Knaller an der Zeitungsfront

Thursday, February 28, 2008

Kollateralschaden einer Affäre (taz)

15.02.2008
Unicef und Hans Leyendecker
Kollateralschaden einer Affäre. VON MICHAEL RINGEL
In den vergangenen Wochen bewegte die Öffentlichkeit ein in der Affärengeschichte der Bundesrepublik eher semibrisanter Skandal: Der Führungsetage des Kinderhilfswerks Unicef wurde vorgeworfen, Spendengelder veruntreut zu haben. Als Resultat der Enthüllungen traten zunächst die Vorsitzende Heide Simonis und dann der Geschäftsführer Dietrich Garlichs zurück. Im Windschatten der Affäre aber hat sich ein Kollateralschaden ergeben, der zumindest in der Journalistenbranche für Erheiterung sorgte: der Fall des Hans Leyendecker.

Leyendecker ist Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung und der selbst ernannte "König des investigativen Journalismus", wie die Wahrheit einmal schrieb. Nun hat Leyendecker zur Aufdeckung der Vorgänge bei Unicef rein gar nichts beigetragen. Losgetreten hat die Geschichte ein Redakteur der Frankfurter Rundschau und früherer taz-Mitarbeiter Matthias Thieme. Es lief alles wie im Lehrbuch ab: Informanten tragen interne Papiere zu; es wird recherchiert; Verantwortliche bestreiten Vorwürfe; es wird intensiver recherchiert; Vorwürfe bewahrheiten sich; Verantwortliche treten zurück.

Auch die Verteidigungsstrategie von Unicef zeigte ein bewährtes Muster. In der Unicef-Chefetage wurde die Devise ausgegeben, die Organisation dürfe auf keinen Fall beschädigt werden, dafür sei die Sache viel zu wichtig. Also wurden journalistische Leuchten wie Sabine Christiansen und Rolf Seelmann-Eggebert in Gang gesetzt, aber auch der allerhellste Mitwirkende an der Affäre, der "Unicef-Repräsentant" (dpa) Udo Lindenberg, der erklärte: "Unicef ist stärker und wichtiger als ne kleine Krise, die da mal durchrauscht. Denken wir an ein reinigendes Gewitter - hallo, na klar, wir bleiben knallewach." Wenn sich irgendwann der Rauch gelegt hat, muss man wohl genauer hinschauen, welche Knall- und Sprengköpfe im Umfeld dieser Geldsammelorganisation endgelagert werden.

Den Vogel aber schoss Hans Leyendecker ab. Am vergangenen Freitag erschien in der SZ ein Artikel, in dem er über "die grenzwertige Strafverfolgung mit Hilfe der Medien" fabulierte und dem Rechercheur Thieme vorwarf, dass dieser bei der Staatsanwaltschaft ein juristisches Verfahren gegen die Unicef-Verantwortlichen anstoßen wollte und so gegen das journalistische Ethos verstoßen habe. Als angeblichen Beweis zitierte Leyendecker eine Mail von Thieme an die Staatsanwaltschaft, in der allerdings ein Informant den Behörden lediglich seine Hilfe bei der Aufdeckung der Vorgänge anbot. Leyendecker aber verstieg sich zu einer moralischen Anklage gegen den Boten der Nachricht - und zwar am selben Tag, als immer mehr Großspender ihre Beiträge für Unicef in Frage stellten und der Geschäftsführer zurücktrat.

Es waren purer Neid und gekränkte Eitelkeit eines Großfürsten der Publizistik, dass da ein junger Terrier von Journalist eine Geschichte durchhielt, während der Meister sie falsch eingeschätzt hatte: "Die FR agierte ... als gehe es um eine wirklich große Enthüllung", verkündete Leyendecker dickhosig von seinem Hochsitz des Ethos. Mit seinen dicken Eiern aber konnte er nicht mehr herunterklettern und sitzt deshalb noch heute dort: als Gespött einer ganzen Branche.

Wann bitte sprengt...(taz)

01.02.2008
Wann bitte sprengt irgendjemand Hertha BSC Berlin in die Luft?
Kann sich irgendjemand vorstellen, dass mitten in Frankfurt hunderte Berliner an einem Fußballwochenende einen ganzen Straßenzug friedlich zu einer liebevoll gestalteten und atmosphärisch angenehmen "Bier- und Bulettenbar" umfunktionieren, um dort sich und ihr Heimatteam zu feiern? VON MICHAEL RINGEL

Kann sich irgendjemand vorstellen, dass mitten in Frankfurt hunderte Berliner an einem Fußballwochenende einen ganzen Straßenzug friedlich zu einer liebevoll gestalteten und atmosphärisch angenehmen "Bier- und Bulettenbar" umfunktionieren, um dort sich und ihr Heimatteam zu feiern? Nein? Andersherum geht es allerdings sehr gut. An diesem Wochenende beginnt die Bundesligasaison wieder, unter anderem mit einem Spiel von Hertha BSC Berlin gegen die Eintracht aus Frankfurt. Die Eintracht-Fans werden aus diesem Grund in Scharen nach Berlin kommen, sich mit den in der Hauptstadt ansässigen Eintrachtianern zusammentun und mitten in Kreuzberg erneut ihre "Bembelbar" eröffnen. In diesem Jahr zum fünften Mal. In der Jubiläums-"Bembelbar" wird mitgebrachter Äppelwoi ausgeschenkt, während die Fans sich und ihr Team feiern.

Nun ist Äppelwoi pures Gift und die aus der Zentrale des Handkäs stammende Eintracht ein eher unappetitlicher Verein. Aber umgekehrt ginge das gar nicht, denn Hertha BSC Berlin ist der wahrscheinlich grauenhafteste Verein des Universums. Ich weiß, wovon ich spreche. Seit mehr als 25 Jahren schaue ich mir Spiele der Hertha an. Es ist das Grauen. Alles an diesem Verein ist Müll, ach was, Sondermüll: Vorstand und Management, Trainer und Spieler, Anhänger und Mitglieder.

Frösche nennt man beispielsweise das, was für andere Klubs Fans sind. Und jedes Mal treten einem bei dieser ersten Lebenslüge der Hertha die Tränen in die Augen. Denn der freundliche Tiername ist so fehl am Platz wie eine Autobombe in einer Fußgängerzone. Jedes Mal, wenn man ins Stadion fährt, fragt man sich schon in der U- oder S-Bahn, aus welchen düsteren Löchern diese Gestalten gekrochen sind.

Trainer und Spieler verkörpern das absolute Mittelmaß, aber mit dem typischen Berliner Schuss Größenwahn. Hertha BSC Berlin ist eine Art Bielefeld mit einer Überdosis Bagdad. Bereits nach einem zufälligen Sieg gegen irgendeine andere graue Maus meint man bei Hertha, mindestens die Champions League gewonnen zu haben.

Das Management besteht aus einem Einmannbetrieb namens Dieter Hoeneß, der ständig beleidigt ist, weil seine Arbeitsleistung angeblich nicht anerkannt wird. Seine Arbeit besteht darin, bei Spielereinkäufen Geld auf dem Transfermarkt zu vernichten. Der Vorstand wiederum besteht aus den piefigsten Restberlinern, von denen einer tatsächlich vor kurzem einen halblichten Moment hatte. Zur Lage des Elendsvereins, der zuletzt vor 77 Jahren deutscher Meister wurde, befragt, erklärte der Hertha-Präsident Bernd Schiphorst: "Die älteren Generationen im Ostteil der Stadt haben wir leider verloren." Die älteren Generationen?! Alle Generation! Dieses traurige Stück Berlin schafft es in einer Dreieinhalb-Millionen-Metropole nicht mal an einem Spieltag, ein Prozent der Bevölkerung zu mobilisieren. Rund 30.000 Zuschauer verlieren sich alle zwei Wochen im Stadionrund. Und wer nach Berlin umzieht, bleibt zum Beispiel Eintracht-Fan.

Oder wird Masochist. Wenn nicht jemand diesen Drecksklub in die Luft sprengt, bin ich auch diesen Samstag wieder bei olle Hertha. Es nützt ja nichts. Irgendjemand muss es ja weggucken.

Roland Koch aufgegessen (taz)

26.01.2008
die wahrheit
Roland Koch aufgegessen
Kannibale von Rotenburg verspeist
kurz vor Wahl hessischen Ministerpräsidenten.
VON MICHAEL RINGEL
FRANKFURT AM MAIN taz Ganz Deutschland ist erschüttert. Die Nachricht schlug gestern ein wie eine Bombe: Roland Koch wurde aufgegessen. Wie der hessische Landeswahlleiter Wolfgang Hannappel am Freitagnachmittag auf einer Pressekonferenz in Wiesbaden bekanntgab, wurde der Spitzenkandidat der Christlich Demokratischen Union und Ministerpräsident des Landes Hessen, Roland Koch, Opfer des sogenannten Kannibalen von Rotenburg. In ersten Stellungnahmen zeigten sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der SPD-Vorsitzende Kurt Beck betroffen. Die Oppositionsführerin im hessischen Landtag Andrea Ypsilanti (SPD) erklärte: "Ich bin ein Stück weit entsetzt." Vertreter der Grünen und der Linken sprachen ihr Bedauern über den Vorfall aus. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) kündigte eine lückenlose Aufklärung der Tatumstände an und forderte eine Ausweitung der Vorratsspeicherung auf Kannibalen.

Nach ersten Ermittlungen des BKA muss es dem Täter Armin Meiwes gelungen sein, am Freitagmorgen aus der Justizvollzugsanstalt Kassel zu fliehen. Meiwes habe sich zum Wohnort des Ministerpräsidenten begeben und ihn in seinem Haus allein angetroffen. Daraufhin habe Meiwes Koch zerlegt, gekocht und aufgegessen. Ob der für ein ähnliches Delikt bereits einsitzende "Kannibale" Helfershelfer hatte, wollen die Behörden in einer umfassenden Untersuchung klären. Das BKA stellte eine Sonderkommission mit dem Namen "Coq" zusammen, an der 400 Beamte beteiligt sind.

Wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in seiner Ausgabe am Montag berichtet, habe Meiwes laut Aussagen von Mithäftlingen seit Monaten Salz und Pfeffer gehortet. Meiwes hätte wörtlich geäußert: "Ich habe noch eine größere Mahlzeit vor mir." Zuletzt hätte sich der "Kannibale" mehrfach enttäuscht darüber gezeigt, dass ihm bei seiner Verurteilung die bürgerlichen Rechte aberkannt worden seien und er bei der Hessenwahl keine Stimme abgeben könne. Meiwes hatte sich im Gefängnis einer von den Grünen unterstützten Häftlingsgruppe angeschlossen, vermutlich auch, um leichter an Bioprodukte und erlesene Gewürze zu gelangen. Wie das Magazin Essen & Trinken vorab meldet, habe Meiwes Ministerpräsident Koch als Coq au vin zubereitet und dafür exquisite Produkte verwendet, die er alle mitgebracht habe.

Nach Polizeiangaben befand sich Roland Koch wegen einer Erkrankung allein zu Hause. Wo sich seine Sicherheitsbeamten aufhielten, ist zur Stunde noch nicht geklärt. Gegen 13.45 Uhr sei die Ehefrau des Opfers nach Hause gekommen und habe eine verschmutzte Küche sowie im Esszimmer Knochen und andere Überreste einer opulenten Mahlzeit vorgefunden. Da ihr Mann verschwunden war, habe sie sofort die Mitarbeiter der Senatskanzlei verständigt, die eine Gewalttat ausländischer Jugendlicher vermuteten. Eine eilig eingeleitete Fahndung konzentrierte sich jedoch schnell auf den seit dem frühen Morgen flüchtigen Meiwes, der allerdings wegen des schweren Essens nicht weit kam. Er wurde am Freitagnachmittag von einem Spezialkommando der Polizei in der Frankfurter Freßgass festgenommen, wo ihn einige Börsianer erkannten, die sich zum Wochenschluss des Aktienmarktes mit ein paar Flaschen Champagner über ihre Verluste hinwegtrösteten.

In einer ersten Vernehmung bekannte sich Meiwes zu der Tat, bestritt aber politische Motive. Wie das Magazin Focus berichtet, habe er immer wieder von einem "unbändigen Hunger" gesprochen, der durch die Nahrung in der Justizvollzugsanstalt nicht gestillt werden könnte.
"Ich weiß nicht, ob das lecker war", sagte der bekannte Fernsehkoch Horst Lichter der Nachrichtenagentur dpa. Gegenüber den "RTL II News" erklärten Teilnehmer der Sendung "Das perfekte Promi-Dinner", dass sie Koch nicht gern als Coq au vin essen würden. Der Gastrokritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Jürgen Dollase, allerdings sprach von einer "interessanten Textur der Sauce", die ihm ein Informant übermittelt habe.

Wie es nun in Hessen weitergeht und wann die Landtagswahl stattfindet, ist noch völlig ungewiss. Ob die CDU auch ohne Koch wieder mit dem Thema innere Sicherheit in den Wahlkampf zieht, konnte unter dem Schock der Ereignisse in der Partei niemand sagen. Der potenzielle Nachfolger Kochs, Innenminister Volker Bouffier, kündigte jedoch eine "schonungslose Auseinandersetzung" an über die Frage, ob "Grüne und Kommunisten die Finger im Spiel hatten".

In Frankfurt am Main kam es derweil zu unschönen Szenen in den Straßen der Problemviertel. Nachdem die Nachricht von der Verspeisung Roland Kochs bekannt wurde, zogen hunderte Mitglieder arabisch-türkischer Jugendgangs durch die Mainmetropole und verteilten unter lautstarken Jubelgesängen Bonbons und andere Süßigkeiten an Passanten - "als Nachtisch", wie es hieß.

