Guantanamo Bay (SZ)
Christian Wernicke:
"Das ist der amerikanische Gulag"
Gefangene, die ohne Hoffnung bleiben, und Bewacher, die sich hinter banaler Routine verschanzen - wie in Camp Delta das Unrecht verwaltet wird.
Er ist ein "Master-at-Arms", und er führt diesen Titel mit Stolz. In der Armee würden sie ihn schnöde Sergeant rufen.
Aber er ist eben bei der US-Navy, ein schneidiger Fähnrich zur See. Der feine Unterschied ist ihm wichtig, gerade hier an Land, wo er seit elf Monaten am immer selben Ort seine Pflicht tut.
"Ich versuche, es als Einsatz wie jeden anderen zu begreifen", sagt er, "dies hier ist eine neue Art von Schlachtfeld - weniger physisch, mehr mental."
"MA-One", wie man ihn der Kürze zuliebe nennen darf, wähnt sich an der Front in Amerikas Anti-Terror-Krieg. Jeden Tag auf dem Weg zum Dienst passiert er die Losung der Truppe: "Ehre verpflichtet, die Freiheit zu verteidigen", Honour bound to defend freedom, verkündet das angerostete Schild am Eingang zum Knast.
Besucher mögen das Logo als makaber empfinden, ihn plagen solche Zweifel nicht. Der schwarze, breitschultrige Hüne hat sich freiwillig gemeldet zum Einsatz auf Guantanamo Bay, ein Jahr schiebt er täglich zwölf Stunden Wache in Camp Delta, dem Hauptkomplex des umstrittensten Gefängnisses der Welt.
Kalte Disziplin gegenüber den "feindlichen Kämpfern"
Draußen brennt die kubanische Mittagssonne, vier Geier kreisen im Aufwind über dem Lager. Drinnen in der Holzbaracke wischt sich MA-One den staubigen Schweiß von der Stirn. Er selbst gibt sich cool, sogar jetzt, da der 33-Jährige von seinem "ganz speziellen Erlebnis" erzählt. Das war vorigen November: "Da hat mir einer der Häftlinge einen Cocktail ins Gesicht geschleudert."
Cocktail nennen die Soldaten jene Mischung aus Fäkalien, Urin und Essensresten, die Gefangene in den weißen Styropor-Schachteln vom Mittagessen anrühren und regelmäßig durchs Zellengitter auf ihre Wächter abfeuern. MA-One zuckt mit den Schultern: "Okay, das war eine Erfahrung fürs Leben."
Keine Wut, keine Rachlust? Der Seemann schüttelt den kahlen Schädel: "Nach einer Stunde war ich wieder auf Posten." Unter die Dusche, rein in die zweite Uniform - "sobald du die Kontrolle verlierst, bestimmst du nicht mehr, was läuft." Schlimmer noch, "wenn ich ausraste, gefährde ich nebenan vielleicht ein Verhör, das uns hilft, draußen im Feld ein amerikanisches Leben zu retten."
Fähnrich MA-One bestimmt gern, weshalb er am liebsten alles unter Kontrolle hält. Er wahrt kalte Disziplin, pflegt kühle Distanz nicht nur gegenüber den "feindlichen Kämpfern", die er ausschließlich mit ihrer "ISN", ihrer Internierungs-Serien-Nummer anspricht: "Hier persönlich zu sein, kann dich das Leben kosten." Jeder Soldat ist strikt angewiesen, im Lager sein Namensschild auf der Uniform mit Klebeband zu verdecken.
"Die Häftlinge schnappen alles auf"
Eine Vorsichtsmaßnahme, falls "der Feind" irgendwann und irgendwie doch rauskommt - trotz Fußfesseln und Handschellen, trotz Wachtürmen, messerscharfem Stacheldraht und drei Reihen hoher Zäune. Ein Gefangener, so berichtet MA-One, habe auch ihm prophezeit, er werde "mich jagen und töten, samt meiner Familie".
MA-One hat, auf eigene Weise, die anonyme Logik des Systems Guantanamo zur Perfektion getrieben: Seinen bürgerlichen Namen offenbart er nicht mal seinen Stubenkameraden. Sein Geburtsort? Brooklyn, New York. Ein Foto? - "Meinetwegen." Aber keine Initialen, weder Vor- noch Zuname. "Hier im Lager genügt ein unvorsichtiger Gruß von Kameraden, ein falsches Wort", erklärt er sein zwölfmonatiges Inkognito gegenüber Freund wie Feind: "Die Häftlinge schnappen alles auf, das verbreitet sich wie ein Lauffeuer." Dass ihn die Kumpel hinterrücks abends beim Bier belächeln, quittiert er mit einer abfälligen Handbewegung: "Ich habe keine Angst vor niemandem. Für mich ist das einfach eine perfekte Operation." Alles geregelt, alles im Griff.
