Knaller an der Zeitungsfront

Saturday, October 28, 2006

Großväter, Übervater und die Enkel (Tagesspiegel)

Großväter, Übervater und die Enkel
Sie waren Überlebende und Kämpfer. Er war Visionär. Heute agieren die Pragmatiker. Die SPD-Vorsitzenden.
Von Christoph Seils

Es war eine dieser Vorstandssitzungen, die Streit versprachen. Der Vorsitzende hatte einen Personalvorschlag, die Linken hatten einen anderen. Das kommt vor in der SPD, aber alle rechneten damit, dass zwar viel diskutiert würde, aber es sich richten werde. Doch am 31. Oktober vergangenen Jahres kam es anders. Die Sitzung des SPD-Vorstandes dauerte länger als geplant, erst sickerte durch, dass der Vorsitzende eine schwere Abstimmungsniederlage erlitten hatte, dann trat Franz Müntefering vor die Presse, sagte, „ich kann unter den gegebenen Bedingungen nicht Parteivorsitzender sein“, und trat völlig überraschend vom SPD-Vorsitz zurück. Die Partei stand unter Schock, mitten in den Verhandlungen über die große Koalition hatten sich die Sozialdemokraten selbst enthauptet.

Ein Jahr ist das inzwischen her und die SPD macht nicht den Eindruck, als habe sie sich von der Führungskrise mittlerweile erholt. Franz Müntefering ist zwar Vizekanzler, aber ihm fehlt die Autorität des Parteivorsitzenden. Zum Nachfolger kürte die Partei zunächst Matthias Platzeck, der sollte den Generationenwechsel einleiten, hatte viele Ideen, war aber überfordert. Anschließend kam Kurt Beck. Seit seiner Wahl im Mai versucht der Pfälzer die eigenen Reihen zu schließen, er beschwört gerne die sozialdemokratischen Traditionen, er hat die Unterschicht entdeckt und profiliert sich gerne als Anwalt der kleinen Leute, als Vorsitzender, der nicht vergessen hat, wo er herkommt: aus einer Arbeiterfamilie. Und wem er seinen sozialen Aufstieg verdankt: der alten Tante SPD.

Die heile SPD-Welt hat schon einige Vorsitzende erlebt, Charismatiker und Apparatschiks, Reformer und Traditionalisten, Visionäre und Notlösungen. Kurt Beck ist der elfte Vorsitzende seit 1946. Drei gab es bis 1986, acht seitdem. Im Grunde jedoch gab es in den letzten 60 Jahren nur drei Generationen von Sozialdemokraten, die die Partei geführt haben: die Weimarer, die Kriegsgeneration und die Enkel. Die Generation Schumacher und Ollenhauer, die Generation Brandt, Schmidt und Wehner und die Generation Lafontaine, Müntefering und Schröder. Die ersten haben die Partei nach dem Zweiten Weltkrieg wiederbegründet, die zweite Generation hat die SPD an die Macht geführt, die Enkel haben sie für ihre persönlichen Machtinteressen benützt.

61 Jahre ist es her, der Zweite Weltkrieg war noch nicht beendet, da trafen sich im April 1946 im zerbombten Hannover in einem der wenigen unzerstörten Häuser im Stadtteil Linden ein paar Sozialdemokraten und berieten darüber, wie man diese wieder aufbauen könne. Unter ihnen war der ehemalige Reichstagsabgeordnete Kurt Schumacher, und sein kleines Büro wurde schnell zur ersten Parteizentrale. Hoffnungen gab es wenig. Viele führende Genossen waren von den Nazis ermordet worden, wenige hatten sich ins Exil geflüchtet. An der Basis jedoch gab es noch viele Genossen, die sich nun ihrer politischen Traditionen besannen. Sie holten die alten Fahnen aus den Kellern, knüpften die alten Kontakte, und mit Kurt Schumacher hatte die wiedergegründete SPD ihren ersten Hoffnungsträger.

In einer Partei, die Helden und Mythen liebte, bekam Schumacher seine Chance. Jeder Deutsche wusste, dass Schumacher als Soldat im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren und das KZ nur knapp überlebt hatte. Als ihm 1948 als Spätfolge ein Bein amputiert werden musste, litten die Anhänger mit. Mit Schumacher konnten sich die Menschen im Nachkriegsdeutschland identifizieren, auf ihn konnten sie ihre Hoffnungen projizieren. Hinzu kam, Schumacher konnte und wollte nicht mit den Kommunisten zusammenarbeiten, für ihn waren dies „rotlackierte Nazis“ und so besetzte er das erste Thema der SPD in der Nachkriegszeit. Schumacher spürte die Stimmung an der Basis der Partei und nutzte so das Machtvakuum. Im Mai 1946 wurde er der erste Nachkriegsvorsitzende.

Doch Schumacher machte Fehler. Er spürte nicht, dass sich das Land in zwölf Jahren Nationalsozialismus, nach einem verlorenen Krieg und dem Massenmord an den Juden verändert hatte. Zusammen mit seinem Stellvertreter Ollenhauer, einem altgedienten Parteifunktionär, baute er die alte SPD wieder auf, die abgeschottete sozialdemokratische Welt der jugendlichen Blauhemden, der Arbeitersportvereine und proletarischen Lieder. Ideologische Fragen interessierte die Partei wenig, also galt weiter das Heidelberger Programm von 1925.

Schumacher war ein Parteiführer der Weimarer-Schule, er war autoritär, fanatisch und agitatorisch, seine Reden polarisierten, seine innerparteilichen Widersacher wurden abgestraft. Die Partei fügte sich, die sozialdemokratische Schicksalsgemeinschaft hatte gelernt, Führung zu akzeptieren. Willy Brandt erinnerte sich später an Schumacher genauso fasziniert wie distanziert: „Seine Rede war beißend scharf, mitreißend oder abstoßend. Kritik schätzte er wenig. Besessen war er von der Idee, Weimar sich nicht wiederholen zu lassen. Hinreichendes Verständnis für Europa und von der Welt hatte er nicht.“

Die Sozialdemokraten verehrten Schumacher, doch als Arbeiterpartei, die die Grundstoffindustrie und die Banken verstaatlichen wollte, war die SPD nicht mehrheitsfähig. Trotzdem, nur denkbar knapp verlor Schumacher die erste Bundestagswahl, es fehlten nur 1,8 Prozentpunkte, um vor der CDU stärkste Partei zu werden. Beleidigt lehnte Schumacher Gespräche über eine große Koalition ab, er war davon überzeugt, die nächste Krise des Kapitalismus werde die SPD an die Macht bringen, Marktwirtschaft, Wiederbewaffnung und Westintegration lehnte er ab. 1952 starb Schumacher. Sein Nachfolger Ollenhauer setzte dessen Kurs zunächst fort, ohne allerdings eine vergleichbare Ausstrahlung zu haben. Die SPD verlor in der Gesellschaft den Anschluss. In Scharen verließen Mitglieder die Partei, die Bundestagswahlen 1954 gingen verloren. Adenauer hingegen verfehlte die absolute Mehrheit im Bundestag nur um einen Sitz. Erfolgreich hatte der Bundeskanzler die CDU von der Honoratiorenpartei zur Volkspartei gewandelt und so ihre gesellschaftliche Vormachtstellung begründet. Das Wirtschaftswunder tat ein Übriges. Der Charismatiker Schumacher hatte die SPD ins Abseits manövriert. Es dauerte ein Jahrzehnt und bedurfte eines neuen Hoffnungsträgers, bis sich die SPD davon erholt hatte.

Es war eine Gruppe junger sozialdemokratischer Strippenzieher, die Ende der fünfziger Jahre damit begonnen hatte, die Partei umzubauen. Der Parteiapparat wurde entmachtet, mit dem Godesberger Programm die Abkehr von der marxistischen Weltanschauung vollzogen. Mit dem noch jungen Willy Brandt wurde ein Außenseiter 1961 erst zum Kanzlerkandidaten, dann 1964 auch zum SPD-Vorsitzenden. Journalisten tauften ihn „Kennedy von der Spree“, seine Frau Ruth fiel wegen ihrer eleganten Kleider auf und Wahlkampf machte Willy Brandt im gar nicht proletarischen Cabriolet. Die Medien mochten ihn, die Partei-Funktionäre nicht. Er hatte keinen sozialdemokratischen Stallgeruch, hatte seine Jugend in sozialistischen Splittergruppen verbracht. Brand war ein Anti-Funktionär und ein Lebemann.

Mit Willy Brandt allerdings hatte eine neue Generation von Sozialdemokraten die Macht in der Partei übernommen. Sie waren nicht mehr in den sozialdemokratischen Milieus der Weimarer Republik aufgewachsen, sondern sie waren jenseits der SPD politisiert worden. Sie hatten ihre Jugend in der NS-Zeit verbracht und waren erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur SPD gestoßen. Brandt aus dem schwedischen Exil, Helmut Schmidt von der Ostfront. Weil sie in der SPD zunächst Außenseiter waren, spürten sie früher, wie sich die Gesellschaft veränderte, wie die Milieus sich auflösten und wie sich auch für die Unterschicht im Kapitalismus Perspektiven öffneten. Sie wollten Politik gestalten, vor allem aber wollten sie raus aus dem Schmollwinkel, sie wollten mit der SPD an die Macht.

Willy Brandt sollte sie an die Macht bringen. 1969 war die Mission erfüllt. Die Gesellschaft war im Umbruch, die Jugend auf den Barrikaden. Willy Brandt wurde Bundeskanzler, er versprach den Arbeitern Bildung, Aufstiegschancen und Partizipation. Mit seiner Ostpolitik erschloss er der SPD gleichzeitig neue Wähler und neue Mitglieder, vor allem im neuen Mittelstand, unter Studenten und Intellektuellen. Es waren vor allem kleine Gesten, die ihn zum Idol machten. Wütend trat er ein paar Tage nach dem Mauerbau im August 1961 vor die Westberliner und verkündete trotzig: „Wir fürchten uns nicht.“ Gegen das Protokoll zeigte er sich im März 1970 am Fenster seines Hotels in Erfurt und ließ sich von DDR-Bürgern feiern. Im Dezember 1971 kniete er schweigend am Mahnmahl für den Aufstand im Warschauer Ghetto nieder und bat stellvertretend für die Deutschen um Vergebung. Erst der Erfolg jedoch machte Willy Brandt zum Liebling der Partei. Noch 1965 hätten viele Sozialdemokraten ihn am liebsten aus dem Amt gejagt. Auch Brandt selbst hätte beinahe alles hingeschmissen. Er hatte bereits die zweite Bundestagswahl verloren, viele Parteifreunde hielten ihn für entscheidungsschwach und profillos, Brandt selbst fühlte sich ausgelaugt, litt unter Depressionen. Manchmal lag er auch später als Kanzler tagelang im Bett und war für niemanden zu sprechen. Mit den Worten „Willy aufstehen, wir müssen regieren“ und einer Flasche Rotwein gelang es seinem Kanzleramtsminister Horst Ehmke, ihn einmal zur Rückkehr an den Schreibtisch zu bewegen.

1965 jedenfalls schmiss Willy Brandt nicht hin, im Gegenteil: 23 Jahre blieb er Parteivorsitzender, eine Ewigkeit. Als Kanzler jedoch glänzte Willy Brandt nur sechs Jahre. Er stürzte über die Guillaume-Affäre. Tatsächlich aber war sein Reformeifer 1974 schon erlahmt, die große Umverteilungsmaschine hatte die öffentlichen Finanzen ruiniert, für das, was nun kommen musste, für Krisenmanagement und Sparpolitik, war er nicht der Richtige. Das musste Helmut Schmidt machen. Der heimliche Parteivorsitzende war sowieso Herbert Werner, während Brand repräsentierte, dirigierte dieser die Partei mit harter Hand. Die Arbeitsteilung funktionierte, weil der Exkommunist akzeptiert hat, dass er nicht Parteivorsitzender werden konnte.

Solange Willy Brand Vorsitzender war, besaß das Amt des SPD-Vorsitzenden noch eine besondere Aura, der Amtsinhaber war sakrosankt, die Genossensolidarität funktionierte, das ließ ihn auch Krisen, Krankheiten und politische Fehleinschätzungen überstehen. Dabei brauchte die SPD nach dem Ende der sozialliberalen Ära einen Vorsitzenden, der führt, auf die Herausforderungen einer immer komplexer werdenden postmodernen Gesellschaft vorbereitet. Das Gegenteil war der Fall, wieder geriet die SPD ins politische Abseits. Die Genossen zerstritten, die Jugend wendete sich den Grünen zu.