Redaktion fordert Rücktritt von Chef (taz)

15.02.2008
Krach um "Berliner Zeitung"-Sparpläne
Redaktion fordert Rücktritt von Chef
Die Redaktion der "Berliner Zeitung" hat Chefredakteur Depenbrock aufgefordert, sein Amt niederzulegen. Zuvor

"Enthusiastisch" ist das Wort, das David Montgomery vor kurzem benutzte, um zu beschreiben, wie seine Berliner Mitarbeiter seine Pläne aufnähmen. Enthusiastisch laut Wörterbuch: begeistert, schwärmerisch.

Die Wahrheit ist: Am Donnerstag flossen in der Redaktion der Berliner Zeitung Tränen. Sie forderte ihren Chefredakteur danach zum Rücktritt auf.

Der Mecom-Konzern des Briten David Montgomery hält die BV Deutsche Zeitungsholding, zu der der Berliner Verlag und damit auch die Berliner Zeitung gehört. Nachdem am Mittwoch Chefredakteur Josef Depenbrock, zugleich Geschäftsführer der Holding, mit Montgomery zusammengetroffen war, bat die Redaktion Depenbrock am Donnerstagmorgen in der Redaktionskonferenz um eine Stellungnahme zu einer langeschwelenden Frage: Werden offene Stellen nachbesetzt? Depenbrocks Antwort lautete, es müsse "weiter gespart" werden, und er brauche Zeit, um über die Neubesetzung der Stellen nachzudenken.

Dies, sagt Ewald Schulte, Mitglied des Redaktionsausschusses, sei von der Redaktion "mit lähmendem Entsetzen zur Kenntnis genommen" worden. Die Teilnehmer der Konferenz seien "konsterniert" gewesen. Einem anderen Redakteur zufolge habe ein Teil der Belegschaft die Konferenz vorzeitig verlassen, einige Mitarbeiter seien in Tränen ausgebrochen.

Etwa ein Dutzend Stellen wurden frei und nicht wieder besetzt, seit Montgomery die Zeitung gekauft hatte und Depenbrock Chef geworden war. Stellen im Sport-, Wirtschafts- und Medienressort sind unbesetzt, die Ressortleiter der Seite 4 verließen das Blatt ebenfalls. Die Befürchtung der Redaktion, es würde unter dem neuen Eigner Montgomery zu Entlassungen kommen, hat sich zwar nicht bewahrheitet. Pauschalisten und langjährige freie Mitarbeiter wurden unter Depenbrock sogar mit "vernünftigen Arbeitsverträgen" ausgestattet, wie Schulte sagt. Doch der freiwillige Exodus geht weiter, die Zeitung entsteht mit immer weniger Personal. Redakteure, deren Namen eng mit der Zeitung verbunden sind, haben das Blatt verlassen oder werden 2008 gehen - auch Schulte.

"Wenn eine Zeitung eine gute Perspektive hat, überlegt man sich gut, ob man sie verlässt", sagt ein Redakteur. "Die überragende Meinung ist aber, dass sie keine gute Perspektive hat." Von schleichenden Prozessen ist die Rede, "und es geht nicht aufwärts, sondern abwärts."

Nicht erst nun sehen sich viele Redakteure als unfreiwillige Erfüllungsgehilfen einer Renditevorstellung des Mecom-Konzerns, die 2007 bei etwa 14 Prozent gelegen haben dürfte und 2008 bei mindestens 18 Prozent liegt. Doch die gestrige Nachricht, dass weitere Sparmaßnahmen bevorstünden, hat nun Konsequenzen: Als Reaktion auf die Nachricht kam die Redaktion am Nachmittag zusammen und beschloss, Chefredakteur Depenbrock, der - was der Redaktion seit Monaten schwer im Magen liegt - eben auch Geschäftsführer ist, das Misstrauen auszusprechen. Briefe an Depenbrock und an die Mecom-Spitze wurden aufgesetzt. Zur gleichen Zeit ruderte Depenbrock zurück und kündigte an, vier freie Stellen würden nun doch neu besetzt, drei davon extern. Die betroffene Reaktion der Redaktion habe den Ausschlag dafür gegeben, heißt es. Depenbrock habe sie richtig gedeutet: Das Fass läuft über.

Seit langem fordert die Redaktion, Depenbrock solle einen seiner Posten abgeben; man könne nicht die Interessen einer Redaktion vertreten, wenn man zugleich Geschäftsführer sei. Zudem verstoße die Doppelrolle gegen das Redaktionsstatut, das die strikte Trennung von Verlag und Redaktion vorsehe. Depenbrock hat sich bislang hartnäckig geweigert. Spätestens jetzt aber ist er schwer angeschlagen.

2006, als er als Chefredakteur antrat, ohne dass der Redaktion ein Mitspracherecht eingeräumt worden war, hatte die protestiert, indem sie eine nur zwölf Seiten starke Ausgabe produzierte. Sie schrieb von ihrer "Sorge über die Zukunft unserer Zeitung" und ihre journalistische "Qualität und Unabhängigkeit". In den Augen vieler Redakteure hat sich diese Sorge bewahrheitet. Mittlerweile lautet die zum Teil harsche Kritik an Depenbrock, er sei nicht Journalist, sondern Unternehmer, "auch wenn er das Gegenteil behauptet". Die "Glaubwürdigkeit des Chefredakteurs hat bei vielen stark gelitten", sagt Ewald Schulte.

Hinter dem Konflikt mit Depenbrock, der das Verbindungsglied zwischen der Redaktion und Mecom ist, stehen die Renditeerwartungen des britischen Unternehmens. Im Januar war der Börsenkurs von Mecom dramatisch eingebrochen. In einer Pressemitteilung, die Mecom herausgab, hatte der Konzern - ein rein handwerkliches Versäumnis - verschwiegen, dass er die kartellrechtliche Auflage bekommen habe, eine niederländische Zeitung zu verkaufen. Analysten hätten sich daraufhin "veralbert" gefühlt, wie es heißt - und der Kurs fiel. Diesen Kommunikationsfehler müssten nun die Mitarbeiter des ganzen Konzerns ausbaden, heißt es aus Berlin.

"Es muss brezeln" (taz)

14.02.2008
"Es muss brezeln"
Moses Schneider produziert Platten von Jens Friebe, Peter Licht und den Beatsteaks. Dafür wird er vom Feuilleton geliebt und ist nun zwei Mal für den Echo-Preis nominiert.
VON THOMAS WINKLER

Moses Schneider weiß, was Rockbands wünschen. "Der Kühlschrank ist voll!", verkündet er breit grinsend. Und tatsächlich: Im weißen Ungetüm in der Ecke der Fabriketage wartet eine Batterie Flaschbier. Die Musiker, die hier auf speckigen Sofas auf ihren nächsten Einsatz warten, wollen schließlich bei Laune gehalten werden. Und die erste Pflicht eines Musikproduzenten wie Schneider ist es, für kreative Stimmung zu sorgen.

Doch es sind nicht in erster Linie die Qualitäten von Moses Schneider als Getränkelieferant, die für seinen mittlerweile legendären Ruf in der deutschen Musiklandschaft gesorgt haben. Der 42-Jährige ist verantwortlich für einige der erfolgreichsten Schallplatten der vergangenen Jahre. Seine Arbeit wird immer von der Kritik geschätzt und oft auch vom Publikum.

Unter seiner Regie stürmten die Beatsteaks, eine zuvor allgemein als eher durchschnittlich eingestufte Berliner Punkband, an die Spitze der deutschen Charts. Auf Platten von Seeed, Fehlfarben, der ehemaligen Skunk-Anansie- Sängerin Skin, Peter Licht, Ohrbooten, Jens Friebe und Mediengruppe Telekommander findet sich sein Name. Auch die letzten beiden, sehr überzeugenden Alben von Tocotronic hat er produziert, und Peter Thiessen, der Schneider für die letzte vorzügliche CD seiner Band Kante engagierte, hat seinen kürzlich geborene Sohn auf den Namen Oscar Moses taufen lassen. Und nun beginnt auch das Musik-Establishment die Künste des Produzenten zu würdigen: Für den deutschen Musikpreis Echo, der am 15.2. in Berlin feierlich verliehen wird, ist Schneider gleich zwei Mal nominiert: Für seine Arbeit an "Kapitulation" von Tocotronic und "Limbo Messiah" von den Beatsteaks.

Vor allem Rockbands sind es, die es nach Berlin ins Transporterraum-Studio zieht, das Schneider zusammen mit seinem Partner Ben Lauber betreibt. Dort mischt er die Stücke ab, die er zuvor am liebsten im ChezCherie-Studio aufgenommen hat, einer weitgehend gewöhnlichen Kreuzberger Fabrik-Etage, die von einem Künstler-Pärchen bewohnt wird. Neben der familiären Atmosphäre schätzt Schneider vor allem die Beton-Decke, die die Höhen verteilt "wie ein Springbrunnen" und so für einen harmonischen Gesamtsound sorgt.

Unter dieser Decke gruppiert Schneider an einem trüben Frühwintertag Kettcar. Die Hamburger Band nimmt vier Songs ihres neuen Albums, das im kommenden April erscheinen soll, mit dem Produzenten auf. Dessen Arbeit in den ersten Stunden besteht darin, zusammen mit dem Sound-Engineer die verschiedenen Mikrofone im Raum zu platzieren, Instrumente und Verstärker zu verkabeln. Einzelne dieser Klang-Settings tragen Namen wie "Wurst1" oder "Ghettoblaster". Ein Mikrofon liegt am Boden direkt hinter dem Schlagzeugschemel und ist mit Duct-Tape auf einem Frühstücksbrettchen fixiert. Effektgeräte heißen bei Schneider "Ratte" oder "Tretmine", gegessen werden Kartoffelchips. "Für Studio-Füchse ist das hier nichts", sagt Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch.

Wenn nach zähen, von missglückten Metaphern und lautmalerischen Wortneuschöpfungen geprägten Diskussionen der gesuchte Gesamtsound gefunden ist, dann stellt Schneider seine Klienten im Kreis auf und lässt sie einfach losspielen. Aufgenommen werden alle Instrumente gleichzeitig, und während andere Produzenten sich dabei hinter schallsicherem Glas verschanzen, steht Schneider mitten zwischen der Band, eine Selbstgedrehte zwischen den Zähnen, rudert mit den Armen, schneidet Grimassen zu den Gitarrenriffs, schüttelt den wirren Haarschopf im Rhythmus und gibt Einsätze. Alle sollen "gemeinsam schwitzen", sagt er. Und das immer wieder: Take folgt auf Take, "manchmal 40 Mal", lächelt Schneider, der bei den Aufnahmen ungleich euphorischer wirkt als die norddeutsch zurückhaltende Band. Eine neue Erfahrung auch für Kettcar-Gitarrist Erik Langer: "Das ist extrem emotional, fast ein bisschen freakig". Im Ergebnis aber "fühlt man sich wieder wie ein Musiker", findet Sänger Wiebusch, "nicht mehr nur wie ein Erfüllungsgehilfe".

Tatsächlich wirkt der Kettenraucher Schneider ganz und gar nicht wie einer der üblichen Knöpfchendreher, die sich Produzent nennen. Für den technischen Ablauf ist ein Assistent zuständig, und der sagt nur leicht ironisch: "Wir machen alles mögliche, um keinen sauberen Sound zu haben". Schneider ist eher ein Dirigent und tatsächlich ist seine Arbeitsweise bei Klassik- und Jazz-Aufnahmen bis heute Standard. In der üblichen Rockproduktion allerdings wird jeder Musiker einzeln in den Aufnahmeraum geschickt, gewöhnlich zuerst Schlagzeuger, dann Bassist und schließlich Keyboarder und Gitarristen. Ein Vermächtnis aus der Disco-Zeit Ende der Siebziger Jahre, als die Studio-Aufnahmen immer aufwändiger und die Produzenten immer selbstverliebter wurden. Heute wird gewöhnlich zum Clicktrack aufgenommen, einem elektronischen Metronom, mit dem die einzelnen Spuren dann anschließend im Computer synchronisiert werden können.

"Kein Clicktrack, darauf haben wir uns spezialisiert", sagt Schneider. Mit seiner in der europäischen Rockmusik nahezu einzigartigen Methode will der gebürtige Berliner herausarbeiten, was er "Spielgefühl" nennt. "Spielgefühl" ist Schneiders Lieblingswort. Öfter sagt er nur noch "coole Scheiße". Dann nämlich, wenn er es geschafft hat, bei einer Band dieses Spielgefühl zu evozieren. Es bezeichnet jene seltsame, schwer zu greifende Magie, die entsteht, wenn Menschen zusammen Musik machen, wenn etwas entsteht, was mehr ist als die Summe der einzelnen Teile. "Das, was eine Band einzigartig macht, das ist ja das Gefühl für Timing und für Tempo", sagt Schneider, "und das will ich auf Band bringen."

Gelernt hat der aus einer Musikerfamilie stammende Schneider sein Handwerk in den legendären Hansa-Studios. Dort, wo wegweisende Alben von U2, Depeche Mode, David Bowie oder später Nick Cave entstanden, hat er nach einem drei Wochen währenden Studium als Kaffeekocher angefangen und dann jahrelang als Assistent gearbeitet. Ende der Achtziger Jahre standen dann plötzlich die Pixies im Studio und wollten einen Song aufnehmen für ihr Album "Bossanova". Schneider war zwar ganz allein, aber stellte den Post-Punkern kurzentschlossen die Regler ein. Die dankten es ihm mit einem Vermerk auf der Platte, seinem ersten.

Mittlerweile ist das "Wunderkind" (Der Tagesspiegel) zum "Starproduzent" (taz) aufgestiegen, ist einer gar, der Bands einen Sound verpasst, der "international konkurrenzfähig" (Die Zeit) ist. Zuletzt wurde sogar das Londoner Dancefloor-Duo Basement Jaxx vorstellig und hat sich vom Rockproduzenten Schneider aufnehmen lassen. Auch sie dürften an dem nach Selbsteinschätzung Besessenen geschätzt haben, was Tocotronics Dirk von Lowtzow so beschreibt: "Moses ist verrückt, aber auch extrem effektiv".

