Knaller an der Zeitungsfront

Friday, March 28, 2008

Tibet? Kein Treffer. (taz)

19.03.2008
Schrift
Die hohe Schule der Internetzensur
Tibet? Kein Treffer.
Die chinesische Regierung hat - wie andere Zensurstaaten auch - die Internet-Kontrolle perfektioniert. Tauchen subversive Berichte auf, werden populäre Websites wie YouTube kurzerhand abgeklemmt. VON BEN SCHWAN

China beheimatet die größte Online-Population der Welt - um da nicht außen vor zu sein, zensieren die Suchmaschinen sich gern selbst. Foto: dpaFoto: dpa-->

Wer wissen möchte, auf was die Web-Nutzer in China alles verzichten müssen, kann seit einiger Zeit ein Prüfwerkzeug verwenden, das von Shanghai, Peking oder Hong Kong aus untersucht, ob eine Internet-Adresse in dem Riesenreich nutzbar ist oder derzeit blockiert wird. Wenn es um Nachrichten aus der annektierten Provinz Tibet geht, sieht es eher schlecht aus: Der "Website-Test hinter der großen Firewall von China", der die aktuelle Internet-Situation in den chinesischen Städten widerspiegelt, indem er von dort aus einfach das Netz abfragt, zeigt erwartungsgemäß eine zensierte Weltsicht an.

BBC-Nachrichten? Keine Chance. Google News? Nur das Angebot mit den explizit staatlich kontrollierten Medien, Google News China, ist erlaubt. Human Rights Watch? Nichts da. Selbst beim politisch unverdächtigen Fotodienst Flickr müssen die Chinesen draußen bleiben, schließlich könnten Bilder von Polizeiopfern veröffentlicht werden. Und Bloggen über die US-Dienste Typepad oder Vox ist ebenfalls verboten, der Dienst Blogspot ist zwischenzeitlich immer wieder offline. Und auf neue Entwicklungen reagieren die in einer eigens geschaffenen Behörde sitzenden Zensoren prompt: Als kürzlich Videos von Gewalttaten gegen tibetische Mönche auf YouTube auftauchten, wurde gleich der ganze Server gesperrt. Seither können chinesische Web-User nur noch in China registrierte Video-Dienste nutzen, die streng darauf achten, dass nur Unkritisches online geht. Politisches findet man bei den auch in Peking oder Shanghai populären Minifilmchen-Portalen aus landeseigener Produktion überhaupt nicht - Katzen- und Hunde-Videos sind unverfänglicher.

Aber die chinesischen Zensoren sind keineswegs die einzigen Regierungsstellen auf diesem Planeten, die die Internet-Kontrolle perfektioniert haben. Zuletzt erwog die iranische Regierung, trotz vieler meinungsstarker Blogs im Iran einfach anlässlich der Wahl das gesamte Netz abzuschalten. Das geht, weil die Regierung die großen Provider und ihre Außenanbindung in den Rest der Welt kontrolliert. Zwar kann man Tricks verwenden, um die Sperren zu umgehen. Doch die sind meist so kompliziert oder auch mit Gefahren der Verfolgung verbunden, dass sich die Nutzer mit dem Zustand zufrieden geben. Projekte im freien Ausland, etwa das kanadische Universitätsvorhaben "Psiphon", versuchen deshalb, die Nutzung der Anti-Zensur-Technik zu vereinfachen - doch sie arbeiten im ständigen Wettlauf mit den Zensoren.

Auch in westlich orientierteren Ländern wird das Internet kontrolliert. Im "arabischen Märchenreich" Dubai können nur Firmen, die in der Freihandelszone "Internet City" sitzen, ohne Filter auf das Netz zugreifen. Die Blockadetechnik wird recht willkürlich verwendet: So sind laut Koran beispielsweise Sex-Angebote genauso verboten wie der Internet-Telefonie-Dienst Skype, weil der den örtlichen Telekomfirmen Konkurrenz machen könnte. Manchmal hat die Zensur auch unbeabsichtigte Konsequenzen in der freien Welt: Als Pakistan neulich versuchte, YouTube wegen "blasphemischer Umtriebe" in einem Video zu zensieren, gaben Provider den Zensurbefehl nach außen weiter, so dass der Dienst plötzlich auch in Deutschland und Amerika nicht mehr zu erreichen war.

Doch besonders perfekt arbeitet das System in China, denn Zensoren und Medien arbeiten Hand in Hand. Wird dort in diesen Tagen über Tibet berichtet, setzt sich die aus dem Staatsfernsehen leidlich bekannte Propaganda auch im Internet fort: Die Mönche sind die Aufrührer, die Menschen in Lhasa und anderswo - insbesondere die zugezogenen Chinesen - müssen darunter leiden. "Nur dank dem beherzten Polizeieinsatz wird die Ordnung wieder hergestellt", heißt es in Berichten der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua. Die stellt auf populären Internet-Portalen wie Sina und Sohu gleich den einzigen Dienstleister mit Neuigkeiten aus der umkämpften Region. Sucht man in der größten Suchmaschine des Landes, Baidu, nach dem Namen des Landes, tauchen keine Nachrichten auf. Und selbst wer unter Verwendung passender Suchbegriffe auf Treffer stößt, muss feststellen, dass die darunter liegenden Seiten plötzlich aus dem Netz verschwunden sind. Nicht dass die chinesischen User die Situation ignorieren würden: In dieser Woche war "Tibet" immerhin in der Top 5 der bei Baidu am Tag eingetippten Suchbegriffe. Nur gefunden wird eben nichts - oder nur die von den Zensoren verordnete Propaganda.

Das Ergebnis ist, dass der Regierung das zu gelingen scheint, nach dem sie trachtet: Viele
Chinesen sind schlicht nicht darüber informiert, dass derzeit ein Freiheitskampf in Tibet tobt oder interessieren sich nicht dafür, weil ihnen nur die staatliche Sicht der Dinge vorliegt. Dass die Proteste von Lhasa längst in andere Provinzen überspringen, wissen nur die, die in der Region leben. Viel Druck muss die Regierung derweil nicht ausüben: Es herrscht ein Klima der Selbstzensur, das insbesondere bei den großen Internet-Portalen vorherrscht (an denen zum Teil ausländische Firmen beteiligt sind). Derweil wird mit den Mitteln des Internet aber auch der Hass geschürt: Erlaubt ist durchaus, die "tibetischen Separatisten" in Online-Foren zu beschimpfen und ihre "Ausrottung" zu fordern. Eine entsprechende Diskussionsgruppe auf dem Portal Sina erreichte laut einem Bericht der Nachrichtenagentur "AFP" fast 30.000 einzelne Postings mit zum Teil drastischen Aussagen.

China beheimatet inzwischen die größte Online-Population der Welt. Bei der Zensur des Netzes setzt das Land auf eine Kombination aus Soft- und Hardware zum direkten Eingriff in das, was die Nutzer sehen können, und auf Selbstverpflichtungen der lokalen Anbieter. Sobald ein einziger Server in dem Land steht, muss sich der Betreiber an die Regeln halten. Ausländische Firmen geben sich erstaunlich zahm: So lässt Google bei seiner in China beheimateten Suchmaschinen-Variante Zensur zu, um in dem riesigen Markt mitmischen zu dürfen.


Verzweifelt, fett und alt (taz)

28.03.2008
Schrift
Deutsche Rockmusik am Ende
Verzweifelt, fett und alt
Es sieht nicht gut aus für deutsche Rockmusiker. Die neuen Platten von Superpunk, Kettcar, Frank Spilker und Co. verlieren sich irgendwo zwischen Einbauküche und Distinktion. VON THOMAS WINKLER

Träge, müde, ausgelutscht. So in etwa klingt auch die neue Kettcar-Platte.

Neueste Nachricht aus dem Bauch der Republik: Es sieht nicht gut aus. Unsere Helden des Alltags fühlen sich alt oder verloren oder auch beides. Sie sind auf der Suche nach einer Erwerbsarbeit, und wenn sie eine haben, dann sind sie mit ihr überfordert oder verzweifeln an der damit einhergehenden Entfremdung. Die Generation, die nun eigentlich alt genug wäre, in die Zentren der Macht aufzurücken, absolviert ihr viertes Praktikum. Draußen regnet es, im Fernsehen läuft Klimakatastrophe.

Wenn es stimmt, dass ein Land nur so optimistisch sein kann wie seine Dichter und Sänger, dann ist es schlecht bestellt um Deutschland. Denn unter ihnen grassiert im Frühjahr 2008 die neue Besinnlichkeit und sie stößt auf untragbare Zustände: "Überall lauern Barbie und Ken, In- und Out-Listen und Top Ten" (Kettcar). Die Realität ist hart und die deutsche Rockmusik sorgt sich um die Zukunft: "Ich gestehe mein Scheitern und ich weiß nicht mehr weiter" (Superpunk). Doch die letzte Erkenntnis bleibt, das Dasein ist kurz und voller Leiden: "Das war ihr Leben/ Es war daneben/ Und jetzt sind sie tot." (Frank Spilker)

So siehts aus, die Aussichten sind düster. Vor allem, wenn man das erste Werk der Frank Spilker Gruppe hört, die sich FS.G abkürzt. Der Sänger von Die Sterne, die es - wichtige Information - immer noch gibt und auch weiterhin geben wird, nutzt auf "Mit all den Leuten" die Möglichkeit, sich mal uneingeschränkt von allen demokratischen Bandstrukturen auszutoben.
Das hat musikalisch so interessante wie uneinheitliche Folgen. Seine neu formierte Band probiert sich aus, spielt mal selbstzufrieden krachenden Rock, mal zickigen Country. Ein eher unelegantes Chanson ist ebenso im Angebot wie ein Ausflug ins Atonale, der eine Jugendlichkeit vortäuscht, die der große alte Mann der Hamburger Schule mit seinen Texten geradezu absichtlich konterkarieren muss.