"A perfect operation" - solche Worte kommen dem obersten Dienstherrn von MA-One, George W. Bush, längst nicht mehr über die Lippen, wenn er über Guantanamo redet. Im Gegenteil, angesichts weltweiter Kritik bekundet der US-Präsident inzwischen, auch er möchte sein Internierungs-Camp "lieber geschlossen sehen". Es scheint, als bröckele in Washington das Fundament für das Lager auf dem US-Militärstützpunkt an Kubas felsiger Südostküste. Der Oberste Gerichtshof bekrittelt neuerdings ein Regime, das 450 vermeintliche Taliban- und Al-Qaida-Mitglieder seit viereinhalb Jahren ohne rechtsstaatliche Prozesse einkerkert.
"Etliche von uns saufen einfach zu viel"
Obendrein erschüttern Foltervorwürfe, Hungerstreiks und zuletzt die Selbstmorde dreier Gefangenen das Image von Lager und Nation. Und wann immer es einer, wie jetzt der Deutsch-Türke Murat Kurnaz, doch schafft, auf dem diplomatischen Gnadenwege aus Guantanamo zu entkommen, steht sofort ein neuer Kronzeuge bereit, die Zustände an der Bay anzuprangern.
Nur draußen auf Kuba, an vorderster Anti-Terror-Front, beeindruckt das niemanden. Kein Offizier, kein einfacher Soldat, der Zweifel durchblicken ließe an seinem Tun und Sein auf der Insel. "All die Typen, die da an uns herummäkeln", winkt etwa MA-One ab, "die haben nicht den Mut zu dienen. Die sind nicht bereit, ihr Leben für die Freiheit zu geben." So denken hier die meisten.
Nicht der Dienst, die Langeweile nach Feierabend nervt sie: Fischen, Schnorcheln, Beach-Volleyball und abends lauter Karaoke-Singsang beim Bier - viel mehr ist nicht los auf den 45 Quadratmeilen der US-Militärexklave. "Etliche von uns saufen einfach zu viel", sagt einer.
Bei Tageslicht präsentiert sich Guantanamo wie ein amerikanisches Provinznest. McDonald’s und Starbucks locken an der Hauptstraße, nebenan steht der Supermarkt. Ein Souvenirladen bietet Memorabilien feil, Kaffeebecher mit Piratenköpfen oder T-Shirts mit Wachtürmen und der Aufschrift: "The Taliban Towers - das neueste Fünf-Sterne-Resort in der Karibik".
Überall grünt der akkurat gemähte Rasen, hinter den Gartenzäunen der Offiziershäuser sprießen Blumen.
Der Stützpunkt genügt sich selbst. Seit der Kuba-Krise Anfang der sechziger Jahre produziert eine Entsalzungsanlage das eigene Trinkwasser und Strom. Am Zaun zu Castros Reich herrscht Grabesruhe - auch jetzt, da der alte Mann in Havanna dem Siechtum verfällt und niemand weiß, was wohl geschieht da drüben, im eigentlichen Kuba.
Von Kriegsgefangenen redet der Lagerkommandant nicht gern
Fidel Castro und der Kommunismus, das sind die vergilbten Feindbilder im Hinterland. Der neue, bedrohlichere Feind lauert in Bagdad oder in Kandahar. Und hockt unten am Felsufer hinter Schloss und Riegel. Lindgrüne Planen versperren Wächtern wie Bewachten die Sicht auf die blaue See, und ähnlich verschlossen sind hier die Denkmuster. "Dies ist ein idealer Platz, um unsere Mission zu erfüllen", sagt Konter-Admiral Harry Harris, "wir haben das Recht, diese feindlichen Kämpfer vom Schlachtfeld fernzuhalten, solange dieser Krieg nicht beendet ist."
Zwei Beweise, dass dies lange dauern kann, hat seine Regierung gerade drüben am Hang in Beton gegossen: Ein Hochsicherheitsgebäude samt automatischen Zellentüren und Kameraüberwachung, daneben ein heller Klotz für 200 minder gefährliche Kombattanten. Gesamtkosten: 47 Millionen Dollar.