Der Verrückte selbst glaubt allerdings, dass seine ganze Zunft demnächst kaum noch vonnöten sein wird. "Der Produzent wird aussterben", sagt Schneider. Studios, nicht nur die teuren, sondern auch ein solch improvisiertes, wie er es benutzt, werden dank der sinkenden Umsätze im Musikgeschäft zukünftig kaum noch finanziert werden können.

Eine Alternative könnte eine Weiterentwicklung seiner Arbeitsweise sein. Schon jetzt bereitet Schneider mit den Bands in deren Probenraum "ohne Zeit- und Geldstress" die Aufnahmen vor, oft wochenlang. "Mit der Band zusammen wachsen", nennt er das, und als praktischer Nebeneffekt kommt die Band mit bereits fertig arrangierten Songs ins Studio, die so viel effektiver aufgenommen werden können. "Das Studio ist dann nur noch eine Art Theater- Aufführung", beschreibt es Schneider. Diese Aufnahmen erfolgen dann schon heute mit kleinem Equipment, das in einem PKW transportiert werden kann. "Der Übungsraum ist das Tonstudio von morgen", prophezeit Schneider der Rockmusik eine ähnliche Entwicklung wie sie in der elektronischen Musik schon Gegenwart ist.

Erst einmal aber gilt es, den richtigen Sound für zu finden für den Song, der den Arbeitstitel "Würde" trägt. "Zu muffig", findet einer den Klang. "Es müsste mehr brezeln", sagt ein anderer. "Bratfettig", "altbacken", "doomig", "wie ein Rasier-Apparat". So ein Nachmittag im Tonstudio beweist vor allem wieder einmal die alte Weisheit, dass man über Musik nicht sprechen kann, sonst könnte man zu Architektur ja auch tanzen.

Das größte Talent von Schneider ist es wohl, diese so ziel- wie endlosen, entnervenden Diskussionen geschickt zu manipulieren und die Band davor zu bewahren, sich in der eigenen Detailverliebtheit zu verlieren und zu viel an Kleinigkeiten zu tüfteln. "90 Prozent Psychologie" sei sein Job, sagt er. Und: "Mir kommt es so vor, als sei ich ein Fußball-Trainer". Der stellt die Mannschaft auf, aber spielen müssen die anderen. Und das tun sie. Immer wieder und wieder. Bis sich im Laufe des Nachmittags "Würde" ganz vorsichtig verändert. Langsam aber sicher wird der Song immer kompakter und der Kühlschrank wird immer leerer, und plötzlich, irgendwann, auf einmal, in Take fünf oder sechs oder vielleicht auch sieben spielen Kettcar das Stück auf den Punkt. Die Musik verklingt, ein paar verlorene Rückkopplungen irren noch durch den Raum, Moses Schneider hat die Arme hochgerissen wie ein Stürmer nach dem Torerfolg und blickt in die Runde. Und jeder weiß: Das war's jetzt. Das war der Moment. Das war jetzt "coole Scheiße".

Sandra Grether hat Angst vor Konzertkritiken (Berliner Zeitung)

SHORTCUTS
Sandra Grether hat Angst vor Konzertkritiken
Jens Balzer

Neulich beim Popredakteur zu Hause. Es ist Abend, die Kinder sind schon im Bett, die Erwachsenen haben sich gerade ein vollständig veganes Tofuhacksteak in die Pfanne gehauen und eine Flasche frischen Weißburgunder von der Nahe entkorkt. Da klingelt plötzlich das Telefon. "Klingeling!" - "Balzer." - "Ja, hallo Jens, hier ist die Sandra Grether, ich hab deine Nummer von der Elke." - "Elke? Welche Elke?" - "Es geht darum, du weißt doch, ich hab mit meiner Schwester Kerstin eine neue Band, Jens Friebe macht da auch mit, der spielt Bass, wir heißen Doctorella." - "Ja." - "Und am Sonntag treten wir im Bang Bang Club auf." - "Ja, ich ." - "Und da hat mir der Ran Huber von Am Start, unser Veranstalter, erzählt, dass du da auch jemanden hinschicken willst, wegen einem Konzertbericht." - "Genau, da soll eine Kollegin ." - "Du, das ist total lieb von dir, und wir freuen uns da auch total drüber, aber weißt du, für uns ist das echt noch so ein Testkonzert, wir spielen ja zum ersten Mal mit der Band in Berlin, und da fänden wir das besser, wenn es noch keine Presseberichte geben würde, weißt du." - "Ach." - "Ich weiß, das hört sich jetzt vielleicht etwas ungewöhnlich an." - "Allerdings." - "Die Kollegin kann ja gerne kommen, das ist überhaupt kein Problem, auch mit der Gästeliste, nur dass die was schreibt, das wollen wir nicht so." - "Weil ihr noch zu schlecht seid, oder warum?" - "Nein, schlecht sind wir überhaupt, nein nein, wir sind total gut, eine echte Super-Band. Aber wir sind eben noch in der Testphase. Das verstehst du doch, oder?" - "Also ." - "Ihr könnt dann ja beim nächsten Mal kommen und was drüber schreiben." - "Wenn die Testphase abgeschlossen ist." - "Ja, genau, hihihi." - Plötzlich ist nur noch das Besetzt-Zeichen zu hören; der Popredakteur nutzt die Gelegenheit, um zur Bratpfanne zu eilen, wo er das bereits leicht angebrannte Tofuhacksteak wendet und mit ein wenig Olivenöl beträufelt. Das Telefon klingelt erneut. "Klingeling." - "Balzer." - "Ja, hallo Jens, hier ist noch mal die Sandra Grether, ich bin eben aus Versehen auf den Aus-Knopf gekommen." - "Oh." - "Also, ich wollte noch mal sagen, wegen dem Konzert ." - "Ich hab schon verstanden: Ihr wollt nicht, dass da jemand was drüber schreibt, weil ihr noch in der Testphase seid." - "Ja, hihihi." - "Schade, denn die Leser der Berliner Zeitung interessieren sich sicher brennend für Doctorella." - "Ich hoffe, du kommst jetzt nicht in Schwierigkeiten deswegen." - "Unser Chefredakteur ist bestimmt sauer." - "Oh." - Ach, weißt du was, ich werde stattdessen einfach einen Konzertbericht von den Smashing Pumpkins bringen." - "Ja, Smashing Pumpkins, hihihi." - "Auch eine total gute Band." - "Wir sind ja auch total gut." - "Aber eben noch in der Testphase." - "Genau, das verstehst du doch." - "Sandra, vielen Dank für Deinen Anruf." - "Ja, danke Jens, tschüss dann."
Berliner Zeitung, 27.02.2008

Jagd im Nebel (Tagesspiegel)

Jagd im Nebel
Alexander Litwinenko: Sein ungeklärter Tod wird Putin nachhängen, er wird Medwedew ins Amt begleiten – und das, obwohl nun Spuren öffentlich geworden sind, die nicht mehr allein nach Moskau führen. Aber wieder führen sie zu einem alten Bekannten: Andrej Lugowoj. Begegnung mit einem mutmaßlichen Mörder
Von Jens Mühling, Moskau/London 27.2.2008

Als alles gesagt ist, beugt sich Andrej Lugowoj noch einmal über den Schreibtisch, seine Augen funkeln, sein Atem riecht nach Minze und männlichem Selbstbewusstsein. „Alle reden von einem neuen Kalten Krieg“, sagt er leise. „Aber neu ist daran nichts. Er hat nie geendet, der Kalte Krieg.“ Ein düsteres Lächeln, und die Audienz mit dem Mann, der Alexander Litwinenkos Mörder sein könnte, ist beendet.

Moskau. Ein Wintertag kurz vor den Präsidentschaftswahlen. Sie strotzt vor Selbstbewusstsein, diese Stadt, sie hat sich in Schale geworfen, sie trägt weiß, blau und rot, die russischen Nationalfarben. Symbole der Stärke, wohin man auch blickt, gigantische Baustellen, triumphale Neubauten, deren Fronten hinter Wahlplakaten verschwinden. Sie bäumt sich auf, diese Zwölf-Millionen-Metropole, ihr Antlitz funkelt, ihr Atem riecht nach Staub und nach Stolz. Wir sind wieder wer, sagt diese Hauptstadt, sie sagt es für das ganze Land: Wir sind wieder da.

Ein paar Tage noch, dann will Wladimir Putin das Präsidentenamt abgeben an seinen auserkorenen Nachfolger Dmitri Medwedew, die Wahlplakate versprechen einen geordneten Wachwechsel. Und obwohl sich dieser Medwedew derzeit überall als umgänglicher Mann präsentiert, dürfte sich wenig ändern an der harten Interessenpolitik dieses neu erstarkten Staates, der so viel Gefallen gefunden hat an der Konfrontation mit dem Westen. Da war der Gaskrieg mit der Ukraine. Der Konflikt um die US-Raketenabwehr. Putins Drohrede in München. Und nicht zuletzt war da ein Mordfall, der das Klima zwischen Russland und dem Westen so nachhaltig ramponierte, dass manche von einem neuen Kalten Krieg zu sprechen begannen.

Alexander Litwinenko. Die halbe Welt kennt den Namen des abtrünnigen russischen Geheimdienstlers, der am 23. November 2006 im Londoner Exil starb. Sein ungeklärter Tod wird Putin nachhängen, er wird Medwedew ins Amt begleiten, er wird den Westen weiter um den richtigen Umgang mit Russland rätseln lassen. Es mag ruhiger geworden sein um den Mordfall, doch hinter den Kulissen wird weiter gerungen. Kurz vor seinem Tod war Litwinenko eingebürgert worden, ein Brite also war ermordet worden, mitten in London, mit einem radioaktiven Gift, Polonium, das Spuren in der halben Stadt hinterließ. Spuren, die die britischen Behörden bald zu einem Verdächtigen führten, den Moskau nicht auslieferte, weil es die Landesverfassung verbot. Vier russische Diplomaten wies London daraufhin aus, vier Briten mussten Moskau verlassen, die Engländer erschwerten die Visavergabe für Russen, der Kreml schloss Filialen des britischen Kulturinstituts British Council. Die Affäre ist nicht ausgestanden, sagt London bis heute. Nicht, solange der Täter frei herumläuft.

Der mutmaßliche Täter aber läuft nicht nur frei herum, er ist inzwischen sogar Abgeordneter der russischen Staatsduma und damit immun gegen Strafverfolgung. In Moskau geht er ungehindert seiner Arbeit nach, er betreibt eine Personenschutzagentur, deren Büro in einem Vier-Sterne-Hotel mit Blick auf die Moskwa liegt. Und hier empfängt der Mann, der Litwinenko Gift in den Tee geschüttet haben soll, mitunter sogar Gäste.

Ein stummes Nicken. Kein Lächeln. Kein Tee. Andrej Lugowoj, ein ehemaliger Personenschützer des russischen Geheimdiensts, ist ein schmaler, aber äußerst durchtrainierter Mann Anfang 40, dessen konzentrierter Blick nicht eine Sekunde vom Gesprächspartner ablässt. Die Gratulation zum Wahlsieg quittiert er mit einem Nicken, die Frage nach seinem Tätigkeitsfeld in der Duma mit knappen Auskünften: Sicherheit und Wirtschaft, wie es sein Hintergrund nahelege. In der Tat hat Lugowoj in Russland einen gewissen Ruf als Geschäftsmann: Zu seinen Kunden soll die halbe Moskauer Wirtschaftselite zählen, sein Dollarvermögen siedeln russische Medien im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich an.

Bei der Frage, warum er ausgerechnet für die Partei des Ultranationalisten Wladimir Schirinowski kandidiert habe, muss Lugowoj lächeln. „Weil ich wie Schirinowski für ein starkes Russland bin“, sagt er. Aus dem Lächeln wird ein Grinsen: „Für ein Russland, das seine Feinde kennt.“ Und plötzlich wechselt Lugowoj Tempo und Lautstärke, in atemlosem Russisch feuert er eine Anklagerede heraus: Russlands Feind sei Großbritannien, London wünsche Moskau die Pest an den Hals, man müsse sich bloß die britisch-russische Geschichte ansehen, Feindschaft seit 150 Jahren: Mit dem Krimkrieg habe es begonnen, und der vorläufige Höhepunkt sei die Provokation, die sich mit seinem, mit Lugowojs Namen verbinde: „Die Litwinenko-Affäre ist der zynische Versuch, Russland als Staat zu diskreditieren.“

Er selbst, sagt Lugowoj, habe Litwinenko Ende der 90er Jahre kennengelernt, flüchtig, im Umfeld des Oligarchen Boris Beresowski. Natürlich habe er gewusst, mit wem er es zu tun hatte: Alexander Litwinenko, der berühmte Geheimdienst-Renegat, der 1998 in Moskau öffentlich verkündet hatte, ebenjener Geheimdienst, der FSB, wolle Beresowski ermorden. Dann war er nach England geflohen, ein Jahr vor Beresowski. Aus dem Exil heraus schrieben beide dem FSB die Terroranschläge zu, mit denen 1999 der zweite Tschetschenienkrieg rechtfertigt worden war, Litwinenko schrieb ein ganzes Buch darüber. Litwinenko, der Verräter. Jeder Geheimdienstler in Russland kannte seinen Namen. Sein Konterfei soll bei FSB-Schießübungen als Zielscheibe benutzt worden sein.