Denn wenn er so auf die Welt blickt, entdeckt Spilker, mittlerweile 41 Jahre alt und Vater, vor allem Menschen, die fast schon verzweifelt um Teilhabe ringen in dieser Gesellschaft. "Ich lauf in Kreisen", singt er, "weil mich nichts aufhält". Die Protagonisten seiner Songs sind schwermütig, die meisten drohen im Selbstmitleid zu versinken. Ihr Leben ist ein Buch, in dem sie zwar lesen können, das aber kein Happy-End garantiert. "Was wollen wir machen?", fragt Spilker in seinem nasalen Understatement, aber die Alternativen sind nicht berückend: "Therapie oder gehn wir noch einen heben?"

Denn merke: Kein Alkohol ist auch keine Lösung. Das wussten früher schon Die Toten Hosen. Heute mag das nicht mehr ganz so lustig gemeint sein, aber dafür wissen es Spilker und auch Superpunk. "Die Umgebung kommt mir vor wie in Technicolor, wenn ich trinke", singt Carsten Friedrichs, und so ironisch gebrochen das auch ist, es bleibt einer dieser Bekenntnissongs, von denen es viele gibt auf "Why not?". Die Lieder auf diesem fünften Album von Superpunk tragen Titel wie "Ja, ich bereue alles", "Baby, ich bin zu alt" oder "Ich funktioniere nicht mehr", und gecovert wird ausgerechnet der für eine - wenn auch sexy - Frühvergreisung stehende Serge Gainsbourg. In "Bon Scott" zählt Friedrichs eine Ahnenreihe fett gewordener und dann verstorbener Helden auf, von Buddy Holly über Dylan Thomas und Oscar Wilde bis zu Elvis und schließt mit der ernüchternden Erkenntnis: "Und mir geht es auch nicht so gut." Es ist ein Abgesang auf den liebevollen Umgang mit popkulturellen Zitaten, wie er von seiner Generation noch gepflegt wurde, aber im Internet-Zeitalter in Vergessenheit gerät. Es klingt wie ein Vermächtnis.

Wer das jetzt für Ironie hält, der sei daran erinnert, dass Carsten Friedrichs arg überrascht reagierte, als ihm Journalisten nach den ersten Platten seiner Band zu seinem hintergründigen Witz gratulieren wollte. Nein, in der Hamburger Schule war Friedrichs nie immatrikuliert. Der in St. Pauli lebende HSV-Fan hatte die Lieder, in denen der einfache Kraftfahrer den bösen Fabrikanten zur Rede stellte, in denen Freundschaft und Solidarität beschworen wurden, der Abbau des Gesundheitssystem und die Errichtung der Zweiklassengesellschaft vehement angeklagt wurden, ernst gemeint und ohne doppelten Boden versehen. Hier formulierte ein aufrechter Proletarier, und dass die In-Crowd dazu lässig lächelte, konnte der zwar verstehen, aber nicht tolerieren.

Aber renitent und vehement, aufsässig und aufbauend ist auf "Why not?" nur mehr die unvermeidliche Hymne auf die Heimatstadt ("Hamburg ist der Platz für Dich") geraten. Und natürlich das Eröffnungsstück "Ich find alles gut", in dem Friedrichs trotzig das Zigarettenrauchen lobt und den Unterhaltungswert von TV-Wiederholungen. Der Rest aber ist Bitterkeit: In "Eine schärfere Welt" wünscht er gar den eigenen Planeten in den interstellaren Orkus: "Ich kann den alten Plunder nicht mehr sehn/ Wann wird er endlich untergehn?"
Nur die Musik bleibt so unwiderstehlich vorwärtstreibend, so in die Beine gehend, so wundervoll euphorisch, wie man es gewohnt ist von Deutschlands bester Partyband. Zwar klingen Superpunk immer, als würden Profis ganz bewusst so tun, als seien sie Amateure, aber genau mit diesem Trick rekonstruieren sie so gelungen wie sonst keine Band hierzulande das Gefühl eines Northern-Soul-Allnighters voller zeitloser Melodien und Handclap-Rhythmen. Nach dem man, eine Nacht Durchhalte-Soul-Klassiker im Ohr und eine Überdosis Adrenalin im Blut, im Morgengrauen aus dem Saal wankt und glaubt, nie wieder schlafen zu müssen, an der nächsten Ecke der großen Liebe begegnen zu können oder zumindest bei nächster Gelegenheit die Welt aus den Angeln heben zu müssen.

So ziemlich also genau das Gegenteil des Gefühls, das in "Graceland" beschrieben wird. Im Eröffnungssong von "Sylt", dem neuen Album seiner Band Kettcar, wirft Marcus Wiebusch, wie er es gerne tut, einen entlarvenden Blick auf sein Umfeld, auf seine Generation. Die wohnt im "Altbau, 4. Stock", versucht eher schlecht als recht, "Distinktion und Einbauküche" miteinander zu vereinbaren, und weigert sich beständig, das Älterwerden in Betracht zu ziehen: "Das ist Graceland, keiner wird erwachsen".

Aber Wiebusch zieht sich nicht, wie es in der Tradition der Hamburger Schule stände, auf eine ironische, leicht abseits vom Geschehen befindliche Position aus dem näheren Dunstkreis zurück. Er verkürzt die Analyse auch nicht wie Superpunk auf einfache, griffige Mitteilungen und zieht sich zurück auf die Position des Traditionalisten, der weiß, dass früher vielleicht nicht immer alles besser war, aber doch wenigstens die Musik.

Nein, Wiebusch, 39, Familienvater mittlerweile und als Teilhaber einer Mini-Plattenfirma gestählt im kapitalistischen Auf und Ab, sitzt mit am Küchentisch, unter dem die demnächst einzuschulenden Kinder spielen, denn die sind befreundet mit seinen Kindern, und bringt einen gänzlich unironisch gemeinten "Toast auf die Freundschaft" auf. Er berichtet wie ein Krisenreporter, durchaus auch mit ähnlicher Dringlichkeit, aus der Alltagshölle. Dort hat man es sich dann doch ganz kuschelig eingerichtet und den Blick auf die größeren Zusammenhänge verloren: "Es gibt kein Außen mehr, kein Drinnen und Draußen mehr". Das eigene Dasein ist das Zentrum des Seins, die prekäre Situation als Kreativ-Jobber der Generation Praktikum (eindringlich beschrieben in "Geringfügig, befristet, raus") ebenso frustrierend wie der Verrat an den eigenen Idealen (erschütternd demaskierend in "Würde"). Nur daraus, am Leid an der eigenen Existenz, kann sich noch eine kämpferische Haltung entwickeln. Die überblickt zwar immerhin die großen Zusammenhänge, aber ist dann doch nur mehr eine diffuse Ahnung von Wiebusch Vergangenheit als Punkrocker bei But Alive. Heute hat er den obdachlos gewordenen Duktus der guten, alten Sozialdemokratie adoptiert: "Für die einen sind es Menschen mit Augen, Mund, Ohren/ Für die anderen Kostenfaktoren."

Seine Band spielt dazu eine Rockmusik, die die aufrührerischen Wurzeln des Genres noch einmal matt aufleuchten lässt. Immer wenn sich die Gitarren gegenseitig aufstören, sich um- und verschlingen, sich aufstacheln und für einen kurzen, glorreichen Moment ihre Domestikation abwerfen, wenn Kettcar ein gutes altmodisches Gitarrenriff reiten, wenn sie die gut geölte Rockmaschine geben, die sie ohne Zweifel mittlerweile sind, immer dann kapituliert die Rockmusik aber auch vor ihrem eigenen Status als konservative Kraft. Dann, wenn ein Break einen Moment zu lange in der Luft schweben bleibt und das Riff im Herzschlag wieder mächtig einsetzt, in genau diesem Augenblick akzeptiert Rock seinen Platz im Fundus mit den Musiken, die für jugendliche Rebellion ausgedient haben. Rockmusik, das ist, sehen wir den Tatsachen ins Auge, längst die Musik des Bewahrens. Und mithin der perfekte Soundtrack für das große Lamento, die Klagen einer vergessenen Generation.

Frank Spilker Group: "Mit all den Leuten" (Staatsakt/Indigo) Superpunk: "Why not?" (Tapete/Indigo) Kettcar: "Sylt" (Grand Hotel van Cleef/Indigo).

Verzweifelt, fett und alt (taz)

28.03.2008
Schrift
Deutsche Rockmusik am Ende
Verzweifelt, fett und alt
Es sieht nicht gut aus für deutsche Rockmusiker. Die neuen Platten von Superpunk, Kettcar, Frank Spilker und Co. verlieren sich irgendwo zwischen Einbauküche und Distinktion. VON THOMAS WINKLER

Träge, müde, ausgelutscht. So in etwa klingt auch die neue Kettcar-Platte.