Von "P.O.W.s", von Kriegsgefangenen, redet der Lagerkommandant nicht gern. Denn dann würde die Genfer Konvention ihm und den US-Geheimdiensten verbieten, den mutmaßlichen Terroristen in Verhören angeblich noch immer wertvolle Informationen abzuringen. Mit schneidender Stimme wischt Harris den Einwand beiseite, seine Regierung könnte ihm den einen oder anderen Unschuldigen ins Camp gesetzt haben.
"Ich rate Ihnen, fassen Sie das mit Vorsicht an"
Immerhin belegt eine Studie unabhängiger Juristen, dass nur ganze fünf Prozent der Gefangenen einst in Afghanistan oder Pakistan eigenhändig von US-Truppen arrestiert wurden; gleichzeitig lockten damals hohe Prämien Scharen von Kopfgeldjägern an. Willkür, Betrug? "Nein, die Inhaftierten sind alle angemessen überprüft worden.
"Harris kennt alle Argumente, er ist präpariert. Und bereit nachzuhelfen. Freundlich beugt der kleine Mann den Kopf mit dem markigen Scheitel nach vorn, als wolle er dem Besucher über der Tischkante ein Geheimnis anvertrauen: "Diese Studie wurde nur erstellt auf der Grundlage veröffentlichter Informationen - da ist nicht berücksichtigt, was wir alles als geheim eingestuft haben. Ich rate Ihnen, fassen Sie das mit Vorsicht an."
Harris weiß, damit hat er niet- und nagelfest einen Teufelskreis geschlossen. Wie, bitte sehr, soll dann ein Gefangener überhaupt seine Unschuld beweisen? "Das ist eine juristische Frage, für Schuld oder Unschuld bin ich nicht zuständig. Das müssen Anwälte beantworten."
"Das ist Guantanamo - der amerikanische Gulag"
Tom Wilner ist Anwalt. Und er wäre - hätte er denn im holzvertäfelten Konferenzsaal der Kommandantur zu Guantanamo zugehört - "mal wieder die Wände hochgegangen". Aber der 62-jährige Jurist hockt dieser Tage weit weg in seiner Kanzlei in Washington und sagt: "Es ist genau dieser Zirkelschluss, der mich so aufregt." Unter dem Papierwust auf seinem Schreibtisch kramt er ein Buch hervor, das den Alltag in Stalins sibirischen Lagern schildert.
Im Stehen liest er vor, wie damals ein Wächter das sowjetische System erklärte: "Wir verhaften nie jemanden, der nicht schuldig ist. Und selbst wenn du nicht schuldig wärst, können wir dich nicht freilassen. Denn dann würden die Leute sagen, wir würden Unschuldige einlochen." Kurze Kunstpause. Wilner setzt sich, fügt hinzu: "Das ist Guantanamo - der amerikanische Gulag."
Seit Februar 2002 arbeitet Wilner, Yale-Absolvent und einst in derselben Burschenschaft wie der heutige Präsident, sich am Guantanamo-Komplex ab. Damals suchten zwölf kuwaitische Familien verzweifelt einen Rechtsbeistand für ihre Söhne, und Wilner - eigentlich Spezialist für lukrative Wirtschaftsprozesse - sagte zu."
Damals dachte ich, die Sache würde sich einige Monate hinziehen", sagt er bitter. Sechs sind inzwischen frei, ausgeflogen und abgeschoben in die Heimat wie jetzt Murat Kurnaz. Der Bremer war der 311. Fall, der auf Guantanamo (politisch, nicht juristisch) ad acta gelegt wurde. Nur, auf seinem Aktendeckel wird für immer ein Stempel prangen: "feindlicher Kämpfer".
Ein Dutzend Male war der Anwalt mittlerweile auf Kuba. Sein Honorar spendet er, von der Unschuld seiner Mandanten ist er überzeugt. Wilner glaubt deren Darstellung, sie seien damals als Kinder reicher Familien für wohltätige Zwecke in Afghanistan unterwegs gewesen und dann für ein paar Dollar Prämie denunziert worden. "Aber darum geht es gar nicht. Hier in den USA steht viel mehr auf dem Spiel - das Ur-Recht auf rechtliches Gehör." Wilner senkt die Stimme, spricht langsam: "Kein König darf dich ohne Richter in den Karzer werfen."