Enger bekannt, sagt Lugowoj, sei er mit Litwinenko nie gewesen, sie hätten sich immer gesiezt, er habe ihn nie gemocht. Dann aber, im November 2005, habe Litwinenko ihm einen Geschäftskontakt zu einer britischen Firma vermitteln wollen. Schnell habe sich herausgestellt, worum es ihm wirklich ging: „Er brachte mich mit britischen Agenten in Kontakt, die mich anwerben wollten. Sie spekulierten auf Informationen über meine Kunden. Litwinenko hoffte, dass der Kontakt zu mir sein Ansehen bei den Briten steigern würde. Er hatte ja nichts mehr zu verkaufen, sein Wissen über den FSB war abgeschöpft, seine Verschwörungstheorien nahm niemand mehr ernst.“

Den angeblichen Werbeversuch kommentieren die britischen Behörden genausowenig wie das Gerücht, Litwinenko habe für einen ihrer Geheimdienste gearbeitet. Die britische „Daily Mail“ immerhin schrieb im Oktober 2007 unter Berufung auf ungenannte Quellen: „Litwinenko war ein bezahlter MI 6-Agent“.

Die Schuld an Litwinenkos Tod streitet Lugowoj ab. „Warum hätte ich das tun sollen?“ Er sei mit seiner Frau und drei Kindern in London gewesen, auch bei ihnen seien Poloniumspuren festgestellt worden. „Die Engländer haben uns nicht einmal über Litwinenkos Vergiftung informiert, obwohl sie wussten, dass ich mit ihm zusammen war. Sie haben das Leben meiner Familie aufs Spiel gesetzt, und jetzt wollen sie mir den Mord anhängen.“ Warum gerade ihm? „Ich gab die perfekte Figur ab: ein Ex-KGB-Mitarbeiter, der unter Jelzin im Knast saß und heute Bodyguards für die russische Elite stellt – besser geht’s doch nicht!“ Seine eigene Theorie zu Litwinenkos Tod? „Entweder, er hat mit Polonium gedealt und sich selbst vergiftet. Oder Beresowski steckt dahinter. Er hasst Putin, er prahlt ständig damit, wie viel Geld er verschleudert hat, um Putin zu schaden. Wenn jemand von Litwinenkos Tod profitiert hat, dann er. Und die Briten haben sich bereitwillig einspannen lassen.“

Es ist die Version, die auch in den russischen Medien präsentiert wurde: Man will Putin einen Mord anhängen, die Hintermänner sind Russlands Feinde im Ausland, der Kalte Krieg ist nicht vorbei. Bei genau diesen düsteren Abschlussworten ist jetzt auch Lugowoj angekommen, und als er sie ausspricht, erinnert sein ganzes gereiztes Verteidigungsgebaren plötzlich enorm an jenen Wladimir Putin, der kurz nach Litwinenkos Tod mit gepresster Stimme der Presse verkündete: „Es ist höchst bedauerlich, dass ein tragisches Ereignis wie der Tod eines Menschen als politische Provokation benutzt wird.“

Berlin. Ein Herbsttag im vergangenen Jahr. „Für Putin war Litwinenko ein Terrorist“, sagt Alex Goldfarb. „Und der Geheimdienst hat Weisung, Terroristen notfalls auch im Ausland auszuschalten.“ Goldfarb, ein bärtiger Mittfünfziger, ist ein enger Mitarbeiter Boris Beresowskis, der in London einen großen Kreis russischer Regimegegner um sich geschart hat: die „Londoner Gruppe“, zu der einst auch Litwinenko gehörte. Goldfarb war es, der unmittelbar nach Litwinenkos Tod dessen letzte Worte verlas, vor dem Krankenhaus, umringt von Journalisten: „Es mag Ihnen gelingen, einen Menschen zum Schweigen zu bringen“, hieß es darin. „Mister Putin, möge Gott Ihnen vergeben, was Sie getan haben.“ Worte, die sich auch in dem Buch wiederfinden, das Goldfarb über Litwinenko geschrieben hat, zusammen mit dessen Witwe. Marina Litwinenko ist mitgekommen zur Buchvorstellung nach Berlin, eine zierliche Frau mit gefasstem Blick, die bereitwillig über das Leben mit ihrem ungewöhnlichen Ehemann spricht.

Ungewöhnlich war es in der Tat, was Litwinenko über Putin und den FSB zu wissen glaubte. Er behauptete, es gebe Videos von Putin beim Sex mit kleinen Jungen. Er behauptete, EU-Kommissionspräsident Romano Prodi stehe mit dem FSB in Verbindung. Er behauptete, der russische Geheimdienst habe bei den Anschlägen des 11. September mitgemischt und den dänischen Karikaturenstreit entfacht. „Sascha war ein gefühlsgeleiteter Mensch, er war nicht immer rational“, sagt Marina. Andererseits, fällt Goldfarb ihr ins Wort, hätte wohl auch niemand Litwinenko geglaubt, wenn er behauptet hätte, man wolle ihn mitten in London radioaktiv verstrahlen. „Alle hätten ihn für verrückt erklärt. Passiert ist es trotzdem.“

Marina und Goldfarb müssen weiter, nach Washington, wo sie vor Putins Staatsbesuch einige Medienauftritte geplant haben. Letzte Frage an Goldfarb: Frustriert es ihn und Beresowski nicht, dass ihre Bemühungen beim Aufbau einer innerrussischen Opposition nie gefruchtet haben? Goldfarb lächelt. Ja, sagt er, sie hätten eingesehen, dass auf diesem Wege kein Regimewechsel machbar sei. Wichtiger sei ihnen heute, den Westen gegen Putin einzunehmen – und das sei gelungen: „Die gesamte westliche Presse“, sagt Goldfarb, „schreibt inzwischen das Gleiche über Putin, und wer anders schreibt, wird schräg angesehen.“

Was den Litwinenko-Fall betrifft, hat Goldfarb damit Recht. Unmittelbar nach dem Mord stand für die westliche Öffentlichkeit fest, dass Litwinenko wegen seiner Kritik an Putin beseitigt worden war. Inzwischen kratzt einiges an diesem Bild.

Während die britischen Behörden nach wie vor Stillschweigen über ihre Ermittlungen wahren, erhielt der britische „Guardian“ im Januar Einblick in ein Litwinenko-Dossier der italienischen Polizei. Litwinenko war demnach italienischen Ermittlern aufgefallen, weil er 2003 für die so genannte Mitrochin-Kommission zu arbeiten begann. Offiziell sollte das von Silvio Berlusconi eingesetzte Parlamentsgremium Verbindungen italienischer Politiker zum russischen Geheimdienst aufdecken – in Wirklichkeit aber lancierte die Kommission dem Polizeidossier zufolge Schmutzkampagnen gegen Berlusconis Gegner. In einem von der Polizei mitgeschnittenen Telefonat gab der Vorsitzende des Gremiums offen zu, erklärtes Ziel sei die Diskreditierung Romano Prodis und anderer Politiker durch erfundene FSB-Kontakte. Wenig später ging Litwinenko mit der Behauptung an die Öffentlichkeit, einer seiner FSB-Kontaktleute habe Prodi als „unseren Mann in Italien“ bezeichnet.

Als zentrale Figur agierte in der Kommission ein Italiener namens Mario Scaramella – jener Scaramella, mit dem Litwinenko am Tag seiner Vergiftung in London Sushi aß. Der Polizeiakte zufolge sollen er und Litwinenko sich seit 2004 monatlich in Italien getroffen und sich dabei gefährliche Feinde gemacht haben – auf der Suche nach belastenden Informationen gingen sie auch russisch-italienischen Mafiaverbindungen nach.

Im Oktober 2005 alarmierten Scaramella und Litwinenko die italienische Polizei: Die russische Mafia, erklärten sie, plane ihre Ermordung. Die Details des Plans waren bizarr: Scaramellas Aussage zufolge sollte ein ukrainischer Lieferwagen in Bibeln versteckte Handgranaten nach Italien schmuggeln. Die Polizei stellte tatsächlich einen solchen Lieferwagen sicher, die Beamten wurden jedoch misstrauisch, als sie den angeblichen Empfänger des Wagens verhörten, einen in Neapel lebenden Ex-KGB-Mitarbeiter namens Alexander Talik. Der stritt alles ab – und erklärte, Scaramella habe ihn zuvor zur Mitarbeit in der Mitrochin-Kommission zwingen wollen. Scaramella geriet daraufhin in Verdacht, das Mordkomplott erfunden und die Granaten selbst nach Italien geschmuggelt zu haben. Im Dezember 2006, unmittelbar nach seinem letzten Treffen mit Litwinenko, wurde er in Italien verhaftet. Bis heute läuft gegen ihn ein Verfahren.

Litwinenko wurde den Ermittlungen der Italiener zufolge kurz vor seinem Tod vor einem weiteren Mordkomplott gegen ihn und Scaramella gewarnt – und Alexander Talik, der angebliche Empfänger des Bibel-Lieferwagens, soll Beziehungen zu Andrej Lugowoj in Moskau unterhalten.

Die britischen Ermittler dürften von dieser italienischen Querverbindung wissen. Sollte sich eines Tages herausstellen, dass ihre Beweisspur gegen Lugowoj nach Italien führt und nicht in Richtung Kreml, könnte die britische Regierung mit der Frage konfrontiert sein, warum Litwinenkos Tod so unmissverständlich dem russischen Regime angelastet wurde.

London. Ein milder Wintertag. Der Mann, den viele für den Kalten Krieg verantwortlich machen, liegt auf dem Highgate-Friedhof begraben. Manchmal fragen Touristen nach ihm, viele lassen sich vor der Marmorbüste fotografieren, die über seinem Grab thront. „Sieh mal“, sagt ein russischer Tourist zu seiner Tochter, „das ist der Mann, der unser Land ruiniert hat.“ Das Mädchen starrt ängstlich auf den wallenden Marmorbart. Es ist das Grab von Karl Marx.

Der Mann, mit dessen Tod der neue Kalte Krieg begann, liegt 500 Meter weiter begraben, im älteren, öffentlich nicht zugänglichen Teil des Friedhofs. Touristen, die nach seinem Grab fragen, werden höflich abgewiesen. Wer eine Führung bucht, bemerkt höchstens zufällig eine unscheinbare Grabstelle, die kein Stein ziert und kein Name, nur ein kleines, gerahmtes Foto. Der Mann auf dem Bild ist etwa 40 Jahre alt, er blickt ernst, fast anklagend in die Kamera. Kaum jemand würde auf diesem Bild Alexander Litwinenko erkennen, in Erinnerung ist eher das Foto, das vor seinem Tod im Krankenhaus entstand. Blass, erschöpft und kahlköpfig war Litwinenko da. Allein sein Blick war immer noch derselbe. Der Blick eines furchtlosen Streiters. Oder eines bedauernswerten Spinners. Unmöglich zu sagen, wie die Welt diesen Mann im Gedächtnis behalten wird. (Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 27.02.2008)

Wednesday, February 27, 2008

Aufschwung mit aller Macht (frankfurter rundschau)

Putins Russland
Aufschwung mit aller Macht
VON MARK OBERT

In Strelna, vor den Toren Sankt Petersburgs, protzt und prunkt weithin sichtbar die Residenz des Präsidenten, Wladimir Putins Geschenk an sich selbst. Geschätzte 300 Millionen Euro hat die Renovierung des maroden Konstantinpalasts verschlungen; nicht wenige Russen befürchteten damals, der Ex-KGB-Chef mit der wundersamen Blitzkarriere sei in Selbstherrlichkeit verfallen, schneller noch als die eitelsten Kremlführer vor ihm, von den Zaren ganz zu schweigen. Putins Gegner sehen in dem Palast bis heute das offensichtliche Symbol dafür, Putins Anhänger erkennen in ihm einen Kraftausdruck des wiedererstarkten, selbstbewussten Russlands.

Vor zehn Jahren, als sich die Amtszeit Boris Jelzins dem Ende zuneigte, meldete Russland Bankrott. Der Rubel war ins Bodenlose gefallen, die Banken waren pleite, der Staat war zahlungsunfähig, das Volk verzweifelt. Nun, nach acht Jahren Putin, ist der Lebensstandard höher denn je, auch der der kleinen Leute.

Putin kennt seinen Dostojewskij, sagt unsere Cousine Anna, Ärztin aus Petersburg. "Arme Leute" und so weiter. Sie schätzt Putin, Sympathie wäre ein zu großes Wort, lokalpatriotische Verbundenheit, das trifft es eher. Er stammt ja auch aus Leningrad, hatte eine schwere Kindheit, Vollwaise - und das in den 50er Jahren, als die von den Moskauer Zentralisten vernachlässigte Nordmetropole im künstlichen Koma lag.

Unweit vom Präsidentenpalast, auf der anderen Seite der Landstraße zu den Stränden des Finnischen Meerbusens, wo man am Wochenende baden geht, an schwertlangen Spießen sein Schaschlik grillt und die Wälder vollmüllt, pflanzen sie zurzeit wie in der Peripherie bald jeder großen Stadt kreuz und quer Reihenhaussiedlungen hin; der wachsende Mittelstand will adäquat leben.

Wenn die Bagger zur nächsten Großbaustelle weiter gezogen sein werden, wird drumherum ein hoher Zaun errichtet, werden die Wachmänner jeden ins Visier nehmen, der durchs Eisentor will. Dann werden auch dort die hochsensiblen Alarmanlagen der Mittelklassewagen bei jedem Katzenkontakt die Nachtruhe stören, wie heute schon in den abgeriegelten Hochhausvierteln mit den aufwendig renovierten Zwei-Zimmer-Wohnungen in Toplage.


Die Russen haben im vergangenen Jahr mehr Mittelklassewagen angemeldet als die Deutschen, und, um die Kleinfamilie komplett zu machen, so viele Kinder gezeugt wie seit 15 Jahren nicht mehr. In der Ära Jelzin, dem ersten Präsidenten der postsowjetischen Föderation, sank die Geburtenrate stetig. Es gibt Russen, die all das nicht für Zufall halten. Arbeitsverträge mit Kündigungsfrist, mehr Kindergeld, bessere Gesundheitsversorgung führen sie angesichts unaufhörlicher Kritik aus dem Ausland mit trotzigem Stolz ins Feld. Westliche Standards, man ist ja nicht kühn, sind noch Utopie. Aber man kann ein bisschen planen. Der Aufschwung, 7,7 Prozent stetes Wirtschaftswachstum, ist spürbar. Sie sind nicht euphorisch, aber sie haben die große Depression überwunden: die Schichten, die in den anfangs verheißungsvollen 90er Jahren des Turbokapitalismus' abgehängt worden waren.