Neueste Nachricht aus dem Bauch der Republik: Es sieht nicht gut aus. Unsere Helden des Alltags fühlen sich alt oder verloren oder auch beides. Sie sind auf der Suche nach einer Erwerbsarbeit, und wenn sie eine haben, dann sind sie mit ihr überfordert oder verzweifeln an der damit einhergehenden Entfremdung. Die Generation, die nun eigentlich alt genug wäre, in die Zentren der Macht aufzurücken, absolviert ihr viertes Praktikum. Draußen regnet es, im Fernsehen läuft Klimakatastrophe.

Wenn es stimmt, dass ein Land nur so optimistisch sein kann wie seine Dichter und Sänger, dann ist es schlecht bestellt um Deutschland. Denn unter ihnen grassiert im Frühjahr 2008 die neue Besinnlichkeit und sie stößt auf untragbare Zustände: "Überall lauern Barbie und Ken, In- und Out-Listen und Top Ten" (Kettcar). Die Realität ist hart und die deutsche Rockmusik sorgt sich um die Zukunft: "Ich gestehe mein Scheitern und ich weiß nicht mehr weiter" (Superpunk). Doch die letzte Erkenntnis bleibt, das Dasein ist kurz und voller Leiden: "Das war ihr Leben/ Es war daneben/ Und jetzt sind sie tot." (Frank Spilker)

So siehts aus, die Aussichten sind düster. Vor allem, wenn man das erste Werk der Frank Spilker Gruppe hört, die sich FS.G abkürzt. Der Sänger von Die Sterne, die es - wichtige Information - immer noch gibt und auch weiterhin geben wird, nutzt auf "Mit all den Leuten" die Möglichkeit, sich mal uneingeschränkt von allen demokratischen Bandstrukturen auszutoben.
Das hat musikalisch so interessante wie uneinheitliche Folgen. Seine neu formierte Band probiert sich aus, spielt mal selbstzufrieden krachenden Rock, mal zickigen Country. Ein eher unelegantes Chanson ist ebenso im Angebot wie ein Ausflug ins Atonale, der eine Jugendlichkeit vortäuscht, die der große alte Mann der Hamburger Schule mit seinen Texten geradezu absichtlich konterkarieren muss.

Denn wenn er so auf die Welt blickt, entdeckt Spilker, mittlerweile 41 Jahre alt und Vater, vor allem Menschen, die fast schon verzweifelt um Teilhabe ringen in dieser Gesellschaft. "Ich lauf in Kreisen", singt er, "weil mich nichts aufhält". Die Protagonisten seiner Songs sind schwermütig, die meisten drohen im Selbstmitleid zu versinken. Ihr Leben ist ein Buch, in dem sie zwar lesen können, das aber kein Happy-End garantiert. "Was wollen wir machen?", fragt Spilker in seinem nasalen Understatement, aber die Alternativen sind nicht berückend: "Therapie oder gehn wir noch einen heben?"

Denn merke: Kein Alkohol ist auch keine Lösung. Das wussten früher schon Die Toten Hosen. Heute mag das nicht mehr ganz so lustig gemeint sein, aber dafür wissen es Spilker und auch Superpunk. "Die Umgebung kommt mir vor wie in Technicolor, wenn ich trinke", singt Carsten Friedrichs, und so ironisch gebrochen das auch ist, es bleibt einer dieser Bekenntnissongs, von denen es viele gibt auf "Why not?". Die Lieder auf diesem fünften Album von Superpunk tragen Titel wie "Ja, ich bereue alles", "Baby, ich bin zu alt" oder "Ich funktioniere nicht mehr", und gecovert wird ausgerechnet der für eine - wenn auch sexy - Frühvergreisung stehende Serge Gainsbourg. In "Bon Scott" zählt Friedrichs eine Ahnenreihe fett gewordener und dann verstorbener Helden auf, von Buddy Holly über Dylan Thomas und Oscar Wilde bis zu Elvis und schließt mit der ernüchternden Erkenntnis: "Und mir geht es auch nicht so gut." Es ist ein Abgesang auf den liebevollen Umgang mit popkulturellen Zitaten, wie er von seiner Generation noch gepflegt wurde, aber im Internet-Zeitalter in Vergessenheit gerät. Es klingt wie ein Vermächtnis.

Wer das jetzt für Ironie hält, der sei daran erinnert, dass Carsten Friedrichs arg überrascht reagierte, als ihm Journalisten nach den ersten Platten seiner Band zu seinem hintergründigen Witz gratulieren wollte. Nein, in der Hamburger Schule war Friedrichs nie immatrikuliert. Der in St. Pauli lebende HSV-Fan hatte die Lieder, in denen der einfache Kraftfahrer den bösen Fabrikanten zur Rede stellte, in denen Freundschaft und Solidarität beschworen wurden, der Abbau des Gesundheitssystem und die Errichtung der Zweiklassengesellschaft vehement angeklagt wurden, ernst gemeint und ohne doppelten Boden versehen. Hier formulierte ein aufrechter Proletarier, und dass die In-Crowd dazu lässig lächelte, konnte der zwar verstehen, aber nicht tolerieren.

Aber renitent und vehement, aufsässig und aufbauend ist auf "Why not?" nur mehr die unvermeidliche Hymne auf die Heimatstadt ("Hamburg ist der Platz für Dich") geraten. Und natürlich das Eröffnungsstück "Ich find alles gut", in dem Friedrichs trotzig das Zigarettenrauchen lobt und den Unterhaltungswert von TV-Wiederholungen. Der Rest aber ist Bitterkeit: In "Eine schärfere Welt" wünscht er gar den eigenen Planeten in den interstellaren Orkus: "Ich kann den alten Plunder nicht mehr sehn/ Wann wird er endlich untergehn?"
Nur die Musik bleibt so unwiderstehlich vorwärtstreibend, so in die Beine gehend, so wundervoll euphorisch, wie man es gewohnt ist von Deutschlands bester Partyband. Zwar klingen Superpunk immer, als würden Profis ganz bewusst so tun, als seien sie Amateure, aber genau mit diesem Trick rekonstruieren sie so gelungen wie sonst keine Band hierzulande das Gefühl eines Northern-Soul-Allnighters voller zeitloser Melodien und Handclap-Rhythmen. Nach dem man, eine Nacht Durchhalte-Soul-Klassiker im Ohr und eine Überdosis Adrenalin im Blut, im Morgengrauen aus dem Saal wankt und glaubt, nie wieder schlafen zu müssen, an der nächsten Ecke der großen Liebe begegnen zu können oder zumindest bei nächster Gelegenheit die Welt aus den Angeln heben zu müssen.

So ziemlich also genau das Gegenteil des Gefühls, das in "Graceland" beschrieben wird. Im Eröffnungssong von "Sylt", dem neuen Album seiner Band Kettcar, wirft Marcus Wiebusch, wie er es gerne tut, einen entlarvenden Blick auf sein Umfeld, auf seine Generation. Die wohnt im "Altbau, 4. Stock", versucht eher schlecht als recht, "Distinktion und Einbauküche" miteinander zu vereinbaren, und weigert sich beständig, das Älterwerden in Betracht zu ziehen: "Das ist Graceland, keiner wird erwachsen".

Aber Wiebusch zieht sich nicht, wie es in der Tradition der Hamburger Schule stände, auf eine ironische, leicht abseits vom Geschehen befindliche Position aus dem näheren Dunstkreis zurück. Er verkürzt die Analyse auch nicht wie Superpunk auf einfache, griffige Mitteilungen und zieht sich zurück auf die Position des Traditionalisten, der weiß, dass früher vielleicht nicht immer alles besser war, aber doch wenigstens die Musik.

Nein, Wiebusch, 39, Familienvater mittlerweile und als Teilhaber einer Mini-Plattenfirma gestählt im kapitalistischen Auf und Ab, sitzt mit am Küchentisch, unter dem die demnächst einzuschulenden Kinder spielen, denn die sind befreundet mit seinen Kindern, und bringt einen gänzlich unironisch gemeinten "Toast auf die Freundschaft" auf. Er berichtet wie ein Krisenreporter, durchaus auch mit ähnlicher Dringlichkeit, aus der Alltagshölle. Dort hat man es sich dann doch ganz kuschelig eingerichtet und den Blick auf die größeren Zusammenhänge verloren: "Es gibt kein Außen mehr, kein Drinnen und Draußen mehr". Das eigene Dasein ist das Zentrum des Seins, die prekäre Situation als Kreativ-Jobber der Generation Praktikum (eindringlich beschrieben in "Geringfügig, befristet, raus") ebenso frustrierend wie der Verrat an den eigenen Idealen (erschütternd demaskierend in "Würde"). Nur daraus, am Leid an der eigenen Existenz, kann sich noch eine kämpferische Haltung entwickeln. Die überblickt zwar immerhin die großen Zusammenhänge, aber ist dann doch nur mehr eine diffuse Ahnung von Wiebusch Vergangenheit als Punkrocker bei But Alive. Heute hat er den obdachlos gewordenen Duktus der guten, alten Sozialdemokratie adoptiert: "Für die einen sind es Menschen mit Augen, Mund, Ohren/ Für die anderen Kostenfaktoren."