Die SPD ist in der Ära Brandt eine andere Partei geworden. Die Genossen wurden streitfreudiger. Loyalität und Geschlossenheit sind keine dominierenden Werte mehr. Auch die Anforderungen an einen Vorsitzenden sind viel komplexer, es reicht nicht mehr, mit bissigen Worten die Parteilinie vorzugeben, wie es Schumacher getan hat, wie Brandt mit telegenem Lächeln oder mit depressiver Grippe Krisen auszusitzen. Die Sozialdemokraten fordern von ihren Vorsitzenden eine Vielzahl von Talenten: Ausstrahlung, Kommunikationsfähigkeit und Moderationstalent einerseits, Entscheidungsstärke, Machtwille und unerschütterbares Selbstbewusstsein andererseits. Sie fordern nicht weniger als den alltäglichen Spagat zwischen traditioneller Mitgliederpartei und professioneller Medienpartei.

Spontane politische Kurswechsel wären heute undenkbar. Als sich die SPD hingegen Ende der fünfziger Jahre aufs Regieren vorbereitete, da vollzog der Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner 1960 in einer einzigen Bundestagsrede eine 180-Grad-Wendung in der Außenpolitik. Er legte ein Bekenntnis zur Westintegration und zur Nato ab. Mit niemandem hatte er sich abgestimmt, keiner kannte die Rede vorher, nicht einmal der Vorsitzende Ollenhauer. Damals folgte die Partei, die gerade noch gegen die Wiederbewaffnung und den Atomtod gekämpft hatte, heute würde sie auseinanderfliegen.

1987 trat Willy Brandt als SPD-Vorsitzender zurück. Ein völlig neuer Politikertyp drängte nun an die Macht. Die neue Führungsgeneration wuchs in der Nachkriegszeit auf und wurde in der Zeit des Wirtschaftswunders politisiert, die alten sozialdemokratischen Milieus, in denen die Organisation über alles ging, kannte sie nur noch aus Erzählungen. Die Enkel hatten ein völlig anderes Verhältnis zur SPD, ein funktionales, es gab kein gemeinsames Projekt mehr, sondern nur noch persönliche.

Kämpfen, das konnten die Enkel, vor allem gegen die Partei. Schon früh machten sie die Erfahrung, dass sie ihre Karriere am effektivsten organisieren, wenn sie sich als modern präsentieren und die SPD als bieder. Mal profilierten sie sich deshalb von links, mal von rechts, immer haben sie den gesellschaftlichen Mainstream im Auge und immer die Medien im Schlepptau. Mal präsentierte sich Gerhard Schröder als Atomkraftgegner, mal als Freund schneller Autos, mal marschierte Oskar Lafontaine mit der Friedensbewegung, mal polarisierte er gegen Aussiedler. Nur wenn sie die Partei brauchten, erinnerten sie sich an die Tradition der Arbeiterbewegung, an Werte wie Solidarität oder an ihre malochenden Eltern. Es wurde ein erbitterter Machtkampf, mit Intrigen, Tricks und taktischen Allianzen. Unvergessen ist der Putsch auf dem Parteitag im November 1995 in Mannheim. Während Schröder und Lafontaine den Rivalen Rudolf Scharping auf dem Parteiabend noch in Sicherheit wiegen, sammelten sie auf den Fluren bereits ihre Bataillone, dann hielt Oskar eine demagogische Rede und trieb so den blassen Parteivorsitzenden aus dem Amt. Als Lafontaine selbst vier Jahre später quasi über Nacht abtrat, verweigerte er sich jeder Begründung, verzog sich schmollend in sein Häuschen im Saarland und spielte mit seinem Sohn. Kanzler Schröder hatte seinen Finanzminister aus dem Amt gemobbt und wurde zur Belohnung Parteivorsitzender. Allein der Erfolg heiligt in der Enkel-Generation die Mittel, eine sozialdemokratische Schicksalsgemeinschaft gibt es nicht mehr.

Die nächste Generation an der Parteispitze wird es schwer haben. Denn mit ihren Machtspielchen haben die Enkel nicht nur die Autorität des Amtes zerstört, sie haben es auch versäumt, die Partei rechtzeitig programmatisch neu auszurichten. Der Generationenwechsel ist dennoch unvermeidlich, will die SPD wieder den Kanzler stellen. Kurt Beck bekam nur eine Chance, weil junge Führungskräfte bislang nicht in Sicht sind. Vielleicht sollte sich der Parteinachwuchs deshalb einmal an die Anfänge der Ära Brandt erinnern. Im Grunde muss sich dieser ähnlich wie die Kriegsgeneration in den fünfziger Jahren zusammentun, die Partei neu erfinden, mit dem Egotrips der Enkel abschließen.

Die alte Bundesrepublik existiert nicht mehr und auch nicht die alte Unterschicht. Die Partei, die der neue SPD-Vorsitzende Kurt Beck repräsentiert, die Partei, die den Arbeitern ein besseres Leben versprach und die sie mit dem Kapitalismus versöhnte, hat ausgedient. Längst prägen neue Spaltungen das Land, zwischen jenen, die von sicheren Arbeitsplätzen profitieren, und Langzeitarbeitslosen, die sich mit einem Leben unter Hartz-IV-Bedingungen abgefunden haben und auch für ihre Kinder keinen Weg aus der Armutsfalle erkennen können, zwischen Deutschen und Einwanderern, denen Integration nicht leicht, sondern schwer gemacht wird, zwischen westdeutschen Boomregionen und ostdeutschem Mezzogiorno. Nur ein Vorsitzender, der die neuen gesellschaftlichen Widersprüche thematisiert und glaubhaft Perspektiven öffnet, wird an der Spitze der SPD erfolgreich sein.

Kurt Beck ist also nur ein Übergangsvorsitzender. Will die SPD nicht weiter alle zwei, drei Jahre einen neuen Vorsitzenden küren, braucht das Amt des Parteivorsitzenden eine neue Autorität. Dazu gehört auch die Bereitschaft, einem talentierten Außenseiter den Rücken zu stärken, über Krisen und Niederlagen hinweg. Bei Matthias Platzeck fehlte diese Bereitschaft, auch deshalb ist der erste Versuch eines Generationenwechsels in der SPD gescheitert. Mit den widersprüchlichen Erwartungen war der Ostdeutsche überfordert, der immense Druck, der auf ihm lastete, hat ihn krank gemacht. Platzeck hatte keine Zeit, sich zu entwickeln, die Partei in allen ihren Facetten kennenzulernen. So sehr hat sich die Partei verändert. Hätte Willy Brandt 1964 unter demselben Druck gestanden wie Matthias Platzeck im letzten Winter, Willy Brandt, der Liebling jedes Sozialdemokraten, wäre wohl auch nur ein Kurzzeit-Vorsitzender mit tragischem Abgang geworden. Auch die Begründung für den Rücktritt hätte ähnlich geklungen: Überlastung und Erschöpfung.
(28.10.2006)

Wednesday, October 18, 2006

Anna Politkowskaja (Die Welt)

Anna Politkowskaja
"Ich mache keine Witze"
Zwei Monate vor ihrer Ermordung hat die russische Journalistin in einem Artikel ihr Ende vorhergesagt. Sie schrieb über die Grausamkeit des Tschetschenienkriegs und das Leben mit Morddrohungen. WELT.de dokumentiert den Bericht.


Ich bin ein Paria. Das ist das Ergebnis meiner journalistischen Arbeit während der Jahre des zweiten Tschetschenien-Kriegs und meiner im Ausland veröffentlichten Bücher über das Leben in Russland. In Moskau werde ich zu Pressekonferenzen oder Versammlungen, an denen Mitarbeiter des Kremls teilnehmen könnten, nicht eingeladen, nur für den Fall, dass die Organisatoren sonst in den Verdacht geraten könnten, Sympathien für mich zu hegen. Trotzdem reden alle Top-Funktionäre mit mir, wenn ich sie darum bitte - nur im Geheimen allerdings. Da, wo sie nicht observiert werden können, an der frischen Luft, auf Plätzen, an geheimen Orten, denen wir uns, wie Spione, auf verschiedenen Wegen nähern. Man gewöhnt sich nicht daran, aber man lernt, damit zu leben.

Den ganzen zweiten Tschetschenien-Krieg über habe ich so arbeiten müssen. Zunächst habe ich mich vor den russischen Truppen versteckt, konnte aber über vertrauenswürdige Mittelsmänner jederzeit Kontakt zu meinen Informanten aufnehmen, ohne dass diese bei den Top-Generälen denunziert worden wären. Als Wladimir Putins Plan der Tschetschenisierung (die "guten", dem Kreml treu ergebenen Tschetschenen wurden angesetzt, die "bösen", gegen den Kreml eingestellten Tschetschenen zu ermorden) aufging, griff ich zur gleichen List, um mit den nun "guten" tschetschenischen Vertretern, reden zu können. Jetzt können wir uns nur noch im Verborgenen treffen. Zuvor hatten mich viele in den schlimmsten Augenblicken des Krieges in ihren Häusern beherbergt. Nun bin ich ein unverbesserlicher Gegner, zur Umerziehung nicht geeignet.

Ich mache keine Witze. Vor einiger Zeit hat Wladislaw Surkow, Putins stellvertretender Stabschef, erklärt, dass es unter den Gegnern solche gäbe, mit denen man immerhin vernünftig reden könne, und solche, die unverbesserlich seien und von denen die politische Arena deshalb schlicht "gesäubert" werden müsse. Also versuchen sie, die Politik von mir und meinesgleichen zu säubern.

Vor ein paar Tagen, am 5. August, stand ich in einer Traube von Frauen auf dem Marktplatz von Kurchaloi, einem staubigen tschetschenischen Dorf. Ich trug mein Kopftuch, wie es viele Frauen meines Alters in Tschetschenien tragen, so gefaltet und geknotet, dass es den Kopf nicht gänzlich verdeckt, ihn aber auch nicht völlig unbedeckt lässt. Das war wichtig, denn würde ich erkannt, könnte das unabsehbare Folgen haben. Über der Gaspipeline, die durch ganz Kurchaloi verläuft, war die Trainingshose eines Mannes gebreitet. Sie war mit Blut verkrustet. Der abgetrennte Kopf des Mannes war weggeschafft worden.

In der Nacht vom 27. auf den 28. Juli hatten Einheiten des vom Kreml gesalbten Führers Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, zwei tschetschenischen Kämpfer am Ortsrand von Kurchaloi aufgelauert. Einer der beiden, Adam Badaev, wurde gefangen genommen, der andere, Hoj-Ahmed Dushaew aus Kurchaloi, wurde getötet. Gegen Tagesanbruch fuhren nicht weniger als zwanzig mit Bewaffneten voll besetzte Wagen der Marke Zhiguli ins Dorfzentrum und bis zur Bezirkspolizei hinauf. Sie hatten Dushaews Kopf dabei. Zwei der Männer hängten ihn in der Dorfmitte an die Pipeline und darunter die blutbefleckten Hosen, auf die ich jetzt starrte.
Diese Zurschaustellung mittelalterlicher Barbarei war von Kadyrows Vize, Idris Gaibow, orchestriert worden. Man hatte ihn am Telefon Bericht erstatten hören. "Teufel Nr. 1" sei tot, sein Kopf sei zur Warnung der übrigen Dorfbewohner aufgehängt worden. Die bewaffneten Männer verbrachten die folgenden zwei Stunden damit, den Kopf mit ihren Handys zu fotografieren

Der Kopf blieb für 24 Stunden, wo er war, danach wurde er von Männern der Miliz entfernt. Bevollmächtigte der Generalstaatsanwaltschaft leiteten vor Ort eine Untersuchung ein, und Leute aus dem Dorf hörten, wie ein Offizier einen Untergebenen fragte: "Haben sie den Kopf jetzt wieder dran genäht?" Dushaews Leiche, mit dem wieder angenähten Kopf, wurde später an den Schauplatz des Kampfes zurück gebracht.

Ich habe darüber in meiner Zeitung "Novaya Gazeta" berichtet. Gaibow, ein Vertreter der tschetschenischen Regierung, hatte Angehörigen der russischen Sicherheitskräfte, die ihm nicht unterstanden, Order erteilt, einen Toten zu enthaupten. Kadyrow, der Ministerpräsident, war informiert worden, hatte aber nicht eingegriffen. Jene, die die Enthauptung ausgeführt hatten, waren ebenso staatlich Bevollmächtigte gewesen und hatten eine Leiche geschändet - eine strafbare Handlung. Die Bevollmächtigten der Generalstaatsanwaltschaft, der es obliegt, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, hatten jene, die die Befehle ausgeführt hatten, lediglich aufgefordert, sich beim Annähen des Kopfes zu beeilen. Und all das vor den Augen der Männer, Frauen und Kinder von Kurchaloi.