Diesen Grundsatz auszuhöhlen, das sei "das Verdienst von fürchterlichen Juristen", vor allem im Stab von Vize-Präsident Dick Cheney. Die hätten schlicht eine Militärvorschrift außer Kraft gesetzt, die noch in Vietnam und bei Amerikas erstem Irak-Krieg eine strikte Prüfung eines jeden Gefangenen möglichst nah am Schlachtfeld verlangte: "Diesen Fehler versuchen sie bis heute verzweifelt zu vertuschen." Wilner redet sich in Rage, schimpft "über die bornierten Ideologen in der Regierung". Seine Frau glaubt, er sei wie besessen.
Für die Seelen sorgt "Dr. K."
"Das stimmt", sagt er und grinst, "ich habe so manche Party verdorben mit diesem Thema." Schon verfinstert sich Wilners Miene, der Blick aus dem Fenster gleitet auf das prächtige Gebäude des Nationalarchivs: "Dies erschüttert meinen Glauben an Amerika. Uns eint keine Rasse, keine Religion. Es ist allein der Glaube an das Recht, der unsere Nation zusammenhält."
Tom Wilner ist Jude. Zwei seiner arabischen Klienten haben ihm neulich gesteckt, sie seien bei Verhören gewarnt worden, "nur ja nicht einem jüdischen Anwalt zu vertrauen". Auf Guantanamo bestreiten sie solche Vorwürfe, und "leider, leider" sei es Journalisten verboten, die Häftlingen selbst zu befragen - "zu gefährlich" und "aus Respekt vor der Genfer Konvention".
Stattdessen werden die Besucher durch leere grüne Zellentrakte geleitet. Penibel referiert ein Soldat die Hausordnung: etwa, dass gehorsame Insassen blaue Schuhe statt Gummilatschen tragen dürfen, dass ihnen als comfort items ein Gebetsteppich zustehen, ein Fläschchen Moschusöl und eine richtige Zahnbürste statt eines kurzen Fingerhuts mit Borsten. Zwei mal zwei Meter groß ist jeder Metallverschlag, unterm Fenster ein Abtritt, daneben - in Kniehöhe - das Waschbecken aus Aluminium.
"Das erleichert denen die Fußwaschung", erklärt ein Offizier. Fünfmal am Tag, wenn per Tonband ein virtueller Muezzin zum Gebet ruft, wird ein gelbes Warnzeichen in den Gang gerückt - als Mahnung an die Wachen, die Ruhe des Ritus zu wahren.
Guantanamo wirkt wie banale Routine
Die schlimmsten Zustände sind längst vorüber. Das berüchtigte Camp X-Ray etwa, wo 2002 die Gefangenen in orangefarbene Overalls gesteckt und massenhaft in Drahtkäfige gepfercht wurden, ist längst geschlossen. Hüfthoch wuchert das Gras, tropische Ranke hat bereits die Blechdächer erobert. Eine Geisterstadt. Der letzte Gefangene ist ein Truthahngeier, der sich im Stacheldraht verfing und nun am Zaun elendig verwest.
Guantanamo wirkt wie banale Routine. Keine Exzesse, alles gehorcht der Vorschrift. Alles ist Alltag, für Willkür bleibt kein Platz. Die Kantine kocht nach muslimischen Regeln halale Speisen, der medizinische Dienst verschreibt jeden Monat 1200 Medikamente. In der Holzbaracke werden zwei Hungerstreikende über Plastikschläuche zwangsernährt, sie sind die letzten von einst 131 Protestlern. Der Lagerarzt, ein ergrauter Reservist namens "Dr. H.", versichert, bei Verdacht auf Misshandlungen erstatte er sofort Meldung: "Aber viele Narben können irgendwo anders her stammen."
Tom Wilner, der Anwalt, glaubt sowieso, für Insassen wie seine Mandanten sei "die wahre Folter in Guantanamo nicht physisch, sondern mental. Es ist das Gefühl, keine Chance zu haben." Auch dafür hält das System eine Antwort parat: "Dr. K."
Die eifrige Neuropsychologin bietet 18 depressiven Patienten ihren Beistand an. "Dr. K." weiß, dass sie kaum mehr als Symptome kuriert. Aber sie müht sich redlich, der Lage ihrer Klienten "einen anderen Rahmen zu geben". Wie das geht? Ungefähr so: "Niemand weiß, wann irgendwer nach Hause kommt. Aber wir müssen weiter die Hoffnung einflößen, dass dies keine ewige Situation ist."