Seine Band spielt dazu eine Rockmusik, die die aufrührerischen Wurzeln des Genres noch einmal matt aufleuchten lässt. Immer wenn sich die Gitarren gegenseitig aufstören, sich um- und verschlingen, sich aufstacheln und für einen kurzen, glorreichen Moment ihre Domestikation abwerfen, wenn Kettcar ein gutes altmodisches Gitarrenriff reiten, wenn sie die gut geölte Rockmaschine geben, die sie ohne Zweifel mittlerweile sind, immer dann kapituliert die Rockmusik aber auch vor ihrem eigenen Status als konservative Kraft. Dann, wenn ein Break einen Moment zu lange in der Luft schweben bleibt und das Riff im Herzschlag wieder mächtig einsetzt, in genau diesem Augenblick akzeptiert Rock seinen Platz im Fundus mit den Musiken, die für jugendliche Rebellion ausgedient haben. Rockmusik, das ist, sehen wir den Tatsachen ins Auge, längst die Musik des Bewahrens. Und mithin der perfekte Soundtrack für das große Lamento, die Klagen einer vergessenen Generation.

Frank Spilker Group: "Mit all den Leuten" (Staatsakt/Indigo) Superpunk: "Why not?" (Tapete/Indigo) Kettcar: "Sylt" (Grand Hotel van Cleef/Indigo).

German supermarket chain Lidl accused of snooping on staff (Guardian)

German supermarket chain Lidl accused of snooping on staff
Kate Connolly in Berlin
The Guardian, Thursday March 27 2008

Lidl was accused of recording how many times staff went to the toilet, as well as intimate details of their personal lives. Photograph: Graham Turner

The German discount supermarket chain Lidl has been accused of spying on its employees, including recording how many times they went to the toilet as well as details about their love lives, personal finances and menstrual cycles.

An investigation by the German news magazine Stern uncovered an extensive espionage system in its shops across Germany. It obtained hundreds of pages of documents gathered by detectives allegedly employed by the chain to find out about its staff. The surveillance took place via mini-video cameras installed by detectives. The official reason given to store managers was to reduce shoplifting.

Critics have accused Lidl of using "Stasi methods", referring to the secret police of the former communist East German state who kept track of the most banal and intimate details of hundreds of thousands of citizens' lives.

The detectives' records include details of precisely where employees had tattoos as well as information about their friends. "Her circle of friends consists mainly of drug addicts," reads one record. The detectives also had the task of identifying which employees appeared to be "incapable" or "introverted and naive".

While most incidents seem to have occurred in Germany, the most shocking one allegedly occurred at a Lidl store in the Czech Republic, where a female worker was forbidden to go to the toilet during working hours. An internal memorandum, which is now the centre of a court case in the republic, allegedly advised staff that "female workers who have their periods may go to the toilet now and again, but to enjoy this privilege they should wear a visible headband".

Recording how a German employee identified as Frau M spent her break, one report read: "Frau M wanted to make a call with her mobile phone at 14.05 ... She received the recorded message that she only had 85 cents left on her prepaid mobile. She managed to reach a friend with whom she would like to cook this evening, but on condition that her wage had been paid into her bank, because she would otherwise not have enough money to go shopping."

A Hamburg labour lawyer, Klaus Müller-Knapp, said the transcripts were "scandalous to the highest degree" and breached laws on freedom of expression.

Human rights groups and trade unions pledged to take up the case.

While denying any knowledge of the Czech case, Lidl, which has more than 7,500 stores in 24 countries, including Britain, confirmed that surveillance had taken place in Germany. It said the purpose was "not to monitor staff, but to establish possible abnormal behaviour".

It added that in retrospect the company distanced itself from the transcripts. "The references and observations are not in keeping ... with our understanding of how people should treat each other."

Kate Connolly in Berlin
The Guardian,
Thursday March 27 2008
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Monday, March 17, 2008

Obituary Erwin Geschonneck (Guardian)

Obituary Erwin Geschonneck
A respected actor, he survived Hitler's camps to become a star in East Germany Hugh RorrisonFriday March 14, 2008The Guardian

Erwin Geschonneck, who has died aged 101, was one of the most famous actors of the former German Democratic Republic. He spent years in Nazi concentration camps during the second world war and was a communist of the old school - democratic, idealistic, undogmatic, a man of infinite good humour and integrity, and a popular people's entertainer with a laconic line in sardonic wit. He was perhaps, above all, a survivor, undaunted, ironic, optimistic.
He was born in Bartenstein in East Prussia (now Bartoszyce in Poland), the son of a cobbler, who in 1909 moved to Berlin to work as a night watchman. He grew up in poverty and began working as a delivery boy at 14. He soon joined the Communist party and became a member of Red Megaphone, one of the many workers' agitprop theatre groups that abounded in the Berlin of the Weimar Republic.

Slatan Dudow's 1932 film Kuhle Wampe (Who Owns the World?), which was scripted by Bertolt Brecht and immediately fell foul of political censorship, brought this kind of theatrical activism to the screen. Brecht used the vitality and energy of a communist Sportfest to end the film on an upbeat note after scenes showing an unemployed youth's suicide. "Forwards, never forgetting our solidarity" was the final anthem. Geschonneck was one of the anonymous worker athletes in that scene.

He later recalled that after watching Brecht's Threepenny Opera, the hit of the 1928 season, from the gallery, he became aware of the stage as increasingly becoming a means for rousing the proletariat against oppression.

When Hitler came to power in 1933, he assumed he was on the Nazi wanted list and fled through Poland to the Soviet Union, where he joined the Kolkhoz theatre of Ukraine, performing in German to country audiences until he was denounced to the NKVD, the secret police, and given three days to leave the country. He returned to Prague, where he was promptly arrested by the Gestapo. He spent six years in the concentration camps at Sachsenhausen, Dachau and Hamburg-Neugamme until, on April 26 1945, he was one of 10,000 prisoners loaded on to the SS Cape Arcona, which was then sunk by the RAF in the Bay of Lübeck. Geschonnek was one of the few survivors.

After the war he worked from 1946 to 1948 as an actor in Hamburg before being engaged in 1949 by Brecht's wife Helene Weigel for the newly founded Berliner Ensemble, where he appeared in many roles as a character actor with a working-class touch, notably as the lippy chauffeur in Brecht's Baron Puntila and his Man Matti, and the shifty Chaplain in Mother Courage. Shortly before Brecht's death in 1956, he left the company and embarked on a film career.

In 1951 he played the lead in Das Beil von Wandsbek (The Axe of Wandsbek), an early East German attempt to show the criminality of nazism inside Germany. With Hitler about to visit Hamburg, four condemned communists in the cells must be eliminated, and the city has no executioner. Geschonneck played a slaughterhouse worker tricked by the SS into carrying out the executions.

In 1963 he played Kalle in Frank Beyer's Carbide and Sorrel, a critical comedy set in 1945. Geschonneck illuminates the film with laconic, mischievous wit as he brings back two of his seven drums of carbide in a series of begged, borrowed and stolen vehicles. He has a run-in with Russian soldiers, commandeers a US officer's boat, falls in love with a farm-girl and inadvertently strays into a minefield picking mushrooms. This finely judged sequence of comic twists make up what is essentially an East German road movie.

The unvarnished picture of the early years in the GDR could easily be related to its ramshackle economy in the 1960s, and the film narrowly escaped the draconian censorship imposed by the 1965 plenary session of the Socialist Unity party.

Also in 1963, Geschonneck played the prisoner Walter Kraemer in Naked Among Wolves, in which prisoners in Buchenwald successfully conceal a Jewish boy from the camp guards. He gave the character a real dimension, carefully avoiding the cliche of idealised anti-fascism that the tenets of socialist realism would have required.

In 1974 he played Kowalski in Beyer's Jacob the Liar, the story of a Jew in Lodz in 1944 who is taken into custody and accidentally hears news of the Russian advance on the police radio. Back in the ghetto he pretends he heard it on his radio and is forced to invent more bulletins to keep up morale. It was nominated for an Oscar in 1977 as best foreign film, the only East German film ever to achieve a nomination.

In all he appeared in more than 100 films for screen and TV and his name is intimately bound up with the entire history of the East German national film company, DEFA.

Geschonneck with his neatly trimmed, signature moustache was a much-loved figure in Germany and in 1992 was voted "best East German actor ever" in a poll run by the magazine Film und Fernsehen. Audiences appreciated his characters because they were believable, and although he was an anti-fascist by bitter experience, he rarely in his long career indulged in the glorification of heroes of the socialist working class or communist resistance fighters as officialdom would have required.

Always true to his working-class roots, he remained a believer, though not an uncritical one, in East Germany, for as long as it lasted. He was never tempted like so many GDR actors to seek his fortune in the Federal republic, and after the Berlin Wall came down, he transferred his political allegiance to the Party of Democratic Socialism, the successor to the Socialist Unity party.

He made his last appearance on the screen, as he had wished, in a comedy alongside his longtime colleague Fred Delmare. It was in the TV film Matulla and Busch, which was directed for the ARD network in 1995 by Geschonneck's son, Matti.
He is survived by three children.