Ich erreichte Tschetschenien zur selben Zeit wie mein Artikel. Die Frauen in der Menge versuchten mich zu verbergen, denn sie waren sich sicher, dass Kadyrows Leute mich erschießen würden, wüssten sie um meine Anwesenheit. Die Frauen erinnerten mich daran, dass Kadyrow geschworen hatte, mich zu ermorden. In einer Kabinettssitzung hatte er gesagt, er habe genug von mir, Politkowskaja sei erledigt. Mitglieder seiner Regierung haben mir davon erzählt.

Erledigt warum? Weil ich nicht geschrieben hatte, was Kadyrow wollte? "Jeder, der nicht zu uns gehört, ist ein Feind." Surkow hat das gesagt, und Surkow ist in Putins Entourage Ramsan Kadyrows wichtigster Fürsprecher. ""Sie ist so dumm', hat Ramsan mir gesagt, "dass sie nicht mal weiß, was Geld wert ist'", erklärte mir mein alter Bekannter Buwadi Dakiew am selben Tag. ""Ich habe ihr Geld geboten, aber sie hat es nicht genommen.'" Buwadi ist stellvertretender Kommandeur der kremlfreundlichen tschetschenischen OMON, einer Sondereinsatztruppe.
Ich traf Buwadi im Verborgenen. Er wäre in Schwierigkeiten geraten, hätte man uns beim Gespräch ertappt. Es war schon Abend, als ich aufbrechen wollte, und Buwadi drängte mich, zu bleiben. Er hatte Angst, ich könne ermordet werden. "Du darfst nicht rausgehen", sagte er zu mir. "Ramsan ist sehr wütend auf dich." Dennoch entschied ich mich zu gehen. Ich wurde in Grosny erwartet, zu einem weiteren geheimen Treffen, das die Nacht über dauern würde. Buwadi bot an, mich mit einem OMON-Wagen bringen zu lassen, aber das schien mir noch riskanter. Ich wäre zur Zielscheibe tschetschenischer Kämpfer geworden. "Haben Sie wenigstens Gewehre da, wo du hingehst?", fragte Buwadi. Den ganzen Krieg über habe ich zwischen den Stühlen gesessen. Wenn die einen drohen, dich umzubringen, beschützen dich ihre Feinde, morgen aber wird jemand anders dir drohen. Warum schreibe ich so ausführlich über Buwadi? Nur um zu erklären, dass die Menschen in Tschetschenien Angst um mich haben. Mich bewegt das sehr. Sie fürchten mehr um mich, als ich um mich fürchte, und so überlebe ich.

Warum hat Ramsan geschworen, mich zu ermorden? Ich habe ihn einmal interviewt und das Interview genauso gedruckt, wie es geführt wurde, inklusive Ramsans charakteristischer Debilität, seiner Ignoranz und seinen teuflischen Neigungen. Ramsan war sicher, dass ich das Interview komplett umschreiben und ihn als intelligent und ehrbar darstellen würde. So schließlich arbeitet mittlerweile die Mehrzahl der Journalisten, die nämlich, die "auf unserer Seite" steht. Reicht das, damit jemand schwört, dich umzubringen? Die Antwort ist so einfach wie die Moral, zu der Putin ermuntert. "Gegen die Feinde des Reichs sind wir gnadenlos." "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns." "Wer gegen uns ist, muss vernichtet werden."

"Warum bist du so besessen von diesem abgetrennten Kopf?", fragt mich, wieder in Moskau, Wassily Panchenkow. Er ist Pressechef der Truppen des Innenministeriums, aber ein anständiger Mann. "Hast du keine anderen Sorgen?" Ich bitte ihn um einen Kommentar zu den Ereignissen von Kurchaloi. "Vergiss es einfach. Tu so, als wäre es nie geschehen. Ich bitte dich um deiner selbst willen." Aber wie kann ich es vergessen, wenn es doch wirklich geschehen ist?
Ich verabscheue die von Surkow vertretene Linie des Kremls, die Menschen in solche, die "auf unserer Seite", "nicht auf unserer Seite" oder gar "auf der anderen Seite" stehen, sortiert. Ist ein Journalist "auf unserer Seite", wird er Auszeichnungen und Respekt ernten, vielleicht das Angebot bekommen, Stellvertreter in der Duma zu werden. Ist ein Journalist jedoch "nicht auf unserer Seite", wird er als Fürsprecher der europäischen Demokratien und europäischer Werte angesehen und automatisch zum Paria. Das ist das Schicksal aller, die gegen unsere "gelenkte Demokratie", unsere "traditionelle russische Demokratie" sind. (Was um Himmels willen das sein soll, weiß keiner; nichtsdestoweniger schwören sie ihr die Treue: "Wir sind für die gelenkte Demokratie!") Ich bin eigentlich kein politisches Tier. Ich bin nie einer Partei beigetreten und würde auch glauben, dass ein Journalist das, zumindest in Russland, nicht sollte. Ich hatte nie das Bedürfnis, für die Duma zu kandidieren, auch wenn es Zeiten gab, da man mich dazu aufforderte.

Worin also besteht mein Vergehen, das mir den Ruf, "keine von uns" zu sein, eingetragen hat? Ich habe allein über das berichtet, was ich gesehen habe, mehr nicht. Ich habe geschrieben und, weit weniger regelmäßig, geredet. Ich kommentiere sogar ungern, weil mich das zu sehr an die aufgezwungenen Meinungen meiner Kindheit und Jugend in der Sowjetunion erinnert. Mir scheint, dass unsere Leser in der Lage sind, das, was sie lesen, selbst zu interpretieren. Deshalb ist die Reportage meine bevorzugte Form, manchmal, ich gebe es zu, mit meinen persönlichen Zwischenrufen. Ich bin kein investigativer Richter, aber jemand, der das Leben um uns herum für jene beschreibt, die es selbst nicht sehen können. Denn was im Fernsehen gezeigt wird und in der überwältigenden Mehrheit der Zeitungen geschrieben, ist ideologisch verbrämt und entschärft. Die Menschen wissen wenig über das, was in anderen Teilen ihres Landes und manchmal sogar in ihrer eigenen Region vor sich geht.

Der Kreml reagiert, indem er versucht, mir den Zugang zu Informationen zu verwehren, seine Ideologen nehmen an, das sei der beste Weg, meine Arbeit nutzlos zu machen. Aber man kann jemanden, der mit fanatischer Hingabe über die Welt, die uns umgibt, berichtet, nicht aufhalten. Mein Leben mag schwer sein; öfter noch entwürdigend. Am Ende bin ich mit 47 nicht mehr jung genug, um dauerhaft Ablehnung zu erfahren und ständig meinen Pariastatus unter die Nase gerieben zu kriegen. Aber ich kann damit leben.

Ich werde nicht weiter ins Detail gehen und die Freuden des von mir eingeschlagenen Wegs beschreiben, das Gift, die Festnahmen, die Drohungen in Briefen und im Internet, die Morddrohungen über das Telefon, die allwöchentlichen Vorladungen der Generalstaatsanwaltschaft, wo ich Erklärungen zu praktisch jedem Artikel unterzeichnen muss, den ich schreibe. (Die erste Frage: "Wie und wo sind Sie an folgende Informationen gelangt?") Natürlich mag ich die ständigen, höhnischen Artikel nicht, die in anderen Zeitungen und im Internet über mich erscheinen und mich als die Irre von Moskau darstellen. Ich finde es ekelhaft, so zu leben. Ich würde mir ein wenig mehr Verständnis wünschen.

Die Hauptsache jedoch ist, mit meiner Arbeit voranzukommen, zu beschreiben, was ich sehe, und die täglichen Besucher in meinem Büro in der Redaktion zu empfangen. Sie können ihre Sorgen nirgends anders hintragen, weil der Kreml ihre Geschichten nicht parteikonform findet, so dass die "Novaya Gazeta", unsere Zeitung, der einzige Ort ist, wo sie öffentlich gemacht werden. Die russische Journalistin Anna Politkowskaja wurde 1958 in New York geboren. Jahrelang berichtete sie für die "Novaya Gazeta" und andere Medien über Wladimir Putins Krieg in Tschetschenien. Sie bekam eine Morddrohung nach der anderen. Sie wurden von russischen Soldaten festgenommen, geschlagen und fast vergewaltigt. "Wenn ich das Sagen hätte", sagte ihr einmal ein Offizier, "würde ich Sie erschießen."

Am 7. Oktober wurde Politkowskajas Leiche im Aufgang ihres Moskauer Wohnhauses aufgefunden, eine Makarow-Pistole lag zu ihren Füßen. Sie war 48 Jahre alt. Den hier abgedruckten Essay hat Politkowskaja im August für "Another Sky", ein englisches PEN-Buch, geschrieben. Es erscheint 2007 im Verlag "Profile Books". © Washington Post Aus dem Englischen von Wieland Freund.
Artikel erschienen am 18.10.2006

Geplanter Mord (SZ)

"Geplanter Mord"
Gemeinsam gegen die Mafia
Der Erfolgsautor Roberto Saviano soll sterben, so will es die Camorra. Doch Italien entdeckt die Solidarität.
Von Stefan Ulrich


Die Mafia tötet nicht aus Mordlust, schon gar nicht Prominente. Zu viel Aufmerksamkeit stört nur die Geschäfte. Manchmal halten es die Bosse aber doch für geboten, cadaveri eccellenti, prominente Leichen, in Kauf zu nehmen.

In solchen Fällen bereiten sie ihre Tat sorgfältig vor. Das Opfer wird in der Gesellschaft isoliert und danach massakriert wie die beiden sizilianischen Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino.

So könnte es nun auch dem jungen Schriftsteller Roberto Saviano ergehen, der sich mit der neapolitanischen Mafia, der Camorra, angelegt hat.

Umberto Eco hat vor wenigen Tagen im italienischen Fernsehen das ganze Land um Hilfe gerufen: "Lassen wir Saviano nicht wie Falcone und Borsellino allein", sagte der berühmte Autor.

Der Staat müsse einschreiten, weil man in diesem Fall sogar die Vor- und Nachnamen der Drohenden kenne.

Der Staat hat jetzt Saviano per Eilentscheidung unter Polizeischutz gestellt. Italien scheint seinen Fall Rushdie zu haben, nur dass die möglichen Mörder diesmal keine Islamisten sind, sondern kühl kalkulierende Manager der Unterwelt.

Die Camorra-Bosse haben den 28 Jahre alten Schriftsteller und Journalisten schon länger im Visier. Schließlich wuchs der junge Mann in ihrem Territorium zwischen Neapel und der Provinzhauptstadt Caserta heran.

Saviano tauchte in die Welt der Produktpiraterie, des Drogen- und Menschenhandels, der Korruption und Erpressung, um über das organisierte Verbrechen zu berichten. "Aus Wut" habe er sich so exponiert, hat er einmal gesagt, seit seiner Geburt habe die Camorra 3600 Menschen umgebracht.

Im Mai veröffentlichte Saviano sein Buch "Gomorra", eine Art Untersuchungs-Roman, der freilich nicht auf die präzise Nennung von Namen und Zahlen verzichtet. Das Erstlingswerk wurde ein Überraschungserfolg und erhielt sogleich den wichtigen Literaturpreis "Premio Viareggio".

Italiens Innenminister Giuliano Amato saß in der Jury und ließ sich besonders von "Gomorra" packen. Er hat mittlerweile sein Ministerium angewiesen, einen Masterplan gegen die Camorra auszuarbeiten.

Gefährliches Desinteresse

Savianos Buch hat sich fast 100.000 Mal verkauft, bald soll es auch in Deutschland, Großbritannien, Frankreich und in den USA erscheinen.

Das konnte der Camorra nicht gefallen, zumal Saviano kürzlich in Casal di Principe, einer ihrer Hochburgen nördlich von Neapel, bei einer Kundgebung die Namen der drei mutmaßlichen Clan-Chefs Michele Zagaria, Antonio Iovine und Francesco "Sandokan" Schiavone nannte und sie aufforderte, aus dieser Gegend zu verschwinden.

Ihre Macht beruhe lediglich auf der Angst der Menschen. Seither bekommt Saviano Drohbriefe und mysteriöse Anrufe in der Nacht. In einem Restaurant hieß es: "Sie sind hier nicht erwünscht." Die Mafia hat ihr Isolierungswerk begonnen. Doch diesmal stößt sie auf starke Gegenkräfte.

Etliche Schriftsteller haben einen Solidaritätsappell unterzeichnet, die politische Wochenzeitschrift Espresso berichtete ausführlich über den Fall, und auch im Internet wurden mehrere Initiativen gestartet.