"Das ist der amerikanische Gulag"
Gefangene, die ohne Hoffnung bleiben, und Bewacher, die sich hinter banaler Routine verschanzen - wie in Camp Delta das Unrecht verwaltet wird.
Er ist ein "Master-at-Arms", und er führt diesen Titel mit Stolz. In der Armee würden sie ihn schnöde Sergeant rufen.
Aber er ist eben bei der US-Navy, ein schneidiger Fähnrich zur See. Der feine Unterschied ist ihm wichtig, gerade hier an Land, wo er seit elf Monaten am immer selben Ort seine Pflicht tut.
"Ich versuche, es als Einsatz wie jeden anderen zu begreifen", sagt er, "dies hier ist eine neue Art von Schlachtfeld - weniger physisch, mehr mental."
"MA-One", wie man ihn der Kürze zuliebe nennen darf, wähnt sich an der Front in Amerikas Anti-Terror-Krieg. Jeden Tag auf dem Weg zum Dienst passiert er die Losung der Truppe: "Ehre verpflichtet, die Freiheit zu verteidigen", Honour bound to defend freedom, verkündet das angerostete Schild am Eingang zum Knast.
Besucher mögen das Logo als makaber empfinden, ihn plagen solche Zweifel nicht. Der schwarze, breitschultrige Hüne hat sich freiwillig gemeldet zum Einsatz auf Guantanamo Bay, ein Jahr schiebt er täglich zwölf Stunden Wache in Camp Delta, dem Hauptkomplex des umstrittensten Gefängnisses der Welt.
Kalte Disziplin gegenüber den "feindlichen Kämpfern"
Draußen brennt die kubanische Mittagssonne, vier Geier kreisen im Aufwind über dem Lager. Drinnen in der Holzbaracke wischt sich MA-One den staubigen Schweiß von der Stirn. Er selbst gibt sich cool, sogar jetzt, da der 33-Jährige von seinem "ganz speziellen Erlebnis" erzählt. Das war vorigen November: "Da hat mir einer der Häftlinge einen Cocktail ins Gesicht geschleudert."
Cocktail nennen die Soldaten jene Mischung aus Fäkalien, Urin und Essensresten, die Gefangene in den weißen Styropor-Schachteln vom Mittagessen anrühren und regelmäßig durchs Zellengitter auf ihre Wächter abfeuern. MA-One zuckt mit den Schultern: "Okay, das war eine Erfahrung fürs Leben."
Keine Wut, keine Rachlust? Der Seemann schüttelt den kahlen Schädel: "Nach einer Stunde war ich wieder auf Posten." Unter die Dusche, rein in die zweite Uniform - "sobald du die Kontrolle verlierst, bestimmst du nicht mehr, was läuft." Schlimmer noch, "wenn ich ausraste, gefährde ich nebenan vielleicht ein Verhör, das uns hilft, draußen im Feld ein amerikanisches Leben zu retten."
Fähnrich MA-One bestimmt gern, weshalb er am liebsten alles unter Kontrolle hält. Er wahrt kalte Disziplin, pflegt kühle Distanz nicht nur gegenüber den "feindlichen Kämpfern", die er ausschließlich mit ihrer "ISN", ihrer Internierungs-Serien-Nummer anspricht: "Hier persönlich zu sein, kann dich das Leben kosten." Jeder Soldat ist strikt angewiesen, im Lager sein Namensschild auf der Uniform mit Klebeband zu verdecken.
"Die Häftlinge schnappen alles auf"
Eine Vorsichtsmaßnahme, falls "der Feind" irgendwann und irgendwie doch rauskommt - trotz Fußfesseln und Handschellen, trotz Wachtürmen, messerscharfem Stacheldraht und drei Reihen hoher Zäune. Ein Gefangener, so berichtet MA-One, habe auch ihm prophezeit, er werde "mich jagen und töten, samt meiner Familie".
MA-One hat, auf eigene Weise, die anonyme Logik des Systems Guantanamo zur Perfektion getrieben: Seinen bürgerlichen Namen offenbart er nicht mal seinen Stubenkameraden. Sein Geburtsort? Brooklyn, New York. Ein Foto? - "Meinetwegen." Aber keine Initialen, weder Vor- noch Zuname. "Hier im Lager genügt ein unvorsichtiger Gruß von Kameraden, ein falsches Wort", erklärt er sein zwölfmonatiges Inkognito gegenüber Freund wie Feind: "Die Häftlinge schnappen alles auf, das verbreitet sich wie ein Lauffeuer." Dass ihn die Kumpel hinterrücks abends beim Bier belächeln, quittiert er mit einer abfälligen Handbewegung: "Ich habe keine Angst vor niemandem. Für mich ist das einfach eine perfekte Operation." Alles geregelt, alles im Griff.