· Erwin Geschonneck, actor, born December 27 1906; died March 12 2008

Saturday, March 15, 2008

Der Überall-Zugleich-Mann (taz)

15.03.2008
Schrift
Leipziger Buchmessen-Preis für Clemens Meyer
Der Überall-Zugleich-Mann
Der Leipziger Lokalmatador Clemens Meyer hat den Preis der diesjährigen Buchmesse gewonnen - und vor Freude erst mal sein Bier verschüttet. VON DIRK KNIPPHALS

Der Schriftsteller Clemens Meyer war schon den ganzen Tag über ein ständiger Bezugspunkt und Gesprächsstoff gewesen. In den Gängen der Messehallen traf man auf Kollegen, die einen fragten, ob man "mit zum Meyer" komme; der las gerade im Berliner Zimmer, dem als abgegrenzten Raum gestalteten Leseort. Gefühlte 30 Sekunden später (in Wahrheit vielleicht eineinhalb Stunden) sah man den Meyer dann in der Interviewlounge des MDR sitzen und seine Leidenschaft fürs Boxen erläutern. Bald darauf kriegte man Nachricht, Meyer habe auf der Lesepiazza der Kleinverlage sehr lustig und ein bisschen verschämt eine Geschichte aus der subjektiven Perspektive einer Prostituierten vorgetragen. Der Mann muss eine Zeit lang überall zugleich gewesen sein.

Und um 16.30 Uhr am Donnerstag stieß dieser Clemens Meyer einen großen Schrei aus, reckte erst seinen rechten Arm mit einer Bierflasche darin in die Luft, sprang dann aus der Mitte der Zuschauerreihen auf, musste sich zunächst etwas verschüttetes Bier aus dem Auge wischen, darauf noch schnell einen Schluck nehmen, um sich schließlich seinen Weg durch die Stuhlreihen zu bahnen und auf die Bühne zu eilen. Das war der Moment, als verkündet wurde, dass Clemens Meyer den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse zuerkannt bekommen hat. Ein bisschen wirkte es so, als wolle er sich selbst als mögliches Vorbild einer seiner nächsten Figuren anbieten. Bier, aus dem Rahmen fallendes Verhalten und große Gefühle gehören ja durchaus in sein Repertoire.
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Ansonsten lief die Zeremonie der Preisverleihung konzentriert und diszipliniert ab - kurze Vorstellung der Nominierten, Verkündung des Preisträgers, Übergabe, Laudatio, nächste Kategorie. Aber auch die anderen beiden Preisträger lieferten rührende Momente. Irina Liebmann, in der Kategorie Sachbuch für ihr Vaterbuch "Wäre es schön? Es wäre schön" ausgezeichnet, erzählte in ihrer kleinen Dankesrede, dass sie hier in Leipzig noch in einem der legendären Seminare von Hans Mayer gesessen habe. Und auch Fritz Vogelgsang, ausgezeichnet für seine jahrzehntelange Übersetzungsarbeit an Joanot Martorells 500 Jahre altem "Roman vom Weißen Ritter", fühlte sich über diese unverhoffte Anerkennung sichtlich bestätigt und beglückt. Zeit-Literaturchef Ulrich Greiner hatte als Jurychef vorab gesagt, dass es bei solchen Preisen nicht um die Medien gehe, nicht um die Kritiker, die Buchmesse, den Betrieb, sondern einzig und allein um die Autoren. In der Tat sind diese drei verschiedenen Reaktionen auf den Preis das, was von dieser Zeremonie im Gedächtnis haften bleiben wird. Und der Preis an den Lokalmatador Meyer geht natürlich in Ordnung. Irgendwie freut man sich ja immer, wenn bei so einer Sekt-und-Häppchen-Veranstaltung ein authentischer Biertrinker ausgezeichnet wird. Obwohl es nun nicht die Sensation ist, die es gewesen wäre, wenn er den Preis vor zwei Jahren für seinen Debütroman bekommen hätte.

Auch die Besuchergruppe aus Japan und Südkorea war erkennbar erfreut. Zwei Tage zuvor hatte sie sich noch, organisiert vom Goethe-Institut, in Berlin bei einem Buchverlag, der taz und dem Literarischen Colloquium einen Einblick in die deutsche Literaturszene verschafft. Nun traf man sich also überraschend in Leipzig wieder. Das mediale Gesumme in den Messehallen und die ganze Aufregung um die Literatur beeindrucke sie, wie sie lächelnd versicherten. Und der Modus der Preisverleihung leuchtete ihnen sofort ein. Fünf Kandidaten pro Kategorie werden nominiert, einer von ihnen wird ausgezeichnet und darf dann das Zehnfache von seinem Buch verkaufen. Dieses Modell scheint weltweit von großer Evidenz zu sein. DIRK KNIPPHALS


Persisch für Anfänger (taz)

Persisch für Anfänger
Jan Willamowius betreibt ein persisches Online-Wörterbuch - unermüdlich und unentgeltlich. Dabei spricht er die Sprache gar nicht. Nicht mal ein einziges Wort. VON KATHRIN STRECKENBACH

Jan hat sich für Persisch entschieden. Bei einem Bier. Ein Freund von ihm ist mit einer Iranerin verheiratet und möchte ihre Sprache lernen. Jan, der Informatiker, beschließt: "Da muss ein Internet-Wörterbuch her." Denn Persisch ist eine Sprache, für die es nur wenig deutsches Lehrmaterial gibt, Wörterbücher dafür sind teuer. Jan sagt sich: Da gibt es Bedarf, und fängt an, ein deutsch-persisches Wörterbuch auf seiner Internetseite zu gestalten.

Das einzige Problem an der Sache: Jan spricht überhaupt kein Persisch. Nicht mal ein einziges Wort. "Macht nix", denkt er sich und setzt sich an die Arbeit. Die Internetseite, farsi.free-dict.de, ist schnell aufgebaut, es ist nicht die erste, die Jan gestaltet. Mit Hilfe eines Freundes kann er einen ersten Wortschatz organisieren, rund 20.000 Wortpaare bekommt er zusammen, zunächst nur persisch-englisch. Und damit fängt die Arbeit erst richtig an. Vokabeln eingeben, Wortpaare sortieren, Übersetzungen prüfen. Wie viele Stunden er am Anfang in die Seite investiert hat, weiß er schon nicht mehr.

Wörterbücher im Internet gibt es inzwischen viele: Die letzte Statistik darüber ist von 1996, seither sind unzählige dazu gekommen. Von leo.org bis lessan.de, gibt es deutsche Wörterbücher in allen möglichen Sprachen: Neben Englisch, Französisch, Spanisch gibt es Thailändisch, Ungarisch, Japanisch, Kisuaheli. Und wer aus dem Englischen in eine andere Sprache übersetzen will, findet noch eine viel größere Auswahl: Jiddisch, Thailändisch, Koreanisch, Hindi, Esperanto.
Oft stecken Privatpersonen wie Jan hinter den Wörterbüchern. Sie verbringen Stunden vor dem Rechner, um die Nachschlagewerke für andere kostenlos ins Netz zu stellen. Geld verdienen dabei die wenigsten: "Mit dem bisschen Werbung auf der Seite bekomme ich gerade die Ausgaben für die Homepage wieder herein", sagt Jan.

Dabei sind die Besucherzahlen seiner Homepage beachtlich: 90.000 Abfragen hat er pro Monat, aus Deutschland und dem Iran. Bei lessan.org, einem Arabisch-Wörterbuch, das der Münchner Raid Naim von New York aus betreibt, sind es sogar 600.000 - Tendenz steigend. Inzwischen ist Lessan für viele Arabisch-Studenten zum Standardwerk im Internet geworden - ähnlich wie das Studentenprojekt leo.org für Englisch und Spanisch.

Zwar reichen auch professionellere Nachschlagewerke im Internet noch nicht an die Qualität der gedruckten Wörterbücher großer Verlage heran. Dennoch verfolgen inzwischen auch große Unternehmen wie Langenscheidt die Entwicklung der Online-Wörterbücher sehr genau: "Auch wir machen uns ja Gedanken über tragfähige, wirtschaftliche Konzepte im Internet", sagt Bernhard Kellner von der Langenscheidt Verlagsgruppe. "Aber für uns als Unternehmen muss man damit eben auch Geld verdienen können."

Die privaten Initiativen machen ihnen dagegen kaum Konkurrenz: "Wenn sich jemand hinsetzt und ein Wörterbuch zu Kisuaheli oder Bretonisch auf seine Seite baut, dann bereitet uns das wenig Kopfzerbrechen", sagt er. "Im Gegenteil: Das ist eigentlich eine schöne Sache und trägt zur Sprachenvielfalt insbesondere von Minderheitsprachen bei. Denn wir könnten solch exotische Sprachen nur sehr schwer verkaufen."

Und genau darin liegt für viele private Wörterbuch-Betreiber die Motivation: Kleinen Sprachen ein Forum zu bieten: "Unser Ziel ist es, das Hocharabisch in alltägliche Bereiche zu integrieren, um gegen die immer währende Einengung des Sprachgebrauchs auf wenige Inhalte - insbesondere religiöse - anzukämpfen", sagt Naid Raim über sein Lessan-Projekt. "Denn Arabisch ist eine Sprache. Und eine Sprache ist mehr als nur eine Religion."

Jan Willamowius hat zusätzlich noch die technische Seite gereizt: Das persische Alphabet, das sich nur schwer darstellen ließ. Die Eingabe der Buchstaben, die am Anfang ein Problem waren. Und die Herausforderung, mit einer unbekannten Sprache zu arbeiten. Denn Persisch, das kann er noch immer nicht.