Diese Aufmerksamkeit schützt Roberto Saviano derzeit wohl noch besser als die Polizeieskorte. Richtig gefährlich wird es für ihn, sobald das Interesse nachlässt.
(SZ vom 18.10.2006)

Thursday, October 12, 2006

Neuer rauer Ton (Berliner Tagesspiegel)

KRITISCH gesehen
Neuer rauer Ton

Merkel und Putin – das Doppelinterview. ARD. Thomas Roth hatte sich weit nach vorne gebeugt, er lag fast auf seinen Knien. Eine Haltung, die man aus alten Michel-Friedman-Talkshows kennt und die signalisiert: Hier lauert einer auf seine Chance zum Angriff. Wladimir Putin führte gerade aus, dass die ermordete Journalistin Anna Politkowskaja im Inland nicht so bekannt gewesen sei wie im Ausland. Da war sie, die Atempause. Roth preschte hinein: „...Ja weil sie nicht die Gelegenheit hatte, im staatlichen Fernsehen aufzutreten.“ – „Wenn Sie bitte so liebenswürdig wären und mich aussprechen ließen“, antwortete Putin. Roth war nicht so liebenswürdig. Er unterbrach ihn kurz darauf wieder und dann noch einmal, bis Putin ihm genervt auf Deutsch widersprach: „Nein, nein! Absolut nicht!“

Es war ein ungewöhnlich konfrontativer Ton, der am Dienstagabend beim ARD-Interview herrschte. ARD-Hauptstadtstudioleiter Roth war ein ungewöhnlich offensiver Fragensteller. Das Interview machte deutlich, wie sehr Gespräche mit Staatsgästen sonst der diplomatischen Etikette verhaftet sind statt journalistischen Maßstäben. Besonders eklatante Beispiele waren die Gespräche mit Condoleezza Rice, die vergangenes Jahr Anne Will und Claus Kleber führten. Symptomatisch war Wills Dank zum Schluss: „Thank you sooo much!“ Da war die Erleichterung herauszuhören, das Gespräch auf Englisch ordentlich hinter sich gebracht zu haben. Es gibt also einen formalen Grund, warum Interviews mit Putin besser gelingen als mit Rice: Die Journalisten fragen auf Deutsch, man fühlt sich sicherer in der eigenen Sprache. Natürlich liegt der Hauptgrund eher darin, dass es bei Putin immer auch um Pressefreiheit geht, dem ureigenen Thema von Journalisten. Maybrit Illner befragte Putin im Juli bereits kritisch dazu, blieb jedoch freundlich. Roth wurde an einer Stelle sogar ironisch. Das war, als Putin erklärte, der russische Konzern Gazprom wolle mit seinem Sponsoring Schalke 04 doch nur helfen, seine finanziellen Probleme zu lösen. „Spenden für Schalke!“, sagte Roth, lachte und ließ damit keinen Zweifel daran, dass er die selbstlose Hilfsbereitschaft seitens Gazprom bezweifelt. An der Stelle hatte man den Verdacht, dass Putin für den Rest seiner Amtszeit nur noch dem ZDF Interviews geben wird. Egal: An diesem Dienstag zeigte die ARD, dass Journalisten keine Nebendiplomaten sein müssen.
nol
(12.10.2006)

Tuesday, October 10, 2006

A splendid achievement (The guardian)

A splendid achievement
George Bush should be congratulated - he has surely earned the right to join the ranks of despots
Terry Jones, Tuesday October 10, 2006

Dear President Bush,
I write to you in my capacity as secretary of the World League of Despots.
It is with great pleasure that I am finally able to extend an official invitation to you to join our ranks. For many years, we have watched your efforts to fulfil the requirements necessary to join our number. From the start, we were greatly impressed by your disdain for democratic principles - the way you wrested power from the democratically elected candidate in the 2000 election, and again in 2005 when you managed to swing what was clearly going to be a victory for your opponent.

Contempt for human life has always been a priority requirement for membership of the league, and I and my fellow adjudicators were well aware of your record as governor of Texas when you quadrupled the number of state executions. But your record since seizing power has surpassed even our expectations. The thousands of innocent people in Iraq, who have died so that you could fulfil your declared political objective of establishing "an American force presence in the Middle East", attest to your eligibility to join our ranks.

I cannot, however, disguise the fact that we adjudicators were extremely anxious when you announced your intention to remove from office one of our most stalwart members, Mr Saddam Hussein. However, we need not have worried. According to a recent UN report, you have ensured that there are now even more human rights abuses in Iraq than there were under Saddam. No less than 10% of those in custody are being physically or psychologically abused. Well done!

Of course, your unstinting efforts to make torture an internationally accepted aspect of human life have surpassed everything we could have ever hoped for. I don't think there is a single member of the league who could have imagined, six short years ago, that our activities in tormenting our fellow creatures would once again be recognised as acceptable, civilised behaviour, as it once was in the middle ages.

Despite these achievements, we had, until now, felt unable to extend our invitation to you because you had been unable to fulfil one of our basic requirements: the ability to carry out arbitrary arrests, imprisonment without trial, secret torture and executions at will.
We approved of your attempts to establish the principles of arbitrary arrest under the Homeland Security Act of 2002, but unfortunately it was still restricted to terror suspects.

We appreciate that you were hampered by the US constitution, but the restrictions this imposed on your arbitrary powers kept you below the threshold requirements for qualification as a despot.

Now, however, all that has changed. At the end of last month you persuaded the Senate to pass a bill regarding the treatment of detainees. Illegally obtained evidence can now be used against suspects, even if it has been gathered abroad under torture. Anyone you care to accuse can be thrown into prison without the right to a trial or the right to represent themselves.

Officially the legislation is restricted to "enemy combatants", but you have skilfully adapted this definition to include anyone who has "purposefully and materially supported hostilities against the US". This presumably means that anyone who publicly criticises your conduct can be defined as supporting hostilities to the US. You are now free to arrest and imprison anyone you don't like. You've got it in the bag!

It is with great pleasure that we in the World League of Despots note that you have now appropriated to yourself all the powers of arbitrary arrest and torture that Saddam once enjoyed. You are now one of us. Congratulations!

Terry Jones is a film director, actor and Python
http://www.terry-jones.net/">www.terry-jones.net

Monday, October 09, 2006

Genug gekämpft: Wir woll’n euch spielen sehen

Genug gekämpft: Wir woll’n euch spielen sehen
Regisseur Sönke Wortmann reproduziert Klischees über den deutschen Fußball – ein Vergleich mit dem französischen WM-Film 1998
Von Stefan Hermanns

Berlin - Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Jürgen Klinsmann während der Fußball-WM bemerkenswerte Ansprachen an seine Mannschaft gehalten hat. In Sönke Wortmanns Film „Deutschland. Ein Sommermärchen“ kann man sich zurzeit ein eigenes Bild davon machen. Es stimmt, Klinsmanns Ansprachen sind in der Tat bemerkenswert: Sie erreichen locker Kreisliga-B-Niveau. Der Autor weiß, wovon er spricht. Er hat selbst in der Kreisliga B gespielt, und da ist in der Kabine gerne mal davon die Rede, dass der Baum resp. Rasen brennen müsse und der Gegner sowieso mal richtig eins auf die Fresse verdient habe. Dann geht man raus und lässt den ersten Ball über den Fuß ins Seitenaus rutschen.

Eigentlich ist es eine erschreckende Erkenntnis, dass Jürgen Klinsmann zu hoch bezahlten Profis so spricht, als handelte es sich um tumbe Kreisligakicker: Die Polen werden durch die Wand geknallt, Ekuador kriegt eins auf die Fresse, die Argentinier haben Muffe und so weiter. Wortmanns filmische Dokumentation gilt inzwischen als nachträgliche Rechtfertigung dafür, dass Klinsmann gar nicht anders konnte, als sein Amt nach der Weltmeisterschaft zur Verfügung zu stellen: Der Bundestrainer habe sich total verausgabt, sei ausgebrannt, auf diesem Niveau habe er gar nicht ewig weitermachen können. Blödsinn! Welches Niveau denn?

Dass es auch anders geht, zeigt der Film, den Wortmann immer wieder als Inspirationsquelle nennt: „Les yeux dans les bleus“ von Stéphane Meunier, der die französische Nationalmannschaft 1998 auf ihrem Weg zum WM-Titel mit der Kamera begleitet hat. Aimé Jacquet, der Trainer der Franzosen, erscheint in diesem Film wie eine Art Anti-Klinsmann. In Deutschland, am DSF-Stammtisch, würde jemand wie Jacquet mit seiner zurückhaltenden, fast nachdenklichen Art von den Latteks und Baslers vermutlich, um es mal mit ihren Worten auszudrücken, „an die Wand genagelt“. Jacquet spricht stets leise und findet bei seinen Spielern trotzdem Gehör, er verwechselt Leidenschaft nie mit Lautstärke. Klinsmanns Pathos wirkt im Vergleich dazu nur noch hohler.

Im deutschen Fußball wird die Macht des Wortes immer noch maßlos überschätzt, und Wortmanns Film hilft dabei, diesen Irrglauben weiter zu zementieren. Man könnte auch sagen: „Deutschland. Ein Sommermärchen“ reproduziert die alten Klischees vom deutschen Fußball, er erzählt Fußball auf Udo-Lattek-Niveau – und alle freuen sich darüber. Hans Meyer, einer der klügsten deutschen Trainer, hat sich schon häufiger über der Deutschen liebsten Schmähgesang echauffiert. Was rufen die Fans, wenn ihre Mannschaft nichts auf die Reihe kriegt? „Wir woll’n euch kämpfen sehen.“ Eigentlich, so sagt Meyer, müssten sie rufen: Wir woll’n euch spielen sehen. Sinnfreies Laufen kriegt auch der größte Grobmotoriker gerade noch hin. Der deutsche Fußball hat laut Meyer kein Willensproblem, der deutsche Fußball hat ein Spielproblem.

Das Traurige ist, dass gerade Jürgen Klinsmann für den Bruch mit den unseligen Traditionen stand, dass er nicht nur ein paar große Worte hatte, sondern eine Idee, ein System und einen Plan. Nach Wortmanns Film muss man sich fragen: Hat er uns die ganze Zeit belogen? Hat Klinsmann vor allem die arglistig getäuscht, die seinen Reformkurs, seinen Sprung in die Moderne wohlwollend begleitet haben? Die Antwort ist wahrscheinlich banal. Vermutlich hat Wortmann in seinem Film nur einen Teil der Realität abgebildet, einen von mehreren Klinsmanns gezeigt, und zwar den, der sich filmisch am vermeintlich besten und spektakulärsten darstellen lässt. Über die taktische Vorbereitung der Mannschaft, einen der zentralen Punkte im System Klinsmann, und die Einstellung auf den nächsten Gegner war in den Pressekonferenzen mit Joachim Löw während der WM mehr zu erfahren als beim so genannten Blick durch das Schlüsselloch in Wortmanns Werk.

Vielleicht bekommt jedes Land den Fußballfilm, den es verdient hat. In „Les yeux dans les bleus“ beeindruckt, über welch starke Persönlichkeiten das französische Team verfügt hat, während bei Wortmann Bastian Schweinsteiger stets gut gelaunt die filmische Führungsrolle übernehmen darf. In der Halbzeit des WM-Finales – Frankreich führt 2:0 gegen Brasilien – ergreift Kapitän Didier Deschamps das Wort. Er hält keine flammende Rede, er macht seine Mitspieler einfach auf taktische Defizite aufmerksam. Deschamps ist der Trainer, der mit auf dem Platz steht, und man hätte gerne gewusst, wer im deutschen Team eine ähnliche Rolle gespielt hat. Ballack? Frings? Schneider? Bixente Lizarazu hat einmal gesagt, die Diskussionen um Führungsspieler seien typisch deutsch, in Frankreich gebe es die nicht. Mag sein, dass Frankreich diese Diskussionen nicht kennt. Aber an Führungsspielern hatten die Franzosen zumindest 1998 keinen Mangel.
(08.10.2006)

Und was mache ich jetzt? (Tagesspiegel)

Und was mache ich jetzt?
Von Axel Hacke


Seit die Fußball-Weltmeisterschaft vorbei ist, versuchen wir den Geist jener Tage weiterzutragen, das Sommergefühl in den Herbst, ja: in den Winter hinein und hinüberzubringen und dann ins nächste Jahr und ins übernächste, immer weiter. Versuchen, kompakt zu stehen, tief gestaffelt. Auch muskulär gut vorbereitet zu sein. Gehen mit hoher Aggressivität in die Begegnungen. Rutschen auf den Knien in den Flur, wenn ein Manuskript gelungen ist, klatschen den Redakteur ab für seine steilen Gedankenvorlagen, seine filigrane Arbeit am Text. Und doch, und doch – was fehlt hier, was fehlt? Warum kesselt es nicht richtig, woher kommt immer wieder dieses Lähmende? Fehlt es an der richtigen Ansprache? Haben wir die falschen Trainer?