80 Prozent Zustimmung für den Staatschef, nach acht Jahren an der Macht, wann hat es das je in Russland gegeben? Selbst auf Michail Gorbatschow, den Architekten von Glasnost und Perestroika, ist die Mehrheit nicht gut zu sprechen. Minister Mineral nannten sie ihn Ende der 80er Jahre spöttisch. Den Wodka hat er ihnen verboten, mehr Offenheit hat er ihnen versprochen, und dann, als alle sehnsüchtig warteten, schien er zu kraftlos, zu wankelmütig für den organisierten Wandel.

"Ach was", raunt Freund Dimi beim Schaschlik am Meerbusen, "feige und faul war er, hat sich im Westen lieber feiern lassen, anstatt seiner Pflicht nachzukommen." Dimi ist 34 und spricht typisch für seine Generation. Nach wie vor schwingt da auch jene Sowjet-Nostalgie mit, die Putin nährt, sei es mit dem Personenkult zu seinen Ehren, den er mit koketter Bescheidenheit würdigt, sei es mit der Entscheidung, die Melodie der alten Hymne, der zweifelsfrei schönen, wieder einzuführen.

Dimis Nostalgie basiert auf früher Prägung. Sein Jungpionier-Dasein war gelenkt und sorgenfrei, die Eltern waren nicht ausgelaugt vom schier vergeblichen Existenzkampf. Man musste sich bloß raushalten, darin ist man ja geübt - oder halt in die Küche gehen.

Küchengespräche hießen die konspirativen Treffen der Dissidenten, die die Verbannung riskierten, weil sie das kommunistische Regime, das dahinsiechte wie seine greisen Despoten, nicht ertragen wollten.

Heute mäkelt selbst Alexander Solschenizyn, der Dissident mit Literaturnobelpreis und Exilantenbiografie, an Gorbatschow herum. Auch der Panslawist Solschenizyn ist ungerecht, auch er verzeiht Gorbatschow Jelzin nicht. Auch er lobt Putin um so mehr. Wie so viele. So wie Dimi. Der hat seit vier Jahren einen festen Job, das Gehalt kommt so pünktlich wie die Rente von Babuschka. 80 Prozent für Putin, unglaublich. Ein Institut in Moskau hat die Umfrage vorgenommen, eines unter staatlicher Kontrolle.

Putin beherrscht alles und jeden, notfalls mit Gewalt, sagen seine Gegner. Für sie steht außer Frage: Wenn die tschekistische Miliz Demonstranten niederprügelt, kam der Befehl direkt von Putin. Die tödliche Polonium-Attacke gegen den abtrünnigen KGB-Agenten Litwinenko in London: Putins Rache. Als die Journalistin Anna Politkowskaja vor ihrer Wohnung erschossen wurde, richteten sich alle Augen auf Putin.

Mittlerweile hat sich der Verdacht verbreitet, dass der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow hinter dem Attentat steckt. 31 ist er erst, frönt seiner Großmannssucht und lässt seine Privatarmee in Grosny Angst und Schrecken verbreiten. Präsident von Putins Gnaden ist er, als solcher Garant für einen trügerischen Frieden in Tschetschenien.

So gesehen könnte man Putin die Mitschuld am Politkowskaja-Mord unterstellen, an den Massakern, die seine Armee im Moskauer Musicaltheater Nord-Ost und in der Grundschule von Beslan angerichtet hat, ohnehin. Hunderte von Geiseln wurden geopfert, um die tschetschenischen Geiselnehmer zu töten.

Es war nach Tragödien wie diesen immer auch diese Gesichtsstarre Putins, dieser unangemessen teilnahmslose Blick, die besonders im Westen Konspirationsphantasien beflügelten, die man - bezogen auf die USA - als Verschwörungstheorien abtun würde. 1999, Ex-Geheimdienstchef Putin war gerade Ministerpräsident in der Jelzin-Regierung geworden, wurden zwei Wohnhochhäuser in Moskau Ziel eines Bombenanschlags mit zahllosen Toten. Bis heute wird in unseren Medien wie selbstverständlich der Verdacht geäußert, Putins Geheimdienstschergen hätten die Tat begangen, um die Bevölkerung moralisch zu mobilisieren für eine härtere Gangart gegen tschetschenische Terroristen. Es gibt dafür nicht mal Indizien.

Putins Kritiker widersprechen Theorien vom allmächtigen Kremlherrscher schon lange: Putin würde gerne alles beherrschen, sagen sie. In Wahrheit gehe längst nicht mehr alle Gewalt von ihm aus. Seine gierigen Seilschaften verselbstständigten sich, seine eiserne Machtvertikale sei längst in Schieflage geraten.

Handfest belegen lässt sich unterhalb der sichtbaren Verfehlungen auch das so wenig wie Gerhard Schröders legendäres Urteil, sein Freund Wladimir sei ein "lupenreiner Demokrat". Für Normalsterbliche blieb Putins System uneinsehbar, die Informationsdemokratie fern, die Bilanz der gemäßigten Kritiker entsprechend vage. "Die Unkalkulierbarkeit ist die Konstante in Putins Autokratie", sagt eine Politologin aus Moskau. "Die Stabilität des Staates ist ein Mythos", sagt ein Wirtschaftswissenschaftler aus Petersburg.

So redet man in Russland übrigens nicht hinter vorgehaltener Hand. Zweifel an Putins Kompetenz, Gesinnung und Integrität sind ständig Anlass auch öffentlicher Debatten, ob im Radioprogramm von Echo Moskau, das dem staatlichen Gas-Giganten Gazprom gehört, ob in den unabhängigen, mangels Leserinteresse auflagenschwachen Zeitungen wie der Nowaja Gazeta.

Hin und wieder und selbstverständlich viel zu selten kommen Oppositionelle im sonst propagandistischen Staats-TV zu Wort. "In Russland ist nichts unzensiert." Der Satz, allein schon angesichts unermüdlich bloggender Dissidenten absurd, stand dieser Tage in einer deutschen Zeitung. Dass man ungeachtet dessen nur seinen Hut ziehen kann vor unbeugsamen Rechercheuren, ist Ehrensache. Denn wehe dem, der tatsächlich mal ein Dokument in den Händen hält, das die Selbstbedienungsmentalität in Politik und staatlicher Wirtschaft entlarvt.

Schließlich überwacht der Geheimdienst FSB, dessen obere Etagen von Vertrauten Putins aus alten Tagen besetzt sind, das Internet mit großem Aufwand. Dass er Redaktionen unterwandert und unter Druck setzt, ist bekannt. Dass er in alle Richtungen spitzelt, gilt in Russland nach wie vor als Gratisverdacht, und wer überhaupt Intrige und Verrat hinter den Mauern des Kreml nicht voraussetzt, als naiv.

Institutionen vertrauen Russen grundsätzlich nicht. In Jahrhunderten der Unterdrückung und Bevormundung haben sich Misstrauen und Fatalismus als Konstanten in der Mentalitätsgeschichte genauso festgesetzt wie Willkür und Korruption im Beamtenapparat. Gängeleien auf dem Amt sind noch das geringste Übel. Hast du nur ein Feld des Formulars vergessen auszufüllen, befehlen sie dich wieder ans Ende der Schlange. Staatsdiener? Bürgernähe? Lachhaft, mindestens bis zur nächsten Generation. Allein daran mag man ermessen, wie steinig und lang der Weg zu einer Demokratie nach westlichen Maßstäben sein wird.

Nachdem Boris Jelzin im April vergangenen Jahres gestorben war, verabschiedete mancher Nekrolog in Deutschland einen großen Demokraten. Von Aufbruchstimmung unter Jelzin war die Rede, vom kühnen Experiment mit Pluralismus, Rechtssicherheit und Pressefreiheit. Zwölf Journalisten sind in der Ära Putin ermordet worden, der Tod der großartigen Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006, an Putins 54. Geburtstag, hat weltweit für Empörung gesorgt. Endlich. In der Ära Jelzin sind mehr als 200 Journalisten umgebracht worden, meistens blieben die Auftraggeber im Dunkeln.

Damals tyrannisierte das Recht des Stärkeren die Russen. Und die Stärksten wollten viele sein. Regionale Mafiabanden kontrollierten die lokalen Märkte und erpressten mittelständische Investoren. Die Oligarchen rissen sich mit ihren dubiosen Beteiligungsfirmen die Bodenschätze unter den Nagel. Jelzins so genannte Familie, ein von den Oligarchen Roman Abramowitsch und Boris Beresowskij unterstützter Kreis aus Verwandten und Freunden des Präsidenten, drückte zwei Augen zu und drohte unverhohlen - und vielleicht tatsächlich weniger subtil als die Regierung heute - jedem, der ihm in die Quere kam.

Es waren die Oligarchen, die Jelzins Wahlkampf vor seiner zweiten Amtszeit finanziert hatten und dafür freie Hand erhielten für Steuerhinterziehung in gigantischem Umfang. Boris Beresowskij war es auch, der den vermeintlich loyalen Putin als kommenden Präsidenten vorschlug und im eigenen TV-Sender aufbaute.

Am 31. Dezember 1999 dann trat Jelzin zurück und übergab Putin sein Amt, freilich nicht, ohne sich eine Generalamnestie zusichern zu lassen. Die Oligarchen waren zufrieden, ihre Partner, die Ölmultis im Westen, frohlockten. Der Weg zu Russlands Rohstoffen schien frei zu sein.

Heute lebt Beresowskij im Exil in England, sein Protegé Putin hat ihn strafverfolgen lassen, wegen Bestechung und Steuerhinterziehung. Abramowitsch verkaufte seine einst dem Staat abgetrotzten Firmen zurück, um der Anklage zu entgehen.

Einzig Michail Chodorkowskij, der Milliardär mit Sendungsbewusstsein, begehrte auf, prangerte Korruption und Rechtsbeugung an. Anderthalb Jahre später war er wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden, neuneinhalb Jahre in Sibirien. Sein Erdölkonzern Yukos, den er für 300 Millionen Euro erworben hatte und für eine Milliardensumme an US-Firmen zu verkaufen drohte, meldete Konkurs an. Der Staat hatte die Rohstoffe zurückerlangt; Putins Popularität stieg so rasant, wie der Argwohn im Westen wuchs.

Von Demokratie wird man nicht satt, sagen die kleinen Leute in Russland auch in diesen Tagen, da die große Bilanz gezogen wird, die gar keine ist, weil Putin als Ministerpräsident nicht alle Fäden aus der Hand geben wird. Mag es auch sein, dass er vom gestiegenen Ölpreis profitiert hat, "wir haben es auch", sagt Cousine Anna. In seinem persönlichen Resümee vergangene Woche hat sich Putin denn auch einmal mehr als Diener der Unterschichten inszeniert, als "Sklave des Staates". Bürokratismus und Korruption seien nicht hinreichend bekämpft worden, schon gar nicht die Armut.

Nach ihm trat der Mann vor die Presse, der bald nach den Wahlen in den prächtigen Konstantinpalast vor den Toren Petersburgs ziehen wird: Dimitrij Medwedew, 42, Vize-Ministerpräsident, Gazprom-Vorstand, Präsidentschaftskandidat der Putin-Partei Einiges Russland - eine Marionette, wie seine Gegenkandidaten sagen.

Und dann dies: Mehr Freiheit, mehr Rechtssicherheit, mehr Demokratie versprach Medwedew - und betonte auf diese Weise den großen Makel, den die Mehrheit der Russen Putin nie und nimmer anlasten würde. Denn was wäre die Alternative gewesen? Vor allem: wer? Die Frage kommt ja immer. Russen sind pragmatisch, aus leidvoller Erfahrung, manchmal auch aus mangelnder.

Als Medwedew sprach, blickten viele auf Wladimir Putin. Er verzog keine Miene.

Monday, February 11, 2008

Das Ebay-Embargo (Berliner Zeitung)

Das Ebay-Embargo
Das Online-Auktionshaus ändert sein Bewertungssystem, deutsche Händler wollen nun streiken
Jakob Schlandt

BERLIN. Die Sprüche sind markig: "Ebay macht mich krank. Wir werden es ihnen mit dem Embargo zeigen!", kündigt ein Nutzer in einem Diskussionsforum an. In genau einer Woche weiß Ebay, das größte Online-Auktionshaus der Welt, wie ernst es die enttäuschten Kunden meinen. Dann wird sich herausstellen, wie viele Händler tatsächlich einem Boykottaufruf folgen, der seit einigen Wochen im US-Ebay-Forum kursiert: Mehr als 5 000 Nutzer haben sich schon eingetragen in die Liste jener Verkäufer, die vom 18. bis zum 25. Februar keine Waren über das Portal anbieten wollen.

Rache ist nicht mehr süß

In den vergangenen Tagen schwappte die digitale Protestwelle auch nach Deutschland über, den zweitwichtigsten Ebay-Markt. Eine Auswertung der wichtigsten Diskussionsforen zum Thema Ebay ergab: Nun kursieren auch in deutschen Diskussionsforen zahlreiche Streikaufrufe. Dem US-Unternehmen, dessen Börsenkurs zuletzt stagnierte, drohen damit schmerzhafte Umsatzeinbußen.

Grund für die Aufregung in der Ebay-Gemeinde ist ein neues Bewertungssystem, das in Deutschland voraussichtlich im Juni und in den USA einen Monat früher eingeführt werden soll. Es hebt eine eherne Ebay-Regel auf: Die Waffengleichheit zwischen Verkäufer und Käufer. Wer Ware anbietet, hatte bisher, genau wie der Käufer, die Möglichkeit, in den Wochen nach der Versteigerung eine Bewertung (positiv, negativ, neutral) über den Ebay-Geschäftspartner abzugeben. Doch in Zukunft sollen Verkäufer nur noch positive Urteile über Käufer abgeben können.