"A perfect operation" - solche Worte kommen dem obersten Dienstherrn von MA-One, George W. Bush, längst nicht mehr über die Lippen, wenn er über Guantanamo redet. Im Gegenteil, angesichts weltweiter Kritik bekundet der US-Präsident inzwischen, auch er möchte sein Internierungs-Camp "lieber geschlossen sehen". Es scheint, als bröckele in Washington das Fundament für das Lager auf dem US-Militärstützpunkt an Kubas felsiger Südostküste. Der Oberste Gerichtshof bekrittelt neuerdings ein Regime, das 450 vermeintliche Taliban- und Al-Qaida-Mitglieder seit viereinhalb Jahren ohne rechtsstaatliche Prozesse einkerkert.
"Etliche von uns saufen einfach zu viel"
Obendrein erschüttern Foltervorwürfe, Hungerstreiks und zuletzt die Selbstmorde dreier Gefangenen das Image von Lager und Nation. Und wann immer es einer, wie jetzt der Deutsch-Türke Murat Kurnaz, doch schafft, auf dem diplomatischen Gnadenwege aus Guantanamo zu entkommen, steht sofort ein neuer Kronzeuge bereit, die Zustände an der Bay anzuprangern.
Nur draußen auf Kuba, an vorderster Anti-Terror-Front, beeindruckt das niemanden. Kein Offizier, kein einfacher Soldat, der Zweifel durchblicken ließe an seinem Tun und Sein auf der Insel. "All die Typen, die da an uns herummäkeln", winkt etwa MA-One ab, "die haben nicht den Mut zu dienen. Die sind nicht bereit, ihr Leben für die Freiheit zu geben." So denken hier die meisten.
Nicht der Dienst, die Langeweile nach Feierabend nervt sie: Fischen, Schnorcheln, Beach-Volleyball und abends lauter Karaoke-Singsang beim Bier - viel mehr ist nicht los auf den 45 Quadratmeilen der US-Militärexklave. "Etliche von uns saufen einfach zu viel", sagt einer.
Bei Tageslicht präsentiert sich Guantanamo wie ein amerikanisches Provinznest. McDonald’s und Starbucks locken an der Hauptstraße, nebenan steht der Supermarkt. Ein Souvenirladen bietet Memorabilien feil, Kaffeebecher mit Piratenköpfen oder T-Shirts mit Wachtürmen und der Aufschrift: "The Taliban Towers - das neueste Fünf-Sterne-Resort in der Karibik".
Überall grünt der akkurat gemähte Rasen, hinter den Gartenzäunen der Offiziershäuser sprießen Blumen.
Der Stützpunkt genügt sich selbst. Seit der Kuba-Krise Anfang der sechziger Jahre produziert eine Entsalzungsanlage das eigene Trinkwasser und Strom. Am Zaun zu Castros Reich herrscht Grabesruhe - auch jetzt, da der alte Mann in Havanna dem Siechtum verfällt und niemand weiß, was wohl geschieht da drüben, im eigentlichen Kuba.
Von Kriegsgefangenen redet der Lagerkommandant nicht gern
Fidel Castro und der Kommunismus, das sind die vergilbten Feindbilder im Hinterland. Der neue, bedrohlichere Feind lauert in Bagdad oder in Kandahar. Und hockt unten am Felsufer hinter Schloss und Riegel. Lindgrüne Planen versperren Wächtern wie Bewachten die Sicht auf die blaue See, und ähnlich verschlossen sind hier die Denkmuster. "Dies ist ein idealer Platz, um unsere Mission zu erfüllen", sagt Konter-Admiral Harry Harris, "wir haben das Recht, diese feindlichen Kämpfer vom Schlachtfeld fernzuhalten, solange dieser Krieg nicht beendet ist."
Zwei Beweise, dass dies lange dauern kann, hat seine Regierung gerade drüben am Hang in Beton gegossen: Ein Hochsicherheitsgebäude samt automatischen Zellentüren und Kameraüberwachung, daneben ein heller Klotz für 200 minder gefährliche Kombattanten. Gesamtkosten: 47 Millionen Dollar.