Dieser Tage ist nun Herrn Wortmanns Film über Klinsmann und die Seinen in die Kinos gekommen, und wie immer hat man in den Zeitungen, bevor auch nur eine Sekunde Film zu sehen war, schon die Hälfte gelesen. Was sich am meisten einprägt: Klinsmanns Kabinenreden. Dass hier der Baum brenne. Dass dies unser Spiel sei. Die anderen fällig seien. Mit dem Rücken zur Wand stünden. Nichts mehr drauf hätten. Wir ihnen auf die Fresse geben würden. Ho! Ha! Ist es nicht dieser Ton, den wir brauchen? In dem uns aber niemand anspricht? Der uns vorenthalten bleibt?

Was könnte man für Sachen schreiben, redete morgens jemand zu uns in dieser Art? Wenn in der Früh, bevor sich die Finger wie Blei über die Tastatur legen, einer brüllte: Du schlägst heute zu, brutal! Du knallst sie durch die Wand. Sie haben Muffe vor dir. – Wer denn, Chef, wer hat Muffe? – Egal, wer. Zeig es ihnen, da draußen.

Da draußen. Raus gehen. Kein Zitat aus dem Wortmann-Film hat sich mir mehr eingeprägt als dieses von Torsten Frings: „Wir gehen jetzt raus und hau’n die Scheiße weg.“ Niemand hat da gefragt: Torsten, Lieber, die Scheiße? Welche Scheiße? Wer ist Scheiße? Die Italiener? Torsten, bitte! Nein, das wäre großkoalitionäres Denken. Da sagt man nämlich vor den Verhandlungen des Tages: Ich bin relativ zuversichtlich, dass wir zumindest einen Teil der Scheiße heute beseitigen können. Ich finde die Äußerungen der anderen Seite über die noch wegzuhauende Scheiße nicht zielführend. Wir müssen sehen, wie viel Spielraum …

Man wünscht sich Leute, die vor Mikrofonen stehen, mit dem Rücken zu einer Tür, und die dann sagen, sie gingen jetzt rein und hauten alles weg, Gesundheitsreform, alles, das Ganze. Weg. Was wäre denn gewesen, Frings hätte gesagt: Tja, Männer, lasst uns mal ausloten, ob wir die Scheiße da draußen weghauen können?

Gerade lese ich nach: Frings hat das vor dem Spiel gegen Italien gesagt. Dem einzigen, das verloren ging. Die Scheiße ist noch da. Hab mir gleich so was gedacht. Gehen wir wieder rein? Wird kühl allmählich, was? Heute ist Sonntag. Ob wenigstens Schumi …?

(08.10.2006)

Stimme der Opfer (Tagesspiegel)

Stimme der Opfer
Die russische Journalistin und Kreml-Kritikerin Anna Politkowskaja wurde in Moskau erschossen
Von Claudia von Salzen

Berlin - Der Krieg hat Anna Politkowskaja nie losgelassen. Monat für Monat reiste die russische Journalistin nach dem Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges 1999 in die Kaukasus-Republik. Was sie von vielen anderen Kriegsberichterstattern unterschied, war ihr Blickwinkel: Kriegshelden oder militärische Strategien interessierten sie nie. Ihr Augenmerk galt den Opfern des Konflikts. Sie gab denen eine Stimme, die im heutigen Russland kaum Gehör finden: den tschetschenischen Zivilisten, die unter dem Krieg und seinen Folgen leiden. Anna Politkowskaja gehörte zu den bekanntesten Kritikern des Tschetschenien-Krieges und des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Am Samstag wurde die Journalistin in Moskau ermordet.

Die Reporterin der oppositionellen Zeitung „Nowaja Gaseta“ wurde in ihrem Wohnhaus erschossen. Moskaus Vize-Staatsanwalt Wjatscheslaw Rossinskij sagte, als Motiv für den Mord werde ihre „öffentliche Aufgabe“ als Journalistin vermutet. „Jemand wollte eine ehrliche und unabhängige Journalistin zum Schweigen bringen“, sagte der Leiter der Menschenrechtsorganisation Memorial, Oleg Orlow.

Die 48-jährige Mutter von zwei Kindern kannte die Gefahr, die mit ihrer Arbeit verbunden war. Immer wieder wurde sie persönlich bedroht. Während ihrer Recherchen in Tschetschenien wurde sie von russischen Truppen festgenommen und stundenlang verhört. In einem ihrer Bücher beschrieb die Journalistin später, wie Offiziere drohten, sie zu erschießen. Doch selbst danach hörte sie nicht auf, über den Konflikt zu schreiben. Leicht gefallen ist ihr diese Arbeit nie: „Grauen über das, was du aufschreiben musst, lähmt die Hand, die alles in einem Notizblock festhält...“, schrieb sie einmal.

In ihren Reportagen und in zwei Büchern griff sie das Vorgehen der russischen Regierung in Tschetschenien scharf an und dokumentierte Menschenrechtsverletzungen russischer Truppen und kremltreuer tschetschenischer Milizen. Damit machte sie sich viele Feinde: 2001 flüchtete sie für einige Monate nach Wien, weil sie Morddrohungen eines russischen Polizisten erhalten hatte. Sie hatte ihm Verbrechen an der tschetschenischen Zivilbevölkerung vorgeworfen.

In Gefahr begab sie sich auch während der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater „Nord-Ost“ 2002: Sie wagte sich in das von tschetschenischen Terroristen besetzte Gebäude, um zu vermitteln. Später versuchte sie immer wieder aufzuklären, was wirklich in dem Theater passiert war. Auch hier nahm sie die Perspektive der Opfer ein und schrieb über die Suche der Angehörigen nach der Wahrheit. Über das Geiseldrama in Beslan wollte die Journalistin ebenfalls berichten. Doch auf dem Flug in die Region zog sie sich unter rätselhaften Umständen eine Vergiftung zu, für die sie den Geheimdienst verantwortlich machte.

Anna Politkowskaja pflegte einen ungewöhnlich persönlichen Stil. Sie schrieb nie aus der Distanz der Beobachterin, sondern stand radikal auf der Seite der Menschen, die im Russland von heute zu Opfern geworden sind. Dabei konnte sie sonst im persönlichen Gespräch geradezu schroff wirken. Die schmale, grauhaarige Frau mit dem sorgenvollen Blick hatte es sich zur Aufgabe gemacht, über den Konflikt im Kaukasus aufzuklären – dahinter trat alles andere zurück. Für Konventionen im politischen Geschäft hatte sie wenig übrig. Einen Politiker aus Deutschland, mit dem sie verabredet war, ließ sie schon mal eine Weile warten.

Die Missstände, über die sie schrieb, lastete die Journalistin Putin persönlich an, den sie als typischen KGB-Mann sah: „Er rechnet ab mit denjenigen, die sich allzu aufmüpfig gebärden, erstickt Meinungsvielfalt und Freiheit im Keim“, schrieb sie in ihrem Buch „Putins Russland“. Mit Anna Politkowsjaka verliert Russland eine seiner bedeutendsten Journalistinnen.

(08.10.2006)

Saturday, October 07, 2006

Weibliche Mücken lieben Fußkäse (Tagesspiegel)

Weibliche Mücken lieben Fußkäse
Anti-Nobelpreise für skurrile Studien

Cambridge - Forschungen zu den Essgewohnheiten von Mistkäfern, eine Studie zu Kopfschmerzen bei Spechten und die Entwicklung eines Schutzmittels gegen herumlungernde Jugendliche – bahnbrechende Studien wie diese sind am Donnerstagabend in Havard mit dem IgNobel-Preis geehrt worden. Die ironische Auszeichnung wird dabei von der wissenschaftlichen Gemeinschaft offensichtlich immer ernster genommen: Acht von zehn IgNobel-Preisgewinnern reisten für die zweistündige Zeremonie auf eigene Kosten an. Während alle Welt auf die Gewinner der diesjährigen Nobelpreise der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Stockholm blickt, zeigte die Preisverleihung in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts, welch skurrile Blüten die Wissenschaft treiben kann: Die US-Forscher Ivan Schwab und Philip May erhielten den Preis für Ornithologie für ihre Arbeiten über die Fähigkeit von Spechten, beim Baumklopfen Kopfverletzungen zu vermeiden. Der Ernährungspreis ging an Forscher aus Kuwait, die nachgewiesen haben, dass Mistkäfer ihre Mahlzeiten durchaus penibel auswählen.

Howard Stapleton aus Wales wurde für seine Entwicklung eines Schutzmittels gegen Herumlungernde mit dem Friedens-IgNobel-Preis ausgezeichnet: Das Gerät gibt einen nervtötenden Ton von sich, den nur Jugendliche hören können, nicht aber Erwachsene. Im Anschluss entwickelte Stapleton Handy-Klingeltöne, die nur Schüler hören, während ihre Lehrer sie nicht wahrnehmen. Im Fachbereich Biologie wurden vergleichende Forschungen zur Anziehungskraft von Limburger Käse und menschlichen Füßen auf weibliche Malariamücken ausgezeichnet. Das Ergebnis: Beide ziehen die Tiere gleichermaßen an. Francis Fesmire von der University of Tennessee wurde mit dem IgNobel-Preis für Medizin ausgezeichnet. Er hatte mögliche Therapiemethoden für hartnäckigen Schluckauf durch rektale Fingermassage untersucht. In seiner Dankesrede scherzte der mit Latexhandschuhen bewehrte Fesmire, er habe nach der Nachricht vom Preis zuerst eine Reise nach Stockholm gebucht, bevor er bemerkt habe, dass er nur den IgNobel-Preis erhalten habe.

Drei US-Forscher wurden für die Untersuchung der Frage geehrt, warum Menschen das Geräusch von kratzenden Fingernägeln auf einer Tafel nicht leiden können – und regten das Publikum bei der Verleihung dazu an, genau dieses Geräusch im Saal nachzuahmen. Der Physik-IgNobel ging an Basile Audoly und Sebastien Neukirch aus Paris für ihre Untersuchungen, warum trockene Spaghetti meist in mehr als zwei Teile zerbrechen.

Für ihre Reden hatten die Preisträger genau eine Minute Zeit. Kontrolliert wurden sie dabei von einem achtjährigen Mädchen, das nicht auf den Mund gefallen war. Die Teilnehmer der Zeremonie widersetzten sich neuen Sicherheitsregeln, nach denen sie nicht mehr Papierflugzeuge auf die Bühne werfen sollten. Ebenfalls den Traditionen entsprechend fegte Havard-Professor Roy Glauber während der Feier unentwegt die Bühne. Das englische „ignoble“ bedeutet „schändlich“, oder „unwürdig“.
AFP
(07.10.2006)

Warum ich gehe: Bassam Tibi (Tagesspiegel)

Warum ich gehe
Bittere Bilanz nach 44 Jahren Deutschland: Dieses Land gibt Zugewanderten keine Identität
Von Bassam Tibi

Als ich neulich bei einer Podiumsdiskussion in Berlin mit Bundestagspräsident Norbert Lammert in einem Nebensatz meine geplante Auswanderung in die USA erwähnte, ahnte ich nicht, dass dies als Zeitungsmeldung durch das Land gehen würde. Seitdem schreiben mir viele Deutsche mit der Bitte, ich möge bleiben. Doch es gibt auch andere – Deutsche wie Ausländer –, die die Chance nutzen, um mich in den Dreck zu ziehen. Ein „Zeit“-Autor, der mich zuvor in der Überschrift seines Artikels als „schwer integrierbar“ und „semi-wissenschaftlich“ diagnostizierte, verabschiedete mich hämisch: „Der Erfolg sei ihm gegönnt.“ Auf noch niedrigerem Niveau beglich das „Göttinger Tageblatt“ alte Rechnungen und ließ einen ehemaligen Doktoranden, der zehn Jahre für seine Dissertation benötigte, unter der Überschrift „Niemand wird Tibi vermissen“ über mich schreiben.

Meine Auswanderung, dies vorweg, ist nicht vorrangig durch das Göttinger Elend bedingt, wo ich laut Universitätspräsident zu den „Schwachstellen“ gehöre, die es „auszumerzen“ gilt. Das deutsche Universitätssystem ist offen und ermöglicht seinen Angehörigen, weltweit zu forschen.