Ebay rüttelt damit zum ersten Mal seit seiner Gründung im Jahr 1995 an den fundamentalen Grundprinzipien, die die Seite so erfolgreich gemacht haben, dass sie bei Internet-Auktionen in den USA und Deutschland sowie zahlreichen anderen Ländern quasi ein Monopol mit Milliardenumsätzen genießt.

Wer viele rote Negativ-Einschätzungen in seinem Nutzerprofil aufweist, der muss damit rechnen, nichts mehr an den Mann bringen zu können oder zumindest deutlich billiger - quasi mit Risikoprämie - verkaufen zu müssen. Das gleiche Misstrauen bringt die Ebay-Käuferschaft jenen entgegen, die erst sehr wenige Transaktionen aufweisen können. Deshalb nützt es Sündern mit vielen Rot-Einträgen wenig, sich unter anderem Namen anzumelden. Das System funktionierte lange recht gut als natürliches Regulativ.

Doch in den vergangenen Jahren ist das Ebay-Ökosystem immer mehr aus dem Gleichgewicht geraten. Hauptproblem wurde, dass das Bewertungssystem immer stärker von den Verkäufern missbraucht wurde. Über sogenannte Rachebewertungen wurden viele Privatnutzer vor allem von den "Powersellern", den Großhändlern bei Ebay, erpresst.

Schrieben die kleinen Ebay-Kunden eine negative Bewertung über den Händler, etwa weil dieser das neue Handy gar nicht oder zu spät lieferte, drohten dieser dem Käufer seinerseits mit einer Negativ-Bewertung, auch wenn dafür kein Grund vorlag. Viele knickten ob der Drohung ein und zogen ihre Negativ-Einschätzung zurück.

Zahlreiche Verkäufer sind nun stocksauer, sie fürchten, in Zukunft von den Käufern mit unzulässigen Nachverhandlungen und schlechter Zahlungsmoral malträtiert zu werden, weil sie ohne Reaktionsmöglichkeit mit schlechten Bewertungen unter Druck gesetzt werden können. Unter dem Namen mausi3003 schreibt ein deutscher Powerseller, der angibt, pro Jahr rund 65 000 Artikel über Ebay zu vertreiben und mehr als eine Viertelmillion Euro pro Jahr zu überweisen: "Die Kunden zahlen nicht und bewerten dann auch noch negativ, und wir können uns nicht mehr wehren, ohne uns. Wir werden uns dem Boykott vom 18. bis 25 Februar anschließen und keine Ware mehr bei Ebay anbieten." Dutzende andere Powerseller haben ebenfalls angekündigt, beim Ebay-Streik mitzumachen. Die Rede ist vom "Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt" und der Notwendigkeit einer "roten Karte für die Diktatur".

Bei Ebay räumt man ein, dass das neue System auf Widerstand stößt: "Es gibt eine intensive Diskussion um das neue Bewertungssystem, das ist richtig", sagt Ebay-Deutschland-Sprecherin Maike Fuest. Trotzdem verteidigt sie den Schritt als "richtig, weil er das Vertrauen in das Bewertungssystem stärken wird. In den vergangenen Jahren hat sich das Problem der sogenannten Rachebewertungen immer weiter verschärft." Deshalb habe Ebay reagieren müssen, so Fuest. Die Wucht der Ablehnung hat das Unternehmen aber kalt erwischt: Heute wird in Berlin eine eilig anberaumte Pressekonferenz zu dem Thema stattfinden.

Beobachter deuten die Änderungen im Bewertungssystem vor allem als Zeichen der Schwäche. Holger Maaß, Geschäftsführer der Internet-Unternehmensberatung Fittkau & Maaß, sagt: "Eigentlich ist das neue Modell kein dramatischer Einschnitt. Aber die Aufregung zeigt, dass die Seite ein grundsätzliches Transparenz- und Vertrauensproblem hat. Die gefühlte Sicherheit wird für viele jetzt weiter sinken." Für Powerseller sei es eine immer attraktivere Alternative, einen eigenen Internet-Shop aufzumachen, der über Preisvergleichs-Seiten sein Publikum erreicht. Das Ebay-Geschäftsmodell sei an seine Grenzen gestoßen. "Im aktuellen Konflikt zeigt sich, wie schwierig es ist, Ansprüche von professionellen Händlern und den Flohmarktcharakter unter einen Hut zu bekommen", sagt Maaß.

Berliner Zeitung, 11.02.2008

Friday, February 08, 2008

Britain is slithering down (Guardian)

Britain is slithering down the road towards a police state
The pretence of oversight has been ripped aside by the Khan bugging affair: the security apparat has become a law unto itself
Simon Jenkins
Wednesday February 6, 2008The Guardian

The machine is out of control. Personal surveillance in Britain is so extensive that no democratic oversight is remotely plausible. Some 800 organisations, including the police, the revenue, local and central government, demanded (and almost always got) 253,000 intrusions on citizen privacy in the last recorded year, 2006. This is way beyond that of any other country in the free world.

The Sadiq Khan affair has killed stone dead the thesis, beloved of Tony Blair and Gordon Brown, that any accretion of power to the state is sustainable because ministers are in control. Whether this applies to phone tapping, bugging devices, ID cards, NHS records, childcare computer systems, video surveillance or detention without trial, it is simply a lie. Nobody can control this torrent of intrusion. Nobody can oversee a burst dam.

Khan, an MP and government whip, was allegedly targeted by the police for having been a "civil rights lawyer" and thus a nuisance, though the recording of his meetings with a constituent in prison was supposedly directed at the inmate. Either way, the bugging destroyed the "Wilson doctrine", that MPs cannot be bugged. It appears that they can if ministers, or the police, so decide.

Security machismo claims that in the "age of terrorism", real men bug everyone and everything. The former flying squad chief and BBC dial-a-quote, John O'Connor, implied this week that it would be negligent of the police not to bug anyone they - repeat they - thought a threat. The Blair thesis that "9/11 changes everything" has been a green light to every security consultant, surveillance salesman and Labour minister wanting to flex his - or her- muscles in the tabloids.
Years ago a lawyer gave me unassailable evidence that a call with a client had been tapped by the police and handed to the prosecution. Such tapping allegedly required a personal warrant from the home secretary who, when tackled on the subject, flatly denied it could have happened without his approval, which he would never give in such a case. I checked back with a police chief, who roared with laughter. "The home secretary is absolutely right. He must authorise all taps sent to him for authorisation. But not, of course, the rest." Orwell's cuttlefish were squirting ink.

The grim reality of the past week alone is that it has seen a substantial section of the British establishment allowing itself to believe that private dealings between lawyer and client, and between MP and constituent, should no longer be considered immune from state surveillance. A cardinal principle of a free democracy is thus coolly abandoned. It is not a victory for national security. It is a victory for terrorism.

The monitoring organisation Privacy International now gives Britain the worst record in Europe for such intrusion, indeed the worst among the so-called democratic world and on a par with "endemic surveillance societies", such as Russia and Singapore. The Thames Valley policeman, Mark Kearney, who bugged Khan's conversation in Woodhill prison, claims to have protested that it was "unethical" but was overruled and placed under "significant pressure" from the Metropolitan police. He has since had to leave the force. The saga reads like a script from the film about East German espionage, The Lives of Others.

Britain's poor record is the result of government weakness towards the security apparat. Even among supposed liberals, the response is to demand not less surveillance but more oversight. David Davis, the Tory spokesman, said yesterday: "It's got to be controlled; it's got to be accountable." Civil rights champion Liberty wants "simpler and stronger surveillance laws, with warrants issued by judges, not policemen nor politicians".

People have been saying this for years. Britain has a Kafkaesque oversight bureaucracy ranking with the one it purports to oversee. Some six separate surveillance monitors trip over themselves. All operate in secret and appear to be one gigantic rubber stamp. The distinction drawn by the justice secretary, Jack Straw, between "intrusive" and "directed" bugging, illustrates the prevailing mumbo-jumbo. The chief surveillance monitor, Sir Christopher Rose, has been asked by Straw to investigate the Khan affair, which appears to be a failure by the chief surveillance monitor. Is this to be taken seriously?

When the council can bug you for fly-tipping, when prisons can record conversations with defence lawyers, when any potentially criminal act can justify electronic intrusion - and when ministers resort to the dictator's excuse, "The innocent need not fear" - warning bells should sound.

There is no "balance" to be struck between civil liberty and national security. Civil liberty is absolute, security its handmaid. Measures are needed to protect the public, but a firm line needs to be drawn round them. The line must accept a degree of risk, or a police state is just around the corner.

A quarter of a million surveillances in Britain are beyond all power of politicians or overseers to check. It is state paranoia, justified only by that catch-all, the "war on terror". In truth it is not countering terror, but promoting it. Mass surveillances one of the poisons that the terrorist seeks to inject into the veins of civil society.

It is clear the overseers have gone native. Even the "independent" security watchdog, Lord Carlile, has bought 42-day detention. More oversight will not cure surveillance but mask its spread. The extension from terrorism to benefit fraud, fly-tipping and trading standards demonstrates how the official mind flips to Stasi mode at the least excuse.

To claim that Britain is a police state insults those who are victims of real ones. But I have no doubt that feeble ministers are slithering down just this road, pushed by the security/industrial complex. It is not oversight that must be increased, but rather the categories and boundaries of surveillance that must be drastically curbed.

Of course there are people who want to explode bombs in Britain. Taxpayers spend a fortune trying to stop them. But how often must we remind ourselves that the bomber need not kill to achieve his end when we appease his yearning for the martyrdom of repression? The amount of surveillance in Britain is grotesque. It is a sign of the corruption of power, and nothing else.

It's no beauty pageant (Guardian)

It's no beauty pageant - there are real differences between the candidatesThe US campaign has been painted as all about image, but there are policy distinctions - and they do matter
Jonathan Freedland
Wednesday February 6, 2008The Guardian

Funny, isn't it, how we have come this far in the US election campaign, reaching the milestone of results from 24 states in the early hours of this morning, and still a mystery remains - one that has vexed more than a few Guardian readers. Despite all the ink spilled, the pages filled and the airwaves crammed with coverage, they complain, there is something large they still don't know. What, exactly, do these warring candidates stand for?

Partly this is a media mea culpa, to go alongside the, er, misreading of the New Hampshire primary. For what have been the dominant themes so far? Barack Obama's rhetoric in Iowa, Hillary Clinton's tears in New Hampshire, the role - asset or liability? - of Bill, the cost or benefit of Obama's race and of Clinton's gender. On the Republican side, we've had Mitt Romney's Mormonism, John McCain's age and Mike Huckabee's wit. That's a bit of a caricature, but not so far off. Policy differences have not exactly been centre stage.

And yet, it would be a grave mistake to conclude that somehow this election is nothing more than a personality contest, albeit a gripping one. We could repeat the old cliche - that, under the surface, all these politicians are the same - but too many made that mistake before. In 2000 it was fashionable to say that Al Gore and George W Bush were ideological twins, the Tweedledum and Tweedledee of bland centrism. Now we know, to our cost, how wrong that was. So perhaps today, as the presidential campaign enters a new phase, we should take a hard look at what these candidates are about.

Start with Obama, the candidate who, more than any other, is accused of being light on detail. It's true that he offers nothing like the programmatic minutiae of Clinton, but it's still clear where he stands. During the last month, Obama's standard stump speech opened with a declaration that "The nation is at war and the planet is in peril". In that single sentence, he signalled two radical breaks with the last eight years, on Iraq and on climate change.

On Iraq, he cites his own early opposition to the war to draw one of his sharpest dividing lines with Clinton. Back in October 2002, when he was a mere member of the Illinois state senate, he addressed an anti-war rally. At that same moment, Hillary Clinton voted in the US Senate to authorise the use of force in Iraq, a decision she has never renounced. Obama doesn't quote his own speech but it would be powerful if he did. He condemned "a dumb war, a rash war" in terms that look remarkably prescient now.

More than five years on, Obama promises a US withdrawal and "no permanent bases" in Iraq, besides a garrison to protect the US embassy in Baghdad. He would send more troops to Afghanistan. He would then open talks with Iraq's neighbours, including Iran and Syria, because strong countries "talk to their enemies as well as their friends".

He would not only end the war in Iraq, he says, but end the "mindset that led to the war in Iraq". That means an effort to restore America's standing in the world. Accordingly, he would close Guantánamo and restore habeas corpus rights so that no suspect could be detained without charge. He speaks about the assault on civil liberties entailed by what he does not call the "war on terror".

Related will be his effort to wean the US off Middle Eastern oil, required anyway to make the move towards "green energy". (Both he and Clinton avoid the language of climate change and global warming, as if preferring to focus on the solution rather than naming the problem.) He suggests setting a new fuel efficiency standard of 40mpg for motor cars.

Domestically, he wants to pay teachers more, to offer help with college bills to young people who do voluntary work and to do the same for returning military veterans. He speaks about financial excesses, citing "the CEOs who earn more in 10 minutes than ordinary people earn all year". He wants to raise the cap on social security contributions which at present sees Bill Gates pay as much as a worker who brings in $97,000 a year. "Millionaires should pay their fair share," he says.

Clinton touches some of the very same points, even in the same language, though she has wavered on the social security payment question. She, too, is for help with student grants, and keen to forgive the debts of those who become teachers, nurses or police officers. She, too, wants greener energy, favouring micro-generating solutions that would feed electricity back into the grid or that would see solar panels on household roofs.