Friday, March 14, 2008

Das Leben als Musical (taz)

12.03.2008 Das Web-Video der Woche
Das Leben als Musical
Die US-Gruppe "Improv Everywhere" hat sich auf Flashmob-Theater spezialisiert. Ihre letzte Aktion: Ein spontanes Musical in einem Fastfood-Restaurant. VON MEIKE LAAFF

Ein normales Fastfood-Restaurant mitten in einem Einkaufszentrum in L.A. Eine Frau in der typisch demütigend-häßlichen Kluft amerikanischer Fastfood-Ketten steht hinter dem Tresen einer Burgerbräterei und bedient eine Kundin. Niemand beachtet sie - bis sie plötzlich lauthals in Gesang ausbricht. Singend beklagt sie, dass sie dringend neue Servietten braucht. Die Leute an den Tischen drehen sich um, gaffen sie an - und plötzlich stimmt ein weiterer Mann ein, der ebenfalls Servietten verlangt, weil er sich Senf auf die Hose gekleckert hat. Beide springen auf die Theke und wieder herunter und tanzen Polka durch den Foodcourt in der US-Mall.

Die Gäste an den Tischen sind verwirrt. Es ist wie ein Wirklichkeit gewordenes Musical, wo die Menschen auch immer aus dem Nichts heraus anfangen zu singen und zu tanzen und sich die ganz alltägliche Welt plötzlich in eine Showbühne verwandelt. Immer mehr Gäste stimmen in Gesang und Tanz mit ein: Eine dicke Frau mit einem Baby, ein Reinigungsangestellter mit Kehrschaufel - und schließlich ein Mitarbeiter des Sicherheitsservices, der per Funk Serviettenverstärkung anfordert.


Die Gäste des Fastfood-Restaurants sind Zeuge einer Aktion der US-Gruppe "Improv everywhere" geworden. Die lose Gruppe von Hobbyschauspielern begann 2001 in New York, im öffentlichen Raum komische und provozierende Aktionen zu inszenieren. Das Schema ist immer das gleiche: Aus dem Nichts tauchen die "Agenten" von "Improv everywhere" auf und starten in alltäglichen Situationen mitten im öffentlichen Raum ihre Aktionen. Mal ist es nur eine Handvoll "Undercover-Agenten", die aus dem Nichts heraus anfangen zu schauspielern, manchmal sind es ein paar Hundert.

Im New Yorker Hauptbahnhof froren kürzlich 200 von ihnen mitten in der Bewegung für ein paar Minuten ein, während die restlichen Passanten durch die gespenstisch erstarrte Masse irrten. Ein paar Hundert von ihnen spielte Twister auf einem gepflasterten Platz, fünf zockten Poker im Swimming Pool eines Edel-Hotels. Die "Missionen" der Gruppe sind gut vorbereitet und minutiös geplant - einzige Unbekannte ist, ob Sicherheitsleute oder Polizisten eingreifen. Einen tieferen Sinn sollen ihre Aktionen nicht haben, meint "Improv everywhere"-Gründer Charlie Todd - es gehe einfach nur darum, sich selbst Unterhaltung zu schaffen, nicht auf Massenmedien angewiesen zu sein.

Unterhaltsam sind die Aktionen, die fast alle als Video auf der Homepage der Gruppe abrufbar sind, allemal. Dort kann man zusehen, wie ein Selbstmörder mit großem albernen Trara von einem 50 cm hohen Betonsims gerettet wird, wie eine schlecht verkleidete Band auf einem Hochhausdach das legendäre Dachkonzert von U2 simuliert und wie 20 Menschen in roten Badekappen im Springbrunnen am New Yorker Washington Square ein Wasserballett aufführen.
Längst beschränkt die "Improv Everywhere"-Truppe ihre Aktionen nicht mehr auf New York. Auch in anderen Teilen der USA und der Welt entstehen immer mehr Zweigstellen, die das Spontan-Theater zurück in den öffentlichen Raum bringen. Auch in Deutschland formieren sich derzeit einige Untergruppierungen, die in Foren eifrig erste Missionen aushecken.

Monday, March 10, 2008

Sind die Lehrer schuld? (Berliner Zeitung)

Sind die Lehrer schuld?
Jeder zweite Schüler im Osten glaubt, dass die DDR das bessere System war. Ein Beitrag zu einer aktuellen Debatte
Torsten Harmsen

Irgendwo hier soll sich die DDR versteckt halten. Vielleicht dort, in diesem alten roten Backsteinbau. Er gemahnt an preußische Strenge und Räume, die nach Kreide, saurer Milch und öligen Bohnerspänen riechen. So jedenfalls roch die eigene Schule, vor fast vierzig Jahren in der DDR. Und sie sah auch fast so aus wie dieser Bau. Drinnen jedoch ist es ganz anders. Der Flur ist hell, freundlich. Eine Gruppe lärmender Schüler zieht vorüber. Aus dem Büro der Schulleiterin riecht es nach frischem Kaffee.

Karla Werkentin ist dreiundsechzig und kam vor zehn Jahren als Direktorin in dieses Haus - die Heinz-Brandt-Oberschule in Weißensee, im tiefsten Osten Berlins. Zuvor hatte sie im Westen unterrichtet und Politik als grüne Bildungsstadträtin in Schöneberg gemacht. Jetzt übergibt sie das Direktorenamt an ihre Nachfolgerin Miriam Pech, auch aus Schöneberg. Karla Werkentin geht in Altersteilzeit - mit gutem Gefühl. Ihre Schule wurde mehrfach ausgezeichnet: unter anderem als eine der besten Hauptschulen Deutschlands.

Eine Musterschule, eine Direktorin aus dem Westen - wo versteckt sich hier nun die DDR? Irgendwo muss sie sein; schließlich finde man sie überall im Osten, behauptete jüngst eine Studie, die großes Aufsehen erregte. Forscher der Freien Universität (FU) Berlin hatten bundesweit über fünftausend Schüler befragt, mit dem Ergebnis: Das Wissen über die DDR ist überall mangelhaft, besonders schlecht aber in Brandenburg und im Ostteil Berlins. Es herrsche ein nostalgisches, vernebeltes Bild. Jeder zweite Schüler glaube, das DDR-System sei besser gewesen als die Bundesrepublik oder zumindest gleichwertig.

Eine eigene kleine Umfrage zeigt, wie es Kinder von Freunden und Bekannten sehen. Es sind Gymnasiasten, alle um 1990 geboren. Woran denken sie als erstes, wenn sie den Begriff DDR hören? Sehen sie die DDR als Diktatur? An den Antworten erkennt man, wie stark Wissen und Meinungen vom Umfeld abhängen, in dem die Kinder aufwachsen, auch davon, wie kritisch in den Familien mit der DDR umgegangen wird.

Petra aus Bayern zum Beispiel hat gar keine Bindungen zur DDR. Sie spricht viel leichteren Herzens über den Staat, als die Kinder, deren Eltern und Großeltern dort gelebt haben. Marie, Gymnasiastin aus Berlin-Treptow, sagt voller Überzeugung: "Keiner, der in der DDR lebte, redet schlecht über sie. Kein einziger, den ich kenne."

Was fällt dir beim Begriff DDR spontan ein?
Marie, 17 Jahre, Berlin: "Pioniere. Kinder hatten Möglichkeiten, ihre Freizeit zu gestalten. Man konnte auf der Straße spielen, ohne Angst haben zu müssen. Alle Leute hatten Arbeit."
Tim, 19 Jahre, Brandenburg: "Mauer, DDR-Mark, Sozialismus."
Lena, 18 Jahre, Berlin: "Honecker, Mauer, Küchenmöbel."
Petra, 19 Jahre, Bayern: "Stunden-langes Anstehen für Bananen. Eher eine Rückentwicklung des gesellschaftlichen Lebens. Der Film ,Good Bye, Lenin!‘"

Meinungen, wie die von Marie finden sich in der FU-Studie häufig. Die Kinder hören sie an den sonntäglichen Kaffeetischen ihrer Familien. Und blickt man kritisch auf sich selbst - 1961 geboren - dann zeigt sich, wie leicht man auch heute noch vor allem an die schönen Dinge zurückdenkt: Die erste Lehrerin, die man liebte, obwohl sie streng war. Der erste Kuss im Ferienlager. Die Freunde, mit denen man Musik machte. Die Freundin, mit der man zeltete. Es ist schwer, eine Welt, in der man lebte, jenseits aller Gefühle auf eine Formel zu bringen, wie: "Diktatur". Man braucht viel Wissen über das, was geschah. Man muss das alte Umfeld verlassen, neue Menschen kennenlernen, Freunde finden - auch im Westen, auch in der Arbeit, um Abstand zu sich selbst zu bekommen, zu seinem Leben, zu dem Land, in dem man lebte.
Viele Lehrer im Osten machen diese Erfahrungen offenbar nicht. Sie bleiben in geschlossener Gesellschaft und vermitteln ein nostalgisches DDR-Bild, oder schweigen. Dabei sollten sie erzählen, aufklären! Was ist passiert? Was steckt dahinter?

Als Karla Werkentin vor zehn Jahren an die Heinz-Brandt-Schule in Weißensee kam, traf sie auf eine ihr völlig fremde Mentalität. Da war sie nun im Osten angekommen, die Alt-Achtundsechzigerin aus West-Berlin, stolz auf ihre Demo-Vergangenheit und ihre "dicke Akte beim Verfassungsschutz". Freiheit und Individualismus galten ihr als das Höchste. Und nun stieß sie auf Leute, die organisierte Kollektivität gewohnt waren, die einen "Subbotnik" - organisierten, als es darum ging, die Schule aufzuräumen. Einmal schlug jemand vor, doch wieder einheitliche Sportkleidung einzuführen. "Mehr Zucht, mehr Ordnung, mehr Disziplin! Das hörte ich hier sehr oft", sagt Karla Werkentin. Und noch kürzlich erklärte ein Kollege: "Wenn man sich nichts zu Schulden kommen ließ, hat einen die Stasi auch in Ruhe gelassen." "Wenn das das Resümee der DDR-Geschichte sein soll", sagt Karla Werkentin, "ist das schon bitter!"

Wie bei der Erforschung einer fremden Spezies versucht man nun, dieses seltsame Wesen Ost-Lehrer zu ergründen. Manche haben eindeutige Erklärungen parat. "Vom Beginn der achtziger Jahre an wurden Lehrer in der DDR gezielt aus zuverlässigen Familien ausgewählt", sagte die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier kürzlich bei einer CDU-Veranstaltung im Abgeordnetenhaus zum Thema "DDR-Geschichte im Unterricht". Die Folge: Bis zu achtzig Prozent der Lehrer seien SED-treu gewesen. Anfang der neunziger Jahre habe es einige Demokratisierungsversuche an den Schulen gegeben. "Damals wurden zunächst viele junge Lehrer aus dem Westen gerufen. Die gingen mit Pioniergeist in den Osten. Doch achtzig Prozent von ihnen wurden weggebissen", sagte Freya Klier. Sie berichtete von Kollegien, die Lehrer aus dem Westen mobbten, bis diese entnervt zurückgingen. Und sie machte dafür eine Verschwörung der PDS und ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Leute verantwortlich. Diese - studierte Lehrer - seien in der Wendezeit an die Schulen zurückgekehrt. "Das sind keine Seilschaften mehr, sondern mafiotische Zusammenhänge."

Joachim Gauck, der einst die Stasi-Aktenbehörde leitete, widersprach dem vehement. Alle hauptamtlichen Stasi-Leute seien bei der Überprüfung aus den Schulen entfernt worden. Informelle Mitarbeiter (IM) habe man entlassen oder weiter beschäftigt - je nach Aktenlage und persönlichem Gespräch. Er könne sich nicht vorstellen, dass an den Ost-Schulen aktive Seilschaften tätig sind. Dort herrsche viel mehr "die Normalität der Unaufgeklärtheit". Und diese müsse man überwinden. Sagte Gauck.

War die DDR eine Diktatur?
Marie: "Für mich war sie das nicht, da es ja genug Freiheiten gab, und die meisten Menschen sich, zumindest bevor die Mauer fiel, nicht eingeschränkt gefühlt haben. Es gab auch keinen Diktator im eigentlichen
Sinne. Die DDR war einfach ein leider nicht vollendeter Versuch, ein für alle geordnetes und gerechtes Leben zu finden."
Tim: "Ja, sie war ’ne Diktatur."
Lena: "Ja."
Petra: "Da muss ich jetzt passen, spontan kann ich jetzt dazu nichts sagen. Müsste ich mich mehr mit auseinandersetzen."

Stimmt es wirklich, dass die meisten Ost-Kollegien hermetisch abgeschlossene Nostalgie-Verbände sind? Und wenn ja, werden sie sich verändern lassen? Bei der CDU-Veranstaltung im Abgeordnetenhaus wurde gefordert, die kritische Beschäftigung mit der DDR nun durchzudrücken, und sei es mit Sonder-Projekttagen. Dabei war es die CDU, die nach der Wende schnell zum Tagesgeschäft übergehen wollte, auch an den Schulen. "Die CDU leitete die Verbeamtung der Ost-Lehrer ein", sagte der FU-Forscher Klaus Schroeder, "wohl in der Hoffnung auf künftige stramme Wähler." Joachim Gauck verwies darauf, dass ehemalige Parteisekretäre oder SED-Mitglieder oft "viel verheerender" gewirkt hätten als Stasi-Leute, auf die sich nun alles konzentriere. Doch man habe die Lehrerschaft großzügig übernommen, um vor allem die DDR-Fachlehrer nicht zu verlieren.

War das falsch? Wäre es eine bessere Lösung gewesen, die staatsnahen Lehrer massenhaft zu entlassen? Auf alle Fälle hätte es die Betroffenen noch weniger zu Anhängern der bundesdeutschen Demokratie gemacht. Karla Werkentin bedauert etwas anderes: "Unser Hauptfehler war, dass wir nicht berlinweit gemischt haben." Andere Bereiche, etwa die BVG oder die Berliner Museen, haben in den neunziger Jahren ihre Ost-West-Belegschaften zusammengeführt. "Aber die Lehrer sind sakrosankt", sagt sie. "Die West-Kollegen konnten nach ein paar freiwilligen Jahren im Osten Freudenfeste feiern, weil sie wieder in den Westen zurückdurften."

Bis heute hat die Berliner Politik nicht viel dafür getan, die Auseinandersetzung mit der DDR an der Schule zu vertiefen. Von eintausendachthundert Weiterbildungsveranstaltungen für Berliner Lehrer drehen sich ganze vier um die Geschichte der DDR. Junge, neu ausgebildete Lehrer für Geschichte und Weltkunde finden keine Stellen, weil Lehrer in anderen Fächern dringender gebraucht werden. Der Senat will nicht "brutal kontrollieren", ob die Schulen in ihrem Unterricht die DDR behandeln. Andere Bundesländer dagegen haben bewusst Schlüsse gezogen. In Brandenburg etwa verabredeten der Bildungsminister und die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, besser zusammenzuarbeiten.

Auch im Ostteil Berlins finden sich Lehrer, die ihre Schüler kritisch mit der DDR konfrontieren. Zu ihnen gehört Manfred Quick. Er ist seit einunddreißig Jahren Lehrer, ausgebildet für Mathe und Chemie. Seit einiger Zeit unterrichtet er in seiner Klasse an der Heinz-Brandt-Schule auch Geschichte. Karla Werkentin schwärmt für den kräftigen Mann im weißen Kittel, der wie ein Hausmeister berlinert. "Das ist ein echter Ossi, sehr beliebt bei den Kindern. Streng, aber auch gerecht", sagt sie.

"Ich bin ganz ehrlich", sagt Manfred Quick, "ich habe damals auch nicht gesagt: Weg mit der DDR! Damit hätte ich auch nicht Lehrer werden können. Aber dass sich so gar nichts bewegt hat, das war doch zum Kotzen. Und das muss man auch darstellen können, um den Vergleich zu ziehen." Wenn er etwa an die Erpressbarkeit der Leute durch die Stasi denke. Oder an die Häftlings-Freikäufe durch den Westen. "Da sage ich mir auch: Schmierig! Da ließ sich dieser Staat die Leute abkaufen. Wie moderne Sklavenhändler." Neulich sagte eine Schülerin: "Bei uns war die Stasi nie zu Hause." Quick antwortete: "Natürlich, die war bei vielen nicht zu Hause. Trotzdem ist die Stasi ein Merkmal dafür, wie repressiv ein Staat mit seinen Mitteln gegen Leute vorgehen kann, die nicht konform laufen."

War die Stasi ein Geheimdienst, wie ihn jeder Staat hat?
Marie: "Mit Sicherheit nicht, wobei man ja auch nicht wissen kann, wie der Geheimdienst in den anderen Staaten war oder heute ist - was sich da unter manchem Deckmantel verbirgt."
Tim: "Eigentlich schon, aber sie hat radikalere Mittel benutzt. Es gab ein sehr eingeschränktes Feindbild. Bürger mit anderer Meinung wurden bespitzelt."
Lena: "Sie war ein Geheimdienst, wie ihn jeder Staat hat. Aber von Staat zu Staat variiert die Art und die Härte des Geheimdienstes. Die Stasi war gewiss härter als manch anderer Geheimdienst."
Petra: "Puh . ich würde auf alle Fälle behaupten, dass die Stasi kein Geheimdienst war, wie ihn jeder Staat hat. Allerdings entwickeln sich die modernen Staaten immer mehr und mehr zu einem Überwachungsstaat. Ob das allerdings mit der Stasi zu vergleichen ist, wage ich zu bezweifeln."

Warum sind nicht alle Lehrer so offen wie Manfred Quick? Lernten sie nicht auch die neuen Freiheiten schätzen, die mit dem Ende der DDR kamen? Hatten nicht manche von ihnen ihrer Wut, ihren Tränen freien Lauf gelassen bei jenem Gespräch im Oktober 1989 in der Berliner Kongresshalle? Tausende Lehrer waren dabei, als sich vor Vertretern des DDR-Volksbildungsministeriums die Demütigung entlud, unter der viele gelitten hatten - weil sie "schweigen und lügen" mussten, wie einer sagte. Niemals mehr wollten sie das erdulden. Und heute? Heute gibt es Freiräume, von denen viele damals nicht einmal träumten.

Etwa den Freiraum, von dem Manfred Quick erzählt: "Während ich vorher dreizehn Jahre lang als Lehrer meinen Lehrplan abzuarbeiten und abzurechnen hatte, gab es jetzt zwar den Rahmenplan, aber mir war freigestellt, daraus Dinge zu machen, wie ich das will." Der neueste Plan schreibt ihm nicht einmal vor, sich explizit mit der DDR zu beschäftigen. Quick weiß nur: Er soll in der zehnten Klasse die Zeit von 1945 bis zur Wiedervereinigung behandeln. Seine Schüler sollen dabei unter anderem "den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur herausarbeiten". Quick versucht das ausführlich am Beispiel der DDR. Viele andere nicht.