Nein, der Hauptgrund ist ein anderer: Auf Dauer fühle ich mich fremd in diesem Land und werde entsprechend behandelt. Ich wandere aus, weil ich dieses Fremdsein nach 44 Jahren nicht mehr ertrage. Klar ist, dass ich, der schwer Integrierbare, kein Einzelfall bin. Die Mehrheit der hier lebenden „Ausländer“ ist als fremd einzuordnen; selbst ethnisch Deutsche aus Zentralasien, die auf der Basis ihres angeblich deutschen Blutes hineingelassen wurden, entdecken hier ihr Russischsein und fühlen sich genauso wie ich. Warum? Weil uns dieses Land keine Identität gibt. Dem „Spiegel“ sagte ich: „Wenn die Deutschen nach Auschwitz keine Identität haben, wie können sie dann Fremden eine geben?“ Statt zusammen mit uns Fremden an der Entfaltung einer zivilgesellschaftlichen Bürgeridentität zu arbeiten, entwickeln sich „die Deutschen“ – so der prominente Deutsche Mario Adorf – zu einem „Volk von Miesmachern“.

Ich wandere auch aus, weil ich glaube, Deutschland mehr zu lieben, als viele Deutsche es je getan haben. Aber ich habe es satt, ein „Syrer mit deutschem Pass“ zu sein, der seinem miesepetrigen Gastvolk dafür danken soll, dass ihm die Erfüllung des „deutschen Bürgertraums“ (laut „Zeit“-Artikel) gewährt wurde. Das Leben als C3-Professor an der Provinzuniversität Göttingen als „deutschen Bürgertraum“ zu bezeichnen, ist erbärmlich. Vor 1933, als jüdische Gelehrte an ihr wirken durften, hatte diese Universität einen großen Namen. Seit deren „Ausmerzung“ ist sie nicht mehr das, was sie einmal war. Warum habe ich es so lange in Göttingen ausgehalten? Ich blieb aus Liebe zu meiner Göttinger Frau, die an ihre Familie gebunden war. Und: Deutschland ist größer als Göttingen, bloß nicht für Ausländer. Auch meine Liebe zur deutschen Sprache und Kultur hat mich in diesem Land gehalten.

Was den Fremden – und vielen deutschen Weltbürgern – in der politischen Kultur Deutschlands fehlt, ist das, was die Amerikaner „sense of belonging“ (Zugehörigkeitsgefühl) nennen. Wenn nach 40 Jahren des Schaffens an einem modernen Islam, an Konzepten der Integration und an einem zivilgesellschaftlichen Konsens meine Bücher als „semi-wissenschaftlich“ tituliert werden, wenn der Bundestagspräsident die Leitkulturdebatte – ohne meinen Namen als Schöpfer des Begriffs zu nennen – neu beleben will, die Kanzlerin mich von ihrem Integrationsgipfel ausschließt und der Innenminister einen verhunzten deutschen Islam dem europäischen Islam vorzieht, dann frage ich mich, was ich hier noch soll.

In Harvard wirkte ich parallel zu Göttingen. Hier habe ich die besten Jahre meines akademischen Lebens (1982–2000) verbracht; keine deutsche Universität hat mir Ähnliches geboten. In eine deutsche Professorenschaft kommt man als Ausländer kaum je hinein.

Dennoch möchte ich Deutschland nicht verlassen, ohne ein Liebesbekenntnis auszusprechen. Es ist freilich eine Liebe, die ein kulturpsychologisch beschädigtes, also liebesunfähiges Volk nicht erwidern kann: Trotz aller Kränkungen bedeutet mir dieses Land – und noch mehr seine Sprache und seine Kultur – außerordentlich viel. Obwohl Arabisch meine Muttersprache ist, in die ich durch Auswendiglernen des Korans sozialisiert worden bin, spreche ich heute Arabisch mit deutscher Intonation – ebenso wie Englisch und Französisch, also die beiden Sprachen, die ich in der Schule in Damaskus gelernt habe.

Und zuletzt: Ich wünsche Deutschland mit seinen zwanzig Prozent Bewohnern mit Migrationshintergrund, die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben zu finden – und keine Intifada der Muslime zu erleben wie 2005 in Paris. Ohne Zivilisationsbewusstsein (der vor 600 Jahren verstorbene islamische Philosoph Ibn Khaldun nennt dies „Asabiyya“) und Identität geht dies nicht. Ich wünsche den Deutschen, kein „Volk von Meckerern und Miesmachern“ zu sein. Vor 1933 hatten sie bessere Zeiten, weil sie das „Volk der Dichter und Denker“ waren. Dies sehe ich heute nicht mehr.

Der Autor ist A. D. White Professor-at-Large an der Cornell University/USA und Autor des Buches „Europa ohne Identität?“
(07.10.2006)

Thursday, October 05, 2006

Hetze am Spielfeldrand (Tagesspiegel)

Hetze am Spielfeldrand
Lange haben sich Rassisten und Antisemiten beim Fußball unbehelligt breit gemacht – jetzt soll es härtere Strafen geben
Von Mathias Klappenbach und Lars Spannagel

Berlin - Bei einem Einwurf in der 78. Minute beim Stand von 1:4 hatte die Mannschaft vom TuS Makkabi II genug. Und ging vom Platz. Im Spiel der Kreisliga B am 26. September beim VSG Altglienicke II sollen die Spieler des jüdischen Vereins zuvor massiv beschimpft und bedroht worden sein. „Es herrschte eine pogromartige Stimmung, 10 bis 15 Zuschauer haben die übelsten Sprüche abgelassen“, berichtet Tuvia Schlesinger, der Vorsitzende des TuS Makkabi.

Bekannt sind die Krakeeler in Altglienicke angeblich nicht, Trainerin Kerstin Forchert spricht auch nur von einem Störenfried: „Der muss wohl gezielt gekommen sein, um Krawall zu machen.“ Ähnliche Vorfälle habe es in Altglienicke noch nie gegeben. Spieler von Makkabi gaben an, Parolen wie „hier regiert die NPD“, „vergast die Juden“ und „Auschwitz ist wieder da“ seien gegrölt worden. Schiedsrichter Klaus Brüning ließ die Partie laufen, bis Makkabi das Spielfeld verließ. Er habe von den Pöbeleien nichts mitbekommen: „Auf dem Spielfeld war alles fair, das ist für mich das Wichtigste.“ Brüning zeigte einem Makkabi-Spieler die Gelb-Rote Karte wegen Unsportlichkeit, als dieser seine Mannschaftskameraden dazu aufforderte, das Spiel abzubrechen.

Am 13. Oktober beschäftigt sich ein Sportgericht mit dem Fall. Bei der Bewertung wird es die neuen Regularien gegen Rassismus im Fußball berücksichtigen müssen. Sie sind einfach und die Strafen hart: „Verhalten sich Spieler, Offizielle oder Zuschauer in irgendeiner Form rassistisch oder menschenverachtend (…), werden der betreffenden Mannschaft, sofern zuordenbar, beim ersten Vergehen drei Punkte und beim zweiten Vergehen sechs Punkte abgezogen. Bei einem weiteren Vergehen erfolgt die Versetzung in eine tiefere Spielklasse.“

So steht es im neuen Disziplinarreglement des Fußball-Weltverbandes Fifa, der sich den Kampf gegen Rassismus auf die Fahne geschrieben hat. Und zwar mit null Toleranz. Vor einem Monat hat auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) die entsprechenden Paragrafen, wie von der Fifa vorgeschrieben, in seine Rechts- und Verfahrensordnung übernommen. Theoretisch könnte es also ausreichen, wenn wenige Menschen in einem Fußballstadion oder auf einem kleineren Fußballplatz üble Parolen skandieren oder entsprechende Transparente entrollen, um einem Verein nachhaltig Schaden zuzufügen. In der Praxis stellt sich natürlich die Frage der Verhältnismäßigkeit von Tat und Bestrafung, denn eine Handvoll Rechtsradikaler soll ja auch nicht die Macht bekommen, dem FC Bayern die Meisterschaft wegzunehmen.

Denn der Rassismus ist an vielen Orten und in allen Ligen präsent, auch in Zeiten des friedlichen und positiven Fußball-Patriotismus, der gerade im Kino in dem WM-Film „Deutschland. Ein Sommermärchen“ noch einmal zu bestaunen ist. Die zweite Mannschaft von Hansa Rostock musste beispielsweise 20 000 Euro Strafe zahlen und ein Meisterschaftsspiel vor leeren Rängen austragen, weil im DFB-Pokalspiel Schalkes Gerald Asamoah mit Affenlauten verhöhnt worden war. Ein Strafmaß, das den neuen Regeln entspricht, denn vor dem oben aufgeführten restriktiven Paragrafen der Fifa ist auch noch einer mit dieser Mindeststrafe aufgeführt. Der Bundesligaverein Alemannia Aachen musste 50 000 Euro zahlen, als vor ein paar Wochen „Asylant“ im Fanblock skandiert wurde, gemeint war wohl Gladbachs brasilianischer Stürmer Kahe. Aus dem Block der Gladbacher wurde Aachens sambischer Verteidiger Moses Sichone beschimpft, das kostete den Verein 19 000 Euro.

Beim nächsten Heimspiel präsentierten die Aachener einen Anti-Rassismus- Spot der Mannschaft, sicher aus ehrlicher Überzeugung. Im Wiederholungsfalle droht den Aachenern allerdings auch bereits ein Punktabzug. Zumindest bei strenger Auslegung der Regeln, denn der europäische Verband Uefa und auch der DFB erwirkten eine Erweiterung: „Eine Strafe (…) kann gemildert werden oder von einer Bestrafung kann abgesehen werden, wenn der Betroffene nachweist, dass ihn für den betreffenden Vorfall kein oder nur geringes Verschulden trifft.“

Bei der VSG Altglienicke entschuldigte sich der Jugendkoordinator noch am Abend des Spiels beim TuS Makkabi, nachdem er von den Vorfällen gehört hatte, mit einer E-mail. „Die kommen hier von der Straße, überfallen den Verein und sind nächste Woche wieder woanders“, sagt Sven Klebe. „Am Tag darauf waren wir dann aber darauf vorbereitet, dass sie wiederkommen.“

Es gibt bei vielen der größeren Vereine schon seit langer Zeit Fanprojekte gegen Rassismus, und unter den Stadionbesuchern in den höheren Ligen soll mit Durchsagen und Spots ein Bewusstsein geschaffen werden. Beim deutschlandweiten Bündnis Aktiver Fußball-Fans Baff hofft man darauf, dass „vernünftige Fans die anderen übertönen“, wie Christopher Zenker sagt. „Auch wir sind für eine Verhältnismäßigkeit. Wenn drei oder fünf rufen, darf dafür nicht ein ganzer Verein bestraft werden. Bei 50 sieht die Sache schon anders aus, weil sich auch die Vereine kümmern müssen.“

Durch die Möglichkeit zur Strafmilderung soll es den Sportgerichten möglich sein, im Einzelfall mehr Entscheidungsspielraum zu gewinnen. Ein Nazi-Shirt bedeutet nicht gleich Punktabzug. „Es besteht nur geringe Erfahrung mit den neuen Regeln. Unsere Rechtsprechung muss im Laufe der Zeit eine Linie entwickeln, die Berücksichtigung der Individualschuld und die Verhältnismäßigkeit müssen gewahrt werden“, sagt Goetz Eilers, der Chefjustitiar des DFB.

Diese große Linie gibt es noch nicht. Die Aufmerksamkeit für rassistische Vorfälle ist mit den neuen Regeln und den ersten Strafen aber größer geworden. DFB-Präsident Theo Zwanziger hat in seinem Urlaub Hans-Georg Moldenhauer kontaktiert, den Chef des Nordostdeutschen-Fußballverbandes. In Moldenhauers Zuständigkeitsbereich fällt, dass am vergangenen Wochenende wie schon ein halbes Jahr zuvor beim Spiel zwischen Sachsen Leipzig und dem Halleschen FC Leipzigs Spieler Adebowale Ogungbure rassistisch beleidigt wurde. Vor sechs Monaten war er sogar tätlich angegriffen worden. „Es wird ein Verfahren geben. Dem Halleschen FC droht eine empfindliche Strafe“, sagt Moldenhauer.

Da Halle bislang für die Vorfälle vor einem halben Jahr nur wegen des Abschießens von Leuchtraketen 600 Euro zahlen musste, ist der Verein kein Wiederholungstäter. Wenn die einzelnen Täter keinem Verein zuzuordnen sind, ist nach den Regeln der Heimverein zu bestrafen, der den Rassismus nicht unterbunden hat. In solchen Fällen sind laut Justitiar Eilers „sorgfältigste Ermittlungen“ gefragt. Die Strafen für die Vereine können laut der erweiterten Regel milder ausfallen oder nicht ausgesprochen werden, „insbesondere dann, wenn Vorfälle provoziert worden sind, um gegenüber dem Betroffenen eine Bestrafung zu erwirken“.

