war ein ernsthafter und schmerzhaft aufrichtiger Brief.

Am Dienstagabend hat der Danziger Schauspieler Jerzy Kizkis im Rathaus den Brief vor einer großen Zuhörerschar verlesen. Mehrere Fernseh- und Rundfunkprogramme haben die Lesung übertragen.

Als der Schauspieler zum Ende gekommen war, herrschte für einen Moment Stille, dann brach der Saal in stürmischen Beifall aus.

Es applaudierten die versammelten Ratsmitglieder, Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und andere Danziger Bürger.

Danzig versteht seinen Sohn.

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