Warum nicht?
"Demokratieauffassungen hängen eng von den Bedingungen der Gesellschaft ab", sagte der FU-Forscher Klaus Schroeder. Viele Westdeutsche hätten sich vor allem zur Demokratie bekannt, weil diese Wohlstand brachte. Das Sein bestimmte auch hier das Bewusstsein. So wie bei der deutschen Einheit. Sie hat für die Lehrer im Osten Neues und Gutes gebracht, aber auch Verschlechterungen. An den Schulen wird gespart, Lehrer sind überlastet. Für hundert aus Altersgründen ausscheidende Lehrer stehen bundesweit nur sechzig Absolventen bereit. Lehrer betreuen immer größere Klassen. Oft müssen sie im Unterricht gegen Desinteresse kämpfen und in Pausen Gewalt schlichten. Da bleibt kaum Zeit, sich über Inhalte auszutauschen.

Das Schulsystem ist nicht gerecht. An der Heinz-Brandt-Schule etwa lernen zweihundert Schüler aus sogenannten bildungsfernen Familien. Viele Eltern sind arbeitslos, kümmern sich nicht um ihre Kinder, manche sind Alkoholiker. Die meisten kommen nie aus ihrem Bezirk heraus, nicht mal die paar Stationen bis zum Alex oder Zoo. "Wir haben viele enttäuschte Kinder. Die letzten einer Grundschulklasse, die es nicht auf die Realschule schaffen, kommen zu uns an die Hauptschule", sagt Karla Werkentin. Nur ein Drittel ihrer Schüler erhält am Ende eine Lehrstelle. "Dieses Schulsystem ist diskriminierend und gehört grundlegend erneuert oder abgeschafft."

Viele Ost-Lehrer sehen keinen Grund, das DDR-Schulsystem, das sie einst selbst mitprägten, zu verurteilen. Zumal einiges, das ihnen vertraut vorkommt, heute "neu erfunden" wird: Gemeinschaftsschulen, das Abitur nach zwölf Jahren, zentrale Prüfungen. Dass sich Finnland einst an der DDR orientierte, als es 1973 die "Schule für alle" einführte, bestätigte 2004 Markuu Suortamo von der finnischen Schulbehörde.

Die Finnen haben erkannt, wie wichtig es ist, Schüler möglichst lange zusammen lernen zu lassen und sie nicht zu früh zu auszusortieren. Die Lehrer begegnen in ihren Klassen auch einer Sehnsucht nach einer sozial sicheren Welt. "Die Mehrheit der Ost-Schüler wünscht sich heute einen Staat, der plant und lenkt", sagte der FU-Forscher Klaus Schroeder.

Wenn Joachim Gauck von "Inseln der Aufgeklärtheit" spricht, meint er ein offenes geistiges Klima an den Schulen. Aufklärung kann es aber nur geben, wenn man die alten Denkmuster aufbricht. Mit der Ost-West-Mischung hat es nicht geklappt. Nun hofft mancher auf eine ganz neue Entwicklung: nämlich die jungen Kollegen, die nach und nach an die Schulen kommen.
Daniela Tschiersch ist eine von ihnen. Die heute Vierzigjährige kam 1998 als Englischlehrerin an die Heinz-Brandt-Schule und gehörte zu einer neuen Generation von Lehrern, die noch in der DDR aufgewachsen waren, aber schon im Westen studierten. Plötzlich, so Karla Werkentin, gab es an der Schule keine Spannungen mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Jung und Alt. Auch zwischen den Ansprüchen.

Daniela Tschiersch ist es gar nicht egal, welche Haltung ihre Schüler haben. Auch aufgrund ihrer eigenen Geschichte. Sie wuchs in einem katholischen Elternhaus auf. Ihr Vater wollte mit siebzehn flüchten, wurde erwischt und kam ins Gefängnis nach Bautzen. "Ich hatte also nicht die allerbeste Meinung von meinem Staat", sagt sie. "Als die Wende kam, hatte ich aber auch nicht die Vorstellung, dass der Osten jetzt alles vom Westen übernehmen solle."

Die damals Zwanzigjährige ging zu den Runden Tischen, suchte nach einem neuen Weg, auch in der Bildung. Sie will, dass sich ihre Kinder eigene Gedanken machen. "Ich habe den Eindruck, dass sie keine Vorstellungen von Ost-West mehr haben, dass ihnen das Thema nicht wichtig ist", sagt sie. Viele Schüler sprächen einfach nach, was ihre Eltern erzählten. "Geschichtlich und tagespolitisch sind sie leider nicht interessiert", bedauert Daniela Tschiersch, "auch nicht daran, ihre Rechte wahrzunehmen, zu erkennen, in welcher Umwelt sie aufwachsen." Sie höre oft Vorurteile, vor allem in Richtung Türken oder Araber. "Alle paar Monate halte ich ihnen ’ne Gardinenpredigt, aber es gibt wenige, die man erreicht."

Die Schulen sind damit überfordert, nicht nur zu bilden, sondern auch zu erziehen - Probleme zu lösen, die auch in anderen Bereichen der Gesellschaft bestehen. Lehrer wie Daniela Tschiersch oder Manfred Quick versuchen es dennoch. Der Geschichtslehrer läuft mit seinen Schülern Stationen der Mauer ab, bis zu der Stelle am Humboldthafen, wo der erste Mauerflüchtling, Günter Litfin, erschossen wurde. Quick geht es aber nicht nur um Mauer, Stasi und Gewalt, sondern um das alltägliche Leben in der DDR: Aus welcher Situation entstand sie nach dem Krieg? Welche Rolle spielte die SED? Warum gab es vieles nicht? Wie lebte die Jugend? Was war die FDJ? Was machte man in der Freizeit?

War die DDR-Regierung durch demokratische Wahlen legitimiert?
Marie: "Wäre sie das nicht gewesen, hätten die Menschen dann nicht schon von Beginn an rebelliert? Das kam mir spontan in den Sinn."
Tim: "Eher nein."
Lena: "Nein, sie wurde einfach gegründet, und bei späteren Wahlen konnte man sich nur für oder gegen eine vorgegebene Partei entscheiden."
Petra: "Definitiv nicht."

Es ist schwer, Schülern Zusammenhänge zu erklären. Die Lehrbücher seien in ihrer Sprache oft "keine dolle Hilfe", sagt Manfred Quick. Also setzt er sich hin und formuliert die Texte um, schülergerecht. Als er mit seinen Schülern durchs ehemalige Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen lief, sagte er: "Stellt euch das mal vor, das hätte euch auch passieren können. Erst mal weg! Ohne offizielle Anklage, ganz willkürlich! Du weißt nicht, wo du bist, wie lange du drin bist und was aus dir wird." Die Schüler seien dann meist betroffen, sagt er. Denn sie spürten: Das war eben kein normales Gefängnis. Und die Stasi war eben kein normaler Geheimdienst.

Das Klima in der Schule ist immer auch ein Spiegel des Klimas in der Gesellschaft. Wer von "verbohrten Ost-Lehrern" redet, vergisst, dass Menschen eine Umgebung brauchen, die ihnen mit Verständnis entgegenkommt, wenn sie über ihr Leben reden. Stattdessen sieht man Demokratie-Missionare, die zuallererst Buße einfordern. Nicht alle haben ein so breites Kreuz wie Manfred Quick: "Ich glaube, bei vielen ist es irgendwo Scham. Man denkt: Da hast du mitgemacht, und das sollst du erklären, rechtfertigen. Da hast du keinen Bock drauf. Aber ich sag mir: Was soll das? Gerade weil es mein Leben gewesen ist, will ich es nicht vergessen." Nostalgie entsteht immer dort, wo man sich nicht zu Hause fühlt.

Wie interessant wäre doch eine Veranstaltung im Abgeordnetenhaus, in der Ost-Lehrer über ihr Leben reden und Westlehrer über ihres. Woran sie glaubten, wie ihr Alltag war, woran sie verzweifelten. Die meisten DDR-Lehrer haben in ihrem engen Rahmen mehr oder weniger kreativ gearbeitet. Die wenigsten haben Kindern bewusst geschadet.

Doch der Blick zurück nützt nichts, wenn er Pflichtübung bleibt, ohne Erkenntnisgewinn. Die Lehrer im Osten müssen Kinder zu Demokraten erziehen wollen. Genauso wie die Lehrer im Westen. Es geht nicht um Lippenbekenntnisse, sondern um den Umgang mit Unrecht und Vorurteilen, um einfache menschliche Haltungen.

Das zeigt auch das Beispiel eines Schülers der Heinz-Brandt-Schule. Kevin aus der neunten Klasse begegnete beim Praktikum zum ersten Mal in seinem Leben einem Schwarzen. Zu Hause erzählte er das seinem Vater. Dieser fragte seinen Sohn, warum er dem Schwarzen die Hand gegeben und mit ihm die Pause verbracht habe. Na ja, sie hätten sich eben unterhalten, antwortete der Junge. Später erzählte er der Direktorin, er habe einfach wissen wollen, warum der Mann nach Deutschland gekommen sei und so weiter. "Jetzt stellte er sich plötzlich Fragen", sagt Karla Werkentin. Das ist das, was sie will. Da könne sie hier argumentieren, wie sie wolle: "Ohne Kennenlernen verändert sich nichts." Das gilt auch für Lehrer.
Berliner Zeitung, 08.03.2008