Das Spiel in Altglienicke wird wohl gegen Makkabi gewertet werden, weil nicht der Schiedsrichter, sondern Makkabi selbst das Spiel abgebrochen hat. Der Berliner Fußball-Verband gab nach mehreren Aufforderungen durch den Verein am 2. Oktober eine Pressemitteilung heraus, in der er auf den Fall Bezug nimmt und ankündigt, stärker gegen Rassismus vorzugehen. BFV-Präsident Bernd Schultz war gestern nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. Inzwischen ermittelt der Staatsschutz wegen Volksverhetzung und Beleidigung.

„Von mir aus soll das Spiel 0:10 gegen uns gewertet werden“, sagt der Makkabi- Vorsitzende Schlesinger, „die sportliche Seite ist uns völlig egal.“ Einen so schlimmen antisemitischen Vorfall habe es im deutschen Sport seit Ende der Hitlerdikatur nicht gegeben, so Schlesinger.

Liberaler als Blair (Tagesspiegel)

Liberaler als Blair
Der neue Chef der britischen Konservativen ändert das Image seiner Partei
Von Matthias Thibaut, London

Die große Überraschung kam zum Schluss. Mit einem überraschenden Bekenntnis zum Erhalt und Ausbau des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS ging am Mittwoch der Parteitag der britischen Konservativen in Bournemouth zu Ende. „Der NHS ist eine der größten Leistungen des 20. Jahrhunderts“, sagte Parteichef David Cameron in seiner Abschlussrede. Er versprach, den NHS „nie durch ein Abschneiden der Geldmittel zu untergraben“. Der Parteichef fügte hinzu: „Tony Blair erklärte seine Prioritäten einst in drei Worten: Bildung, Bildung, Bildung. Ich kann das mit drei Buchstaben tun: NHS“, sagte Cameron. Er begründete den Schwenk mit persönlichen Erfahrungen, die er im NHS mit seinem viereinhalbjährigen behinderten Sohn Ivan gemacht hat. „Wenn eine Familie sich die ganze Zeit auf den NHS verlässt, Tag für Tag, Nacht für Nacht, dann weiß man, wie wertvoll er ist.“

Es war der letzte und kühnste der Vorstöße, mit denen die Tories in Bournemouth tief in Labours traditionelles Territorium vordrangen und sich als sozialliberale Partei der Mitte präsentierten. Der NHS war jahrelang Labours Wunderwaffe. Noch im letzten Wahlkampf war eine Option zum Verlassen des NHS für privat Versicherte Teil des Wahlprogramms der Konservativen gewesen. Blair präsentiere sich hingegen als Beschützer des Systems, in dem Gesundheitsleistungen direkt aus Steuern finanziert werden und für Endverbraucher kostenlos sind. Doch Defizite, Entlassungen und das halsbrecherische Tempo oft unausgegorener Reformen haben Labours Gesundheitspolitik inzwischen untergraben.

Cameron und seine Vorderbänkler – von denen 15 die Eliteschule Eton absolviert haben – versuchten in Bournemouth, das Image der Konservativen radikal zu ändern, um sie wieder wählbar zu machen. In vielen Bereichen – etwa beim Umgang mit jugendlichen Kriminellen – klingt Frau Thatchers alte Partei plötzlich liberaler als Blairs Regierung, die sich gerne mit populistischen Initiativen gegen Kriminalität profiliert.

Die Tories stellen nun soziale Verantwortlichkeit gegen die Verantwortung des Staates. Lehrer, Ärzte, Polizisten und ihre Institutionen, Kommunen und unabhängige Träger von Sozialleistungen sollen mehr Freiheit erhalten, ihre Erfahrung und Initiative einzubringen. „Man muss nicht immer gleich neue Gesetze erlassen. Manchmal genügt auch, dass man mit guten Beispielen vorangeht“, sagte Cameron in gezielter Kritik der Labourpolitik. Alte Reizthemen der Konservativen, wie die Kritik an der Europäischen Union, die Einwanderung oder die Forderungen nach Steuersenkungen, wurden dagegen auf dem Parteitag in Bournemouth heruntergespielt.

Parteichef Cameron wehrte sich am Mittwoch auch gegen den Vorwurf, er sei ein Imagepolitiker ohne Substanz. Substanz sei mehr als ein Zehn-Punkte-Plan, sagte er. Seine Maxime: „Wissen, was man glaubt und dann seinen Grundsätzen treu bleiben. Sich die Zeit nehmen, die Dinge zu durchdenken, nicht die einfachen Antworten geben, die alle hören wollen.“ Cameron will, bevor er sein politisches Programm konkretisiert, erst einmal abwarten, wohin sich die Labourpartei nach dem Abtreten von Tony Blair bewegt.
(05.10.2006)

Monday, October 02, 2006

Spätsommer (Berliner Zeitung)

Spätsommer
Sönke Wortmann hat einen Film über die deutschen WM-Fußballer gemacht. Es ist das Video zum neuen Patriotismus-Gefühl. Premiere ist am 3. Oktober
Boris Herrmann

BERLIN. Da sitzen sie, die 22 frisch geduschten Nationalspieler und gucken wie kleine Jungs bei der Einschulung, als Angela Merkel den Raum betritt. Gleich wird sich die Regierungschefin fürsorglich nach Philipp Lahms lädiertem Arm erkundigen, es sind ja nur noch wenige Tage bis zum Eröffnungsspiel. Jens Lehmann will wissen, was die Regierung in Sachen Familienpolitik plant, ob es sich lohnen würde, von London zurück in sein Heimatland zu ziehen. Merkel spricht über Kindergeldanspruch und Vaterschaftsurlaub. Wir tun, was wir können, um ihnen zu helfen, ruft die Bundeskanzlerin liebevoll in die Runde. Sie meint natürlich beim Titelgewinn, nicht beim Kindergeld. Aus dem Hintergrund müsste Klinsmann lächeln - Kameraschwenk, Klinsmann lächelt.

Manchmal in diesem Sommer hatte es den Anschein, als gehörten Fußball und Politik tatsächlich ganz fest zusammen. Bisweilen hatte man den Eindruck, als ob Erfolg auf dem Rasen eines nationalen Schulterschlusses bedarf, und dass umgekehrt Tore das beste Mittel sind, um aus einer diffusen Masse eine Nation zu formen. Der Regisseur Sönke Wortmann hat aus diesem Gefühl gerade einen Dokumentarfilm gemacht. "Deutschland. Ein Sommermärchen", heißt er.

Natürlich ist es kein Zufall, dass die Premiere für den 3. Oktober angesetzt wurde. Wenn es in Deutschland um das große Ganze geht, wird selten etwas dem Zufall überlassen. Spätestens als das heilige WM-Jahr 2006 anbrach, hat die hiesige Diskurselite nichts mehr unversucht gelassen, um das Land nach innen wie nach außen neu zu positionieren. Angela Merkel machte in ihrer Neujahransprache den Anfang. "Der Sieger steht für mich jetzt schon fest", sagte sie, "das sind wir, die Menschen in diesem Land, weil wir mit der ganzen Welt ein Fest feiern können." Und Matthias Matussek lieferte mit seinem Buch "Wir Deutschen" zur rechten Zeit den theoretischen Überbau zum so genannten entspannten Patriotismus. Wortmanns Sommermärchen ist so etwas wie der Abschluss dieser gesellschaftlichen Kraftanstrengung. Mit allem, was über die WM berichtet und wiedergekäut wurde, fügt sich der Film als letzter Akt in ein nationales Gesamtkunstwerk ein. Seine Leistung ist, dass er die nahezu epidemische Freude dieses Sommers für alle Zeiten konserviert.

Wer im Juni und Juli in diesem Land weilte, dem konnte kaum entgehen, dass am Brandenburger Tor eine gigantische WM-Kirmes stattfand, dass die schwarz-rot-goldenen Autofähnchen von Aldi reißenden Absatz fanden und dass sich selbst ordnungsliebende Bundeswehreinheiten beim Anblick des DFB-Mannschaftsbusses zur La Ola formierten. Wortmanns Kamera hat in solchen Momenten immer besonders gut hingeschaut. So schwappt der Film von Gefühlswelle zu Gefühlswelle, oder muss man besser sagen: von Nationalfeiertag zu Nationalfeiertag?

Da wäre beispielsweise der 14. Juni, als sich im Vorrundenspiel gegen Polen die Euphorie in einem Abstauber von Oliver Neuville kristallisierte. Oder der 30. Juni, als Jens Lehmann mit einem Spickzettel im Elfmeterschießen gegen Argentinien den Slogan vom Land der Ideen für alle Bürger greifbar machte. Dass Torwarttrainer Köpke die Anweisungen mit Bleistift hingekritzelt hat und sie weder für Lehmann noch für den Kinozuschauer richtig zu entziffern sind, ist zweifellos einer der wertvollsten Beiträge zur nationalen Erinnerungsarbeit, die Wortmann erbracht hat.

Unter diesen Umständen ist es vielleicht schon aus Gründen der Ehrenrettung des 3. Oktober angebracht, das Sommermärchen just an diesem Tag noch einmal beginnen zu lassen. Ausgerechnet der offizielle Nationalfeiertag der Deutschen hat ja seit seinem Bestehen ein Legitimationsproblem - ein wenig WM-Flair kann ihm nur gut tun. So oder so ähnlich dürften in diesen Tagen wohl einige Deutsche denken, die sich sehnsüchtig an das muntere Treiben im Sommer erinnern. Es ist ja dann doch recht schnell Herbst geworden. Im deutschen Fußball und im ganzen Land.

Nach Lage der Dinge hat die Bundesliga von dem WM-Hype wenig bis gar nicht profitiert. Bislang gilt der Zweisatz: je schöner der Rausch, umso schlimmer der Kater. Strahlemann Lukas Podolski fristet inzwischen beim FC Bayern ein Schattendasein auf der Bank. Auch das Party-Hauptquartier Berlin ist farbloser geworden. Gerade haben sie die letzten magentafarbenen Kleckse von der Fernsehturm-Kugel gekratzt, die überdimensionalen Stollenschuhe vor dem Bundeskanzleramt wurden vom Tieflader abgeholt. Der Alltag hat das Land wieder fest im Griff. Nur im Kinosaal lässt sich das Sommermärchen noch ein wenig weiter träumen, hier entfaltet Wortmann einen Hort des schwarz-rot-güldenen Glücks.

Da sich der Filmemacher mit dem Titel schon einmal so eindeutig bei Heinrich Heine unterhakt, sei es erlaubt, eben nachzuschlagen, was der Dichter in seinem Wintermärchen so schreibt: "Fatal ist mir das Lumpenpack/ Das, um die Herzen zu rühren/ Den Patriotismus trägt zur Schau/ Mit allen seinen Geschwüren." Die Sache wird ja nicht uninteressanter dadurch, dass Sönke Wortmann sagt: "Mein Film ist eher als Gegenentwurf zu Heine gedacht." Der Schriftsteller aus Düsseldorf hatte 1843 nach 13 Jahren im Pariser Exil erstmals wieder die deutsche Rheinseite betreten, er fand ein hölzern pedantisches Volk vor, mit rechten Winkeln im Gesicht und warnte souverän satirisch vor der preußischen Zopfigkeit.

Sönke Wortmann, ebenfalls ein Düsseldorfer, rutscht auf seinem Stuhl ganz nach vorne, als sein Sommermärchen mit dem Wintermärchen konfrontiert wird. "Das hölzern Pedantische hat sich ein bisschen geändert. Ich habe das Gefühl, dass die Deutschen in diesem Sommer ein normaleres Verhältnis zu sich gefunden haben." Das sagt einer, der an der Imagekampagne "FC Deutschland 06" mitgearbeitet hat, die später für die Imagekampagne "Land der Ideen" ausgewechselt wurde, und einer, der schon beizeiten für Klinsmann Motivationsvideos zusammengeschnitten hat, die die Spieler vor der Abfahrt in die WM-Stadien bei der Ehre packen sollten. Ursache, Wirkung und Dokumentation der WM-Euphorie gehen bei Sönke Wortmann eine enge Verbindung ein.

Natürlich ist der Dokumentarfilm über die WM 2006 nicht ganz so pathetisch geworden, wie jenes Heldenepos, das er über die WM 1954 gedreht hat - was womöglich daran liegt, dass es diesmal für das deutsche Außenseiter-Team doch nicht ganz zum Titel gereicht hat. Im August 2003 bei der Premierenfeier für "Das Wunder von Bern", musste Kanzler Gerhard Schröder der Überlieferung nach sogar drei Mal vor Rührung weinen. Für manchen war damit der letzte Nachweis erbracht, dass im Wankdorfstadion zu Bern der emotionale Kern der deutschen Volksseele ruht. Nun, Bundeskanzlerin Merkel wird sich die Tränen bei der Premiere zum Sommermärchen am Dienstag gerade noch verkneifen können. Aber im Herbst 2006, soviel steht fest, wird ihre Nation wieder ein Stück näher zusammen rücken. Sie wird vereint vor den Leinwänden sitzen.