She also wants to "end the war in Iraq and bring our troops home", promising to start withdrawing personnel within 60 days of taking office. Her husband says "we're going to use diplomacy with friend and foe alike", a slight shift from her earlier condemnation of Obama as "naive and irresponsible" for suggesting he would talk to the likes of Mahmoud Ahmadinejad and Fidel Castro.

Her signature difference with Obama is in the provision of universal healthcare. Both agree it's a calamity that tens of millions of Americans have no cover. She would impose mandates, obliging everyone to be insured; he proposes no such compulsion, assuming that people will buy insurance once it becomes affordable.

Crudely, then, she is to the left of him on healthcare and he is to the left of her on Iraq. Otherwise there is huge overlap between their programmes - and, what's more, both would be recognisable to European eyes as pitched firmly on the centre-left. That has not always been the case with America's Democratic party. (Much credit for that goes to former candidate John Edwards, whose message of economic populism dragged both Obama and Clinton leftwards and obliged them to replace platitudes with gritty policies.)

Given this closeness between them on so much of the substance, it's hardly surprising their contest has turned into a duel over their personal merits as candidates. But that should not obscure a larger truth, also made clear this primary season - that the gulf between them and the Republicans remains wide and real.

On the large themes that unite Obama and Clinton, the leading Republicans are squarely opposed. During the last month, they have competed to declare their support for the Iraq war: Baptist preacher Huckabee said that just because no Iraqi weapons of mass destruction had been found it doesn't mean they weren't there: "Just because you didn't find every Easter egg didn't mean that it wasn't planted." Romney promised to double the size of Guantánamo.

On climate change, McCain concedes the problem, but would have little support in his party for taking any action: his arch-rival Romney would only say that man "probably" plays a role in global warming. As for the rest, the social programmes favoured by the Democrats are condemned as wasteful spending, and the need for universal health coverage barely registers.
The battle so far may seem to have been about identity politics, résumés and political style. But don't be misled: the ultimate battle will be about two entirely different conceptions of the US and its place in the world.

Monday, February 04, 2008

Laute Welle (Tagesspiegel)

Laute Welle
Seit drei Jahren sendet Motor FM – und zeigt, wie Radio jenseits des Einheitsgedudels funktioniert.
Yoko Rückerl 3.2.2008 0:00 Uhr

Die Brunnenstraße in Berlin Mitte, ein Hinterhof, vierter Stock, 500 Quadratmeter Altbau, Schreibtische, mit Magazinen, CD’s und Kaffeetassen überladen, Konzertposter an den Wänden, junge Menschen mit Kopfhörern auf den Ohren oder dem Telefonhörer in der Hand.

Markus Kühn kommt einem entgegen, fester Händedruck, „Kaffee?“. Wir sind bei Motor FM, Frequenz 100,6, dem Radiosender für Rock- und Independent-Musik. Gerade ist er drei Jahre alt geworden. Geschäftsführer Kühn teilt sich mit Partnerin Mona Rübsamen einen Raum, ein paar Schritte weiter arbeitet Tim Renner. Der ehemalige Universal-Music-Chef ist neben Kühn und Rübsamen dritter Geschäftsführer von Motor FM. Der Sender ist ein Sammelbecken für Musikliebhaber. Wie die meisten der rund dreißig Mitarbeiter bei Motor FM arbeiteten die drei Geschäftsführer bereits bei großen Musikunternehmen. „Wir haben die goldenen Zeiten erlebt“, sagt die 42-jährige Rübsamen, die lange bei MTV als Programmverantwortliche angestellt war. Kühn arbeitete als Marketingleiter bei Universal Music.

Auch, weil sie keine Lust mehr auf kommerzielle „Mainstream-Musik“ hatten, haben die drei mit Motor FM einen alternativen Radiosender entwickelt. Er gehört jeweils zu 50 Prozent der Marketingagentur M2M von Rübsamen und Kühn sowie Renners Motor Entertainment GmbH. Ihr Anspruch: Ein Musikprogramm jenseits des Gedudels vieler anderer Sender. „Wir spielen wirklich nur, was uns gefällt“, sagt Silke Super, Moderatorin bei Motor FM. „Das ist die größte Freiheit, die man im Musikgeschäft haben kann“, so die ehemalige MTV-Musikchefin.

Am 1. Februar 2005 um 18 Uhr 48 ging Motor FM das erste Mal auf Sendung. Im Programm: Alternative-, Independent-, Punk- und Elektro-Musik, Musiker wie die Stereophonics, The Black Lips oder Pete Yorn. Im Radio ist der Sender in Berlin, Brandenburg und Stuttgart zu empfangen, über die Internetseite www.motorfm.de weltweit. Rund 300 Titel laufen am Tag, durchschnittlich 14 Titel in der Stunde. „Wir haben eine Playlist von über 8000 Titeln“, sagt Kühn. 104.6 RTL oder Radio Energy, zwei Radiosender, bei denen ein Hit gefühlte hundert Mal am Tag wiederholt wird, verraten erst gar nicht, wieviele Lieder sie im Programm haben. Brancheninsider schätzen, dass bei vielen Privatsendern gerade mal 150 Titel in der Rotation laufen.

Mona Rübsamen zeigt auf die Stereoanlage im Konferenzraum. „Hier diskutieren wir, was wir spielen und was nicht“, sagt sie. Die Moderatoren spielen in ihren Sendungen also oft Musik, die sie selbst mögen – musikalischer Einheitsbrei kann so erst gar nicht entstehen.

Motor FM versteht sich als Talentsucher, ist bekannt dafür, Nachwuchsmusiker wie die Sängerin Soko zu entdecken. Wer bei Motor FM läuft, dem wird musikalisches Können attestiert. Silke Super: „Es gibt Musiker, die rufen schon mal an und fragen, wann sie zum Interview kommen können.“ Auch, weil die Bands das Gefühl hätten, nicht mit Moderatoren, sondern mit Musikern zu sprechen. „Wir hören uns ein Album an, bevor wir ein Interview machen.“ Musikredakteure wie Ueli Haefliger oder der Motor FM- DJ Max Spallek suchen jeden Tag stundenlang auf Internetseiten nach neuester Musik, frischen Künstlern oder basteln an Projekten wie der „Auslandsspionage“, einer Kooperation mit zwei Radiosendern aus Los Angeles und Großbritannien. Der Wortanteil bei Motor FM liegt bei knapp 40 Prozent. In den Reportagen und Interviews geht es nicht nur um Musik, sondern auch um Politik und Kultur. Der Sender hält Kontakt zu iranischen Bloggern, berichtet von der Berlinale.

Zielgruppe von Motor FM sind Musikliebhaber ab 25. 16 000 Hörer erreicht der Sender laut Media-Analyse 2007 in der Stunde. Kühn verweist aber darauf, dass viele der jungen Zuhörer bei solchen Erhebungen nicht erreicht werden: „Viele junge, aktive Menschen, die uns hören, sind ständig unterwegs und haben nur noch Handys. Bei der MA-Befragung werden die Leute aber zuhause auf dem Festnetz angerufen.“

Motor FM finanziert sich über Werbung und Marketingkooperationen. „Wenn sich eine Marke glaubwürdig und ernsthaft für Musik engagiert, habe ich kein Problem damit, das nicht auch bei uns stattfinden zu lassen“, sagt Kühn. Das „Download“-Geschäft kommt ebenfalls dazu. Wer bei Motor FM ein Lied hört, das ihm gefällt, kann es sich auf der Homepage für rund einen Euro – je nach Länge des Titels – herunterladen. Spontaneität und Unberechenbarkeit sind das Erfolgsrezept des Senders. Zum Geburtstag des Papstes sendete Motor FM die Morgensendung auf Latein. Und danach gab’s Musik von Rammstein.

Yoko Rückerl(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 03.02.2008)

Klub der toten Gesichter (Tagesspiegel)

Klub der toten Gesichter
Keine Identität mehr und keine Helden. Sollen sie etwa „Aaarne Friedrich!!!“ brüllen? Den Berliner Fans wird ihr Verein zu öde und den Managern auch. Aber wie verwandelt man Langweiler-Fußball in aufregenden Sport? Hertha und seine Experimente.
Von Sven Goldmann

Nach getaner Arbeit an einem kalten Berliner Abend zieht Lucien Favre, Fußballlehrer aus der Schweiz, die Handschuhe aus und setzt die Kapuze ab. Ihm ist richtig warm geworden, so schön hat seine Mannschaft gespielt und dazu noch Tore geschossen, sieben Stück, das kommt nicht oft vor bei Hertha BSC. Favre gestikuliert mit beiden Armen, er lacht und sagt, dass es jetzt endlich losgehen könne.

In Berlin geht es schon seit Jahren los. Immer mit dem Anspruch, ganz oben mitzuspielen, wenn möglich in der Champions League. Die Wirklichkeit sieht bescheidener aus. Die sieben Tore, über die Lucien Favre sich am Dienstag gefreut hat, sind nicht in der Champions League gefallen, sondern in Herthas kleinem Amateurstadion, im Testspiel gegen den Viertligisten Germania Schöneiche. Von hinten blinzelt das Flutlicht des Olympiastadions herüber. Dort wird es am Samstag ernst. Dann tritt Eintracht Frankfurt zum ersten Spiel der Bundesliga-Rückrunde in Berlin an. Nach diesem Spiel werden sie wissen, ob es wirklich losgeht, ob die in der Winterpause runderneuerte Mannschaft oben mitspielen kann.

Wer es gut meint, der nennt Hertha BSC das spannendste Experiment der Bundesliga. Gesteuert von einem Trainer, der bisher überall Erfolg hatte und schönen Fußball spielen ließ und der sich in Berlin jetzt eine neue Mannschaft zusammenbastelt. Wer es realistisch sieht, wendet ein, dass vom schönen Fußball noch nicht viel zu sehen war und dass es nicht ungefährlich sei, das Schicksal des Vereins ganz in die Hände eines Mannes zu legen, der bislang den schönen Fußball ausschließlich in der Schweiz geliefert hat.

Lucien Favre, 50, ist ein graziler Mann mit früh ergrautem Haar, sein französischer Akzent verleiht ihm eine gewisse Weltläufigkeit. In den sieben Monaten seines Wirkens am Olympiastadion hat sich Favre so ziemlich der gesamten Belegschaft entledigt. Als Verstärkung hat er in der Winterpause ausschließlich junge Spieler geholt, solche, die die Bundesliga nur aus dem Fernsehen kennen – ratzfatz, fast wie in einem Computerspiel. Aber natürlich braucht eine Mannschaft im virtuellen Raum keine Zeit zum Einspielen. Hertha BSC spielt in der Bundesliga gegen höchst reale Gegner, und die Zeit zum Einspielen ist abgelaufen. Bis zum ersten Abstiegsplatz sind es fünf Punkte.

Oben auf der kleinen Tribüne des kleinen Amateurstadions steht Dieter Hoeneß. Ein großer, kräftiger Mann. Seit Hoeneß in einem Spiel für Bayern München mal mit blutdurchtränktem Turban ein Kopfballtor erzielt hat, gilt er den Fußballfans als der Inbegriff des deutschen Kämpfers. Bei Hertha wird er meist Manager gerufen. Dieter Hoeneß hatte in den vergangenen Wochen so viel zu tun wie lange nicht mehr. Vorbei sind die Zeiten, da er ein unglücklicher Geschäftsführer war, weil er kaum Geld zum Führen seiner Geschäfte hatte. Die Last von gut 50 Millionen Euro Schulden ließ keine großen Sprünge zu. Doch dann verlängerte Hertha vor ein paar Wochen den Vertrag mit dem Vermarkter Sportfive vorzeitig bis 2018 und strich im Vorgriff auf zukünftige Erlöse 25 Millionen Euro ein.

„Das ist ein Meilenstein in der Vereinsgeschichte“, verkündete Hoeneß und sprach von einem „Vorgriff auf die Zukunft von Hertha BSC“. 15 Millionen wurden in den Abbau der Schulden gesteckt. Mit dem Rest ist Hoeneß losgezogen wie weiland Lotto-Lothar mit seinem Millionengewinn. Einen brasilianischen Stürmer hat er eingekauft, einen Mittelfeldspieler aus Serbien, noch einen aus den USA, am Dienstag kam, quasi im Schlussverkauf, noch ein Stürmer aus Bulgarien nach Berlin. Schön, mal wieder Geld zu haben. Berlin kann auch reich und sexy sein.

Hertha BSC hat immer ein wenig darunter gelitten, dass vom Glanz der wiedererwachten Metropole so wenig abfällt auf den erfolgreichsten Fußballklub der Stadt. Gern wäre Hertha BSC der Verein des kreativen Berlins. Doch das kreative Berlin besteht zu einem nicht unwesentlichen Prozentsatz aus zugezogenen Schwaben, Bayern oder Rheinländern, und die tragen noch immer den Verein ihrer Heimat im Herzen. Es werden ein, zwei Dekaden ins Land gehen, bis das kreative Berlin Hertha liebgewonnen hat, wenn überhaupt. Kritiker nörgeln, einstweilen erschöpfe sich Herthas Beitrag zum weltstädtischen Potenzial der Stadt in Frank Zanders Stadionhymne „Nur nach Hause geh’n wir nicht“. Selbst Herthas Präsident Bernd Schiphorst gibt zu, sein Verein sei „ein bisschen blass“.

Das war früher das Letzte, was man über Hertha BSC sagen konnte. Hertha war skandalumwittert, größenwahnsinnig und oft genug am Rand der Kriminalität, mal dies-, mal jenseits. Aber blass?

„Schiphorst hat recht, endlich spricht es mal einer aus“, sagt Marcel. Marcel kommt aus Tempelhof, wird bald 30 und ist Herthafan seit Kindheitstagen. Als Student hat er für seinen Verein manche Vorlesung sausen lassen, wenn gerade ein wichtiges Auswärtsspiel anstand. Am Dienstag steht er mit ein paar Freunden am Bierstand und schaut sich das Spiel gegen Schöneiche an. Marcel sagt, er habe es immer genossen, „dass man uns nirgendwo gern gesehen hat, wir waren die arroganten Berliner, die Großmäuler“. Vor ein paar Monaten war er zu einem Auswärtsspiel in Hamburg. Nach dem Spiel hat ein Hamburger Fan gefragt: „Was ist denn mit euch los? Man liest nichts mehr über euch, man hört nichts mehr. Warum seid ihr denn so ein langweiliger Verein geworden?“

Nach dieser Ansage hat Marcel das Bier nicht mehr geschmeckt. Nicht, dass der Fußball auch ganz gut ohne großmäulige Berliner zurechtkäme, aber das allein ist es ja nicht. Am Bierstand beim Spiel gegen Schöneiche sagen Marcel und seine Freunde, der Abend mit den Hamburger Fans habe ihnen die Augen geöffnet. „Es interessiert sich keiner mehr für uns, für die Mannschaft, für den Verein. Alles ist so austauschbar.“ Früher, da hätten sie immer Lieblinge gehabt. Andreas Neuendorf, den Techniker mit der Berliner Schnauze, den alle nur Zecke nannten. Marcelinho, den Wunder-Brasilianer, über den man sich so schön aufregen konnte, der nächtens mit den Mädchen in der Disko tanzte und tagsüber mit den Gegenspielern auf dem Platz. Oder den Torwart Christian Fiedler, der seit der Jugend für Hertha spielte und nach dem Spiel immer in die Fankurve kam.

Alles vorbei. Neuendorfs Vertrag wurde nicht verlängert, Marcelinho schon vor zwei Jahren abgeschoben, weil er wieder mal zu spät aus dem Urlaub kam. Der vereinstreue Fiedler sitzt nur noch auf der Ersatzbank. „Es gibt keine Typen mehr bei Hertha“, sagt Marcel, „keinen, den man mit Sprechchören anfeuern kann.“ Mal abgesehen vom nigerianischen Stürmer Solomon Okoronkwo, der sich so ergriffen ans Herz fasst, wenn er ein Tor schießt, aber er schießt so selten ein Tor, weil er ja fast nie spielt. „Und sonst? Alles stromlinienförmige Typen, die überall spielen könnten.“

Sollen sie etwa „Aaarne Friiiedrich!!!!“ brüllen?

Arne Friedrich ist der Kapitän der Hertha-Mannschaft 2008. Und Nationalspieler. Er fährt Porsche, trägt einen sorgfältig getrimmten Dreitagebart und spielt gern Golf. Über Berlin sagt er auf seiner Homepage. „Ich mag diese Stadt, die niemals schläft.“ Seinen Musikgeschmack definiert er so: „Ich höre das, was im Radio gespielt wird.“

Der Verteidiger Friedrich verdient bei Hertha geschätzt 2,5 Millionen Euro im Jahr, sein Nebenmann Josip Simunic kommt etwa auf dieselbe Summe. Zwei Defensivkräfte stehen auf den ersten beiden Plätzen auf der Berliner Gehaltsliste. Der Branchenführer Bayern München investierte seine Millionen in dieser Saison vornehmlich in drei Offensivspieler, den Deutschen Miroslav Klose, den Italiener Luca Toni und den Franzosen Franck Ribery. Wer will, kann darin ein Zeichen sehen für die unterschiedliche Ausprägung beider Stilrichtungen.

Für das strategische Geschäft ist bei Hertha BSC seit gut elf Jahren Dieter Hoeneß zuständig. Als Geschäftsmann zehrt er immer noch von dem alten Hertha-Image. Nicht weil es so gut war. Hoeneß‘ Bruder Uli, der Macher beim großen FC Bayern, hat einmal gesagt: „Wenn du Leuten wie dem ehemaligen Hertha-Präsidenten Holst 100 Millionen Mark gibst, haben die anschließend 150 Millionen Mark Schulden.“ Vor diesem Hintergrund konnte Dieter Hoeneß nicht viel falsch machen, als er im November 1996 nach Berlin kam und Hertha mit dem Geld des Sportfive-Vorläufers Ufa fitmachte für den Aufstieg in die Bundesliga.

Seitdem hat er immer wieder versucht, den Verein neu zu erfinden. Das spricht für Fantasie, erhöht aber nicht unbedingt die Glaubwürdigkeit. Am erfolgreichsten waren Hoeneß’ Anfangsjahre. Er inszenierte Hertha als Heimat der heimkehrenden Profis aus der Region und führte den Verein nach oben, einmal sogar bis in die Champions League. Danach kam die brasilianische Phase mit der Akquise spektakulärer Interpreten aus dem gelobten Fußballland. Das kostete viel Geld, brachte aber nicht die erhoffte Etablierung in der Beletage des deutschen Fußballs. Also modelten sich die Berliner um zum ehrgeizigsten Nachwuchsprojekt des Landes, das gar nicht mehr hinterherkam mit dem Zählen seiner Jugend-Nationalspieler. „Bei uns wächst etwas zusammen“, verkündete Dieter Hoeneß immer wieder stolz. Aber auch die Konkurrenz registrierte, was da in Berlin heranwuchs, und in diesem Sommer waren die drei Besten auf einmal weg. Und damit auch Herthas Image als Ausbildungsverein.

Seit dieser Saison definiert sich der Verein nicht mehr über Inhalte, sondern über seinen Trainer. Lucien Favre soll dem gesichtslosen Gebilde eine neue Identität verpassen mit dem schönsten, aufregendsten und modernsten Fußball der gesamten Liga. Das ist leicht gesagt und schwer umzusetzen. In seinem ersten Jahr beim FC Zürich stand Favre als Tabellenletzter schon mal kurz vor der Entlassung und feierte später noch zwei Meisterschaften. Als Favre im Sommer aus Zürich nach Berlin kam, freute er sich über die guten Arbeitsbedingungen und wunderte sich, dass es in den Zügen der Deutschen Bahn kein Rauchverbot gab. Immerhin dieses Problem hat sich seitdem erledigt.

Weil Favre im Frühling noch schnell den FC Zürich zur Schweizer Meisterschaft geführt und Hertha erst spät seine Zusage gegeben hatte, ließ sich die Mannschaft nicht mehr komplett nach seinen Wünschen zusammenstellen. Für eilig zusammengekauftes Personal wurde viel Geld ausgegeben und wenig Qualität erworben. Das entsprach nun so gar nicht den Vorstellungen des neuen Trainers. In der Woche vor dem Bundesligastart soll Favre im Büro von Manager Dieter Hoeneß seinen sofortigen Rücktritt angeboten haben. Hoeneß hat diese Geschichte immer dementiert, im Kreis der Mannschaft aber zweifelt kaum einer daran, dass sie stimmt. Zu oft hätten die Spieler mitbekommen, wie selten Manager und Trainer einer Meinung seien. Ein junger Spieler erzählt von einer turbulenten Mannschaftssitzung. „Der Trainer hat dem Manager gesagt: ‚Sie haben keine Ahnung!’ Dann ist er einfach rausgegangen.“

Man kann Lucien Favre schlecht vorwerfen, dass er nicht sagt, was er denkt. Oft genug hat er öffentlich verkündet, dass er sein System vom schnellen Fußball nur mit dem entsprechenden Personal umsetzen könne. Das hat dem vorhandenen Personal nicht besonders gut gefallen und auch die Motivation nicht gesteigert, worauf Hertha in der Tabelle immer tiefer fiel und Favre immer lauter nach neuen Spielern rief.

Jetzt sind die Neuen da, am Dienstag haben sie gegen den Viertligisten Schöneiche erstmals vor Berliner Publikum gespielt. Lucien Favre freut sich über die sieben Tore, Marcel und seine Freunde ziehen weiter in die nächste Kneipe. Der Fernseher läuft. Pokal-Achtelfinale, Dortmund besiegt Bremen, und die Dortmunder Fans rufen: „Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin!“, zum Finale im April ins Olympiastadion. Hertha ist mal wieder früh aus dem Pokal ausgeschieden. Marcel setzt sich an die Theke und seufzt: „In Dortmund brüllen sie Berlin, Berlin! Und wir spielen auf einem Nebenplatz gegen Schöneiche. Na prima!“
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 01.02.2008)

Friday, February 01, 2008

Our state collects more data (guardian)

Our state collects more data than the Stasi ever did. We need to fight backTo trust in the good intentions of our rulers is to put liberty at risk. I'd go to jail rather than accept this kind of ID card
Timothy Garton Ash
Thursday January 31, 2008The Guardian

This has got to stop. Britain's snooper state is getting completely out of hand. We are sleepwalking into a surveillance society, and we must wake up. When the Stasi started spying on me, as I moved around East Germany 30 years ago, I travelled on the assumption that I was coming from one of the freest countries in the world to one of the least free. I don't think I was wrong then, but I would certainly be wrong now. Today, the people of East Germany are much less spied upon than the people of Britain. The human rights group Privacy International rates Britain as an "endemic surveillance society", along with China and Russia, whereas Germany scores much better.

An official report by Britain's interception of communications commissioner has just revealed that nearly 800 public bodies are between them making an average of nearly 1,000 requests a day for "communications data", including actual phone taps, mobile phone records, email or web search histories, not to mention old-fashioned snail mail. The Home Office website notes that all communication service providers "may be served with a notice by the secretary of state requiring them to maintain a permanent intercept capability. In practice, agreement is always reached by consultation and negotiation." How reassuring.

The fantastic advance of information and communications technology gives the state - and private companies as well - technical possibilities of which the Stasi could only dream. Most of your life is now mapped electronically, minute by minute, centimetre by centimetre, through your mobile phone calls, your emails, your web searches, your credit card purchases, your involuntary appearances on CCTV, and so on. Had the East German secret police had these snooping super-tools, my Stasi file would have measured at least 3,000 pages, not a mere 325.

We therefore need to strengthen the protection of data, privacy and civil rights simply to remain as free as we were before. As technology lifts the sea level of information flow, we have to build up the dykes. To a limited extent, this has been happening; some legal data protection safeguards have been improved. Our stalwart information commissioner, Richard Thomas, has fought a valiant battle to protect what the Germans call, with portentous profundity, the right to informational self-determination. A valiant battle, but a losing one - as the commissioner himself acknowledges. The warning that we are "sleepwalking into a surveillance society" comes from him.

For even as he tries to strengthen the dykes, more powerful arms of government are busy tearing them down: in the name of fighting terrorism, crime, fraud, child molestation, drugs, religious extremism, racial abuse, tax evasion, speeding, illegal parking, fly-tipping, leaving too many garbage bags outside your home, and any other "risk" that any of those nearly 800 public (busy)bodies feels called upon to "protect" us from. Well, thank you, nanny - but kindly eff off to East Germany. I'd rather stay a bit more free, even if means being a bit less safe.

Yes, I recognise that the threat from homegrown suicide bombers - like those who struck London on July 7 2005, and extremists who have been picked up since, including the recently convicted would-be beheader of a British soldier - is particularly difficult to detect. I accept that it requires some extra surveillance and prevention powers. The balance between security and liberty needs to be recalibrated. But in the last decade the British government has erred too far on the side of what is alleged to be increased security.

An over-mighty executive, authoritarian busybody instincts at all levels of government, a political culture of "commonsense" bureaucratic judgments, rather than codified rights protected by supreme courts and, until recently, a gung-ho press forever calling for "something to be done": this fateful combination has made Britain a dark outrider among liberal democracies.
The birthplace of laissez-faire liberalism has morphed into the database state. We have more CCTV cameras than anyone. We have the largest DNA database anywhere. Plans are far advanced to centralise all our medical records and introduce the most elaborate biometric ID cards in the world. All this from a government which, having collected so much data on us, goes around losing it like a late-night drunk spreading the contents of his pockets down the street. Twenty-five million people's details mislaid by Her Majesty's Revenue and Customs; at least 100,000 more on an awol Royal Navy laptop; and so it goes on.

Meanwhile, the government has just laid before parliament its latest counter-terrorism bill. Besides the notorious proposal to increase the period of detention without charge to 42 days, this includes provisions that, as the attached official notes explain, allow anyone to give information to the intelligence services "regardless of any duty to keep the information private or of any other restriction" (other than those mentioned in a pair of elastic subclauses). Such information can then be shared or disclosed by that service more or less at will.

This will not do; and even the staunchest supporters of the smack of firm government are beginning to say as much. The Daily Mail, that prince of firm-smackers, yesterday ran a leading article which concluded that "Under this government - of whom the Stasi would have been proud - the balance between state power and individual liberty has been outrageously skewed. It must be restored." This is something on which press and politicians of left and right are beginning to agree.

Of course that flourish about the Stasi is hyperbole. As someone who actually lived under the Stasi, I know we're nowhere near that. But the amount of information collected and shared - not to mention lost - by the British government far exceeds the Stasi's modest 160km of paper files. The potential for it to be abused, in the wrong hands, is simply enormous. Liberty is not preserved simply by putting our trust in the good intentions of our rulers, civil servants and spooks. The road to hell is paved with good intentions.

My sense is that the tide is just beginning to turn in British public, published and parliamentary opinion. I hope the Liberal Democrats, Conservatives, Labour backbenchers and the House of Lords will between them give the new bill the roasting it deserves. Some of our watchdog commissioners and more independent-minded judges are already sounding the alarm. If the government were still to be so foolish as to try to introduce the new ID cards before the next election, it could be to Gordon Brown what the poll tax was to Margaret Thatcher.

Comprehensive, compulsory ID cards would directly impinge on every single citizen; this is just the kind of thing the British like to get bloody-minded about.

The Liberal Democrat leader Nick Clegg has said he would go to jail rather than accept an ID card of this intrusive kind. So would I. And so, I believe, would many thousands of our fellow-citizens. (There's a good website called NO2ID where you can join the fray.) Which is why, I suspect, the government won't be so foolish. But we need to draw the line well before ID cards. There are liberties that we have already given away, while sleeping, and we must claim them back.