Von "P.O.W.s", von Kriegsgefangenen, redet der Lagerkommandant nicht gern. Denn dann würde die Genfer Konvention ihm und den US-Geheimdiensten verbieten, den mutmaßlichen Terroristen in Verhören angeblich noch immer wertvolle Informationen abzuringen. Mit schneidender Stimme wischt Harris den Einwand beiseite, seine Regierung könnte ihm den einen oder anderen Unschuldigen ins Camp gesetzt haben.
"Ich rate Ihnen, fassen Sie das mit Vorsicht an"
Immerhin belegt eine Studie unabhängiger Juristen, dass nur ganze fünf Prozent der Gefangenen einst in Afghanistan oder Pakistan eigenhändig von US-Truppen arrestiert wurden; gleichzeitig lockten damals hohe Prämien Scharen von Kopfgeldjägern an. Willkür, Betrug? "Nein, die Inhaftierten sind alle angemessen überprüft worden.
"Harris kennt alle Argumente, er ist präpariert. Und bereit nachzuhelfen. Freundlich beugt der kleine Mann den Kopf mit dem markigen Scheitel nach vorn, als wolle er dem Besucher über der Tischkante ein Geheimnis anvertrauen: "Diese Studie wurde nur erstellt auf der Grundlage veröffentlichter Informationen - da ist nicht berücksichtigt, was wir alles als geheim eingestuft haben. Ich rate Ihnen, fassen Sie das mit Vorsicht an."
Harris weiß, damit hat er niet- und nagelfest einen Teufelskreis geschlossen. Wie, bitte sehr, soll dann ein Gefangener überhaupt seine Unschuld beweisen? "Das ist eine juristische Frage, für Schuld oder Unschuld bin ich nicht zuständig. Das müssen Anwälte beantworten."
"Das ist Guantanamo - der amerikanische Gulag"
Tom Wilner ist Anwalt. Und er wäre - hätte er denn im holzvertäfelten Konferenzsaal der Kommandantur zu Guantanamo zugehört - "mal wieder die Wände hochgegangen". Aber der 62-jährige Jurist hockt dieser Tage weit weg in seiner Kanzlei in Washington und sagt: "Es ist genau dieser Zirkelschluss, der mich so aufregt." Unter dem Papierwust auf seinem Schreibtisch kramt er ein Buch hervor, das den Alltag in Stalins sibirischen Lagern schildert.
Im Stehen liest er vor, wie damals ein Wächter das sowjetische System erklärte: "Wir verhaften nie jemanden, der nicht schuldig ist. Und selbst wenn du nicht schuldig wärst, können wir dich nicht freilassen. Denn dann würden die Leute sagen, wir würden Unschuldige einlochen." Kurze Kunstpause. Wilner setzt sich, fügt hinzu: "Das ist Guantanamo - der amerikanische Gulag."
Seit Februar 2002 arbeitet Wilner, Yale-Absolvent und einst in derselben Burschenschaft wie der heutige Präsident, sich am Guantanamo-Komplex ab. Damals suchten zwölf kuwaitische Familien verzweifelt einen Rechtsbeistand für ihre Söhne, und Wilner - eigentlich Spezialist für lukrative Wirtschaftsprozesse - sagte zu."
Damals dachte ich, die Sache würde sich einige Monate hinziehen", sagt er bitter. Sechs sind inzwischen frei, ausgeflogen und abgeschoben in die Heimat wie jetzt Murat Kurnaz. Der Bremer war der 311. Fall, der auf Guantanamo (politisch, nicht juristisch) ad acta gelegt wurde. Nur, auf seinem Aktendeckel wird für immer ein Stempel prangen: "feindlicher Kämpfer".
Ein Dutzend Male war der Anwalt mittlerweile auf Kuba. Sein Honorar spendet er, von der Unschuld seiner Mandanten ist er überzeugt. Wilner glaubt deren Darstellung, sie seien damals als Kinder reicher Familien für wohltätige Zwecke in Afghanistan unterwegs gewesen und dann für ein paar Dollar Prämie denunziert worden. "Aber darum geht es gar nicht. Hier in den USA steht viel mehr auf dem Spiel - das Ur-Recht auf rechtliches Gehör." Wilner senkt die Stimme, spricht langsam: "Kein König darf dich ohne Richter in den Karzer werfen."
Diesen Grundsatz auszuhöhlen, das sei "das Verdienst von fürchterlichen Juristen", vor allem im Stab von Vize-Präsident Dick Cheney. Die hätten schlicht eine Militärvorschrift außer Kraft gesetzt, die noch in Vietnam und bei Amerikas erstem Irak-Krieg eine strikte Prüfung eines jeden Gefangenen möglichst nah am Schlachtfeld verlangte: "Diesen Fehler versuchen sie bis heute verzweifelt zu vertuschen." Wilner redet sich in Rage, schimpft "über die bornierten Ideologen in der Regierung". Seine Frau glaubt, er sei wie besessen.
Für die Seelen sorgt "Dr. K."
"Das stimmt", sagt er und grinst, "ich habe so manche Party verdorben mit diesem Thema." Schon verfinstert sich Wilners Miene, der Blick aus dem Fenster gleitet auf das prächtige Gebäude des Nationalarchivs: "Dies erschüttert meinen Glauben an Amerika. Uns eint keine Rasse, keine Religion. Es ist allein der Glaube an das Recht, der unsere Nation zusammenhält."
Tom Wilner ist Jude. Zwei seiner arabischen Klienten haben ihm neulich gesteckt, sie seien bei Verhören gewarnt worden, "nur ja nicht einem jüdischen Anwalt zu vertrauen". Auf Guantanamo bestreiten sie solche Vorwürfe, und "leider, leider" sei es Journalisten verboten, die Häftlingen selbst zu befragen - "zu gefährlich" und "aus Respekt vor der Genfer Konvention".
Stattdessen werden die Besucher durch leere grüne Zellentrakte geleitet. Penibel referiert ein Soldat die Hausordnung: etwa, dass gehorsame Insassen blaue Schuhe statt Gummilatschen tragen dürfen, dass ihnen als comfort items ein Gebetsteppich zustehen, ein Fläschchen Moschusöl und eine richtige Zahnbürste statt eines kurzen Fingerhuts mit Borsten. Zwei mal zwei Meter groß ist jeder Metallverschlag, unterm Fenster ein Abtritt, daneben - in Kniehöhe - das Waschbecken aus Aluminium.
"Das erleichert denen die Fußwaschung", erklärt ein Offizier. Fünfmal am Tag, wenn per Tonband ein virtueller Muezzin zum Gebet ruft, wird ein gelbes Warnzeichen in den Gang gerückt - als Mahnung an die Wachen, die Ruhe des Ritus zu wahren.
Guantanamo wirkt wie banale Routine
Die schlimmsten Zustände sind längst vorüber. Das berüchtigte Camp X-Ray etwa, wo 2002 die Gefangenen in orangefarbene Overalls gesteckt und massenhaft in Drahtkäfige gepfercht wurden, ist längst geschlossen. Hüfthoch wuchert das Gras, tropische Ranke hat bereits die Blechdächer erobert. Eine Geisterstadt. Der letzte Gefangene ist ein Truthahngeier, der sich im Stacheldraht verfing und nun am Zaun elendig verwest.
Guantanamo wirkt wie banale Routine. Keine Exzesse, alles gehorcht der Vorschrift. Alles ist Alltag, für Willkür bleibt kein Platz. Die Kantine kocht nach muslimischen Regeln halale Speisen, der medizinische Dienst verschreibt jeden Monat 1200 Medikamente. In der Holzbaracke werden zwei Hungerstreikende über Plastikschläuche zwangsernährt, sie sind die letzten von einst 131 Protestlern. Der Lagerarzt, ein ergrauter Reservist namens "Dr. H.", versichert, bei Verdacht auf Misshandlungen erstatte er sofort Meldung: "Aber viele Narben können irgendwo anders her stammen."
Tom Wilner, der Anwalt, glaubt sowieso, für Insassen wie seine Mandanten sei "die wahre Folter in Guantanamo nicht physisch, sondern mental. Es ist das Gefühl, keine Chance zu haben." Auch dafür hält das System eine Antwort parat: "Dr. K."
Die eifrige Neuropsychologin bietet 18 depressiven Patienten ihren Beistand an. "Dr. K." weiß, dass sie kaum mehr als Symptome kuriert. Aber sie müht sich redlich, der Lage ihrer Klienten "einen anderen Rahmen zu geben". Wie das geht? Ungefähr so: "Niemand weiß, wann irgendwer nach Hause kommt. Aber wir müssen weiter die Hoffnung einflößen, dass dies keine ewige Situation ist."
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