Die Schlüssellochperspektive, mit der Wortmann in die Kabine, in die Schlafzimmer, und in den Mannschaftsbus der Nationalelf blickt, ist für Normalsterbliche unbestritten reizvoll. Wenn sich der spätere Torjäger Miroslav Klose mit seinem Hahnenkamm auf dem Kopf in einem Münchner Haarstudio sagen lassen muss, dass er dringend einen Stammfrisör nötig hätte, oder wenn Sturmpartner Oliver Neuville bei der Dopingkontrolle mit seiner Blasenfunktion kämpft, dann funktioniert dieser Film.

Was nicht ganz funktioniert hat, ist Wortmanns Versprechen, die Dokumentation "Les Yeux dans les Bleus" von Stéphane Meunier zu imitieren. Der Franzose hatte zur WM 1998 die Equipe Tricolore auf ihrem Weg zum Titel begleitet und eine atemberaubende Nähe zu Spielern wie Zinédine Zidane oder Thierry Henry entwickelt. "Als ich das gesehen habe, war ich starr vor Schreck", sagt Wortmann. Er konnte sich offenbar auch nicht wieder so weit entkrampfen, um die lockere Filmsprache seines französischen Vorbildes zu finden.

Meuniers Film verdient deshalb Anerkennung, weil er so angenehm pathosfrei ist und eigentlich ohne Patriotismus auskommt. Wortmanns Film steht dagegen sinnbildlich für die Stimmungslage des letzten Sommers. Der Versuch, auf Kommando locker zu sein, wirkt verkrampft. Zumal der entspannte Patriotismus bei Jürgen Klinsmanns Kabinenansprachen rustikal daher kommt. Vor dem Gruppenspiel gegen Polen brüllt der Bundestrainer in die Runde: "Die stehen mit dem Rücken zur Wand und wir knallen sie durch die Wand hindurch." Gegen Ecuador gibt er den Spielern mit auf den Weg: "Denen müssen wir auf die Fresse geben."

Man kann Klinsmann diese Ausdrücke nicht übel nehmen, sie folgen der Logik des Kampfspiels Fußball. Solche Dinge wurden aber weitgehend unterschlagen, wenn Politiker und Wirtschaftsleute im WM-Jahr bei jeder Gelegenheit von der integrativen Funktion des Spiels schwärmten. Aber es ist heute ja so, dass nur noch der geringste Teil dessen, was wir als Fußball bezeichnen, auf dem Rasen stattfindet: Fußball ist auch im Süßwarenregal, in Fernsehtalkshows und im Bundestag. Die WM in Deutschland musste daher von Anfang an mehr leisten, als einfach nur einen Weltmeister finden. Und es überrascht nicht, dass ein Dokumentarfilm über diese WM nicht einfach nur ein Dokumentarfilm sein darf.

Nur zwei Szenen haben den Schneideraum überlebt, in der mal nicht alle, wie Klinsmann so gerne sagte, super gut drauf sind. Einmal agitieren Michael Ballack und Oliver Kahn gegen die Idee, nach dem letzten Auftritt gegen Portugal am Brandenburger Tor in der Massenhysterie zu baden. "Das nervt doch richtig", wettert Ballack vergeblich.

Das andere Mal sitzen die deutschen Nationalspieler schweigend in der Kabine. Gerade haben sie 0:2 gegen Italien verloren, der Traum ist zu Ende. Einige Köpfe stecken unter Frottéhandtüchern, niemand wagt es, einen Laut von sich zu geben. Ganz hinten in der Ecke kauert der im Halbfinale gesperrte Torsten Frings und kämpft mit den Tränen. Dann betreten nacheinander Horst Köhler und Angela Merkel die Umkleidekabine. Der Bundespräsident schüttelt ein paar schlaff herunterhängende Hände, die Kanzlerin sagt: "Es kann doch auch etwas Schlimmeres passieren, als Dritter zu werden" und lächelt entspannt patriotisch in die Runde. Es ist jener Moment, in dem der dringende Verdacht aufkommt, dass Fußball und Politik gar nicht so viel miteinander zu tun haben.
Berliner Zeitung, 02.10.2006

Die kleinen Prinzen (Tagesspiegel)

Die kleinen Prinzen
„Deutschland, ein Sommermärchen“: Sönke Wortmann hat die Nationalelf durch die WM begleitet
Von Jan Schulz-Ojala

Unter uns Bildungsbürgern: Der große cineastische Komplementärwurf zu Heinrich Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ ist Sönke Wortmanns Film nicht. War jenes Versepos der garstige Verriss eines zeitweiligen Heimkehrers, ist „Deutschland. Ein Sommermärchen“ nicht jene Hymne auf unser wunderbar ausgeflipptes Land im Frühsommer ’06, die der Titel vielleicht erwarten ließe. Der Film erklärt nicht, warum Deutschland so verzaubert war, und zeigt auch nur am Rande, wie verzaubert es war. Und er hütet sich, deuten zu wollen, wie dieses sonst gern wintergriesgrämige Land plötzlich selber alle Welt zu verzaubern imstande war – eine Nation aus Dutzenden von Nationalitäten, die sich auch als Nummer drei feiern konnte, von einem wunderbar fröhlichen Fieber namens Fußball ergriffen.

Das große Familienalbum der Deutschen aus jenen Sommertag- und nachtträumen also ist der Film nicht geworden. Aber das macht überhaupt nichts – wahrscheinlich lagert diese aus tausenderlei Details bestehende gigantische Doku ohnehin auf ewig ungeschnitten im kollektiven Erinnerungsschatz. Wortmann hat stattdessen das offizielle Homevideo der Nationalmannschaft gedreht, ein mal mitreißendes, mal ein bisschen auf der Stelle tretendes, oft lustiges, immer wieder erhellendes und mitunter heftig bewegendes Dokument – mehr kann sich eine Nation zum gemeinschaftlich erwärmend-erheiternden herbstlichen Kino-Nachsitzen kaum wünschen. Und ihm ist es, davon zeugen nicht nur Lobreden aller Beteiligten, tatsächlich gelungen, sich mit seiner Digicam mitten im wachsenden Stress des Ereignisses so unsichtbar wie möglich zu machen: Wortmann, der Ex-Fußballer (bei der Spielvereinigung Erkenschwick), der mit „Das Wunder von Bern“ (2003) das fußballfilmische Empfehlungswerk par excellence und mit seinem Dreh beim Confed-Cup 2005 einen überzeugenden einstündigen Probefilm vorgelegt hatte.

Das „Sommermärchen“, immer nah, aber nie zu nah an seinen Akteuren (meist führt Wortmann selbst die Kamera, für Außenaufnahmen kam Frank Griebe hinzu), funktioniert überwiegend chronologisch – mit der klügsten, sensibelsten Ausnahme gleich zu Beginn. Die ersten, unendlich langen Sekunden zeigen aus der Innensicht der Mannschaft den auch aus jeder Fan-Chronologie dieser WM für immer herausfallenden Schock, als der Doppelschlag der Italiener alle deutschen Finalträume zunichte machte. Lähmung. Schweigen. Vereinzelung. Stille in der Kabine. Viel später kommt der Film auf diesen traumatischen Moment zurück, bettet ihn ein in das insgesamt charismatische Geschehen – und löst die Vereinzelung durch Trainertrost und rekapitulierende Spielererinnerung in Ansätzen auf.

Doch nur für die Fans ging das Sommermärchen bis zum finalen Bälleschießen am Brandenburger Tor weiter – sehr fein zeigt Wortmann dagegen den Riss, der nach dem entscheidenden sportlichen Aus durch die Mannschaft ging. Prägnantestes Beispiel: Fast zögernd und einzeln treten die Spieler vorm Kleinen Finale gegen Portugal ans Stuttgarter Hotelfenster, wo sie eine Menschenmenge feiert. Für einen Augenblick, es ist vielleicht das kleine Wunder von Stuttgart, wird gerade aus der Kulisse physisch erlebbar, wie die enthusiastischen Fans die Spieler mit sich selbst versöhnen.

Vorher: der niemals indiskrete Schlüssellochblick. Die kleinen, hochbezahlten Gladiatorenprinzen und ihr heiteres Bespielen der preußischen Festung namens Grunewalder Schlosshotel (mit Bastian Schweinsteiger in der Hauptrolle des Klassenclowns, am unfreiwillig überzeugendsten, wenn er das Wort „Philosophie“ auszusprechen sucht). Die semiprivaten Augenblicke auf den Knet- und Streckbänken (erfreutes weibliches Aufraunen bei der Pressevorführung!). Klinsmanns ulkiger Schrei beim Tischtennis – und sein sehr gefühltes Alleinsein in der Kabine unter den langsam hinausgehenden Spielern, wenn alles gesagt ist. Der historische Glückwunsch von Kahn: vielleicht doch nur eine Geste, durch keinerlei anderweitige Wärme abgefedert. Und so fort. In seinen zahlreichen starken Momenten schärft der Film die kollektive Erinnerung, indem er sie aus notwendig anderer Perspektive umformt, ohne sie zu zerstören.

Nun hat Sönke Wortmann das Genre des weltmeisterlichen Nachbereitungsdokumentarfußballfilms nicht erfunden, sondern sich, formal verblüffend treu, an Stéphane Meuniers „Les yeux dans les bleus“ (1998) gehalten. Gerade wegen der Parallelen – viel Alltag abseits der Spiele, Einschwör- und Einpeitschrituale der Trainer vorneweg und Halbzeitimpressionen aus der Kabine, während von den Spielen selber nur die Top-Torszenen in musikuntermalter Zeitlupe zwischengeblendet werden – lohnt der Blick auf signifikant Abweichendes. Kann es sein, dass die Franzosen, damals WMGastgeber und spätere Weltmeister, sich schon im Anlauf abseits der „Arbeit“ insgesamt mehr gefreut haben – symbolisiert etwa durch eigene postviktoriale Hüpfgrölsongs in der Kabine statt der doch sehr sedierenden deutschen Xavier-Naidoo-Melancholie? Und warum musste Klinsmanns Wortwahl bei der Charakterisierung der Gegner mitunter fast brutalstmöglich sein – wenn der Appell an eigene Spielerqualitäten ebenso zum Erfolg führen kann, wie der französische Trainer Aimé Jacquet es beispielhaft vorführt?

Egal. Das Sommermärchen bleibt. Das Märchen eines Landes, das nicht bloß „wieder wer“ ist wie damals nach dem Sieg von Bern, sondern sich sogar leisten konnte, nicht alle anderen als Verlierer nach Hause zu schicken. Und sich trotzdem freute, und wie. Ein Märchen, das ein paar Wochen Wirklichkeit war.

„Deutschland. Ein Sommermärchen“, ab Donnerstag im Kino. „Les yeux dans les bleus“ läuft, Englisch untertitelt, im Central.
(02.10.2006)

Saris, Krach und Chilischoten (Indien)

Saris, Krach und Chilischoten (01.10.2006)

Im Sommer schickte das Goethe-Institut deutsche Autoren nach Indien. Hier schreiben vier von ihnen, was sie am meisten beeindruckte

UNBEUGSAME SCHÖNHEIT

In Indien verwechselt man keine Frau, erklärt mir Maria aus Paderborn, von Ausländerinnen abgesehen. Ausländerinnen fallen dadurch auf, dass sie auch Männer sein könnten. Das versteht hier niemand, es macht sich auch niemand Gedanken darüber, Ausländerinnen sind marginale Erscheinungen. Wenigstens hier in Südindien, in Madras, wo die Engländer an Land gingen, um Indien zu erobern, was ihnen nicht gelungen ist.

Maria kam vor bald 50 Jahren hierher. Sie trägt ihr dichtes Haar in einem langen Zopf, dem man nicht ansehen kann, ob er einst schwarz oder blond gewesen ist. Und sie trägt den Sari, das Gewand der indischen Frau. Inderinnen sprechen anerkennend von ihr als einer Inderin. Maria lächelt dazu wortlos, was eine äußerst höfliche, also sehr verbreitete Art des Reagierens in Indien ist. Chennai, das frühere Madras, ist ihr Zuhause.

In dieser unrettbar chaotisch wirkenden Riesenstadt wehen die Frauen in ihren Gewändern wie Blüten umher, Blüten in allen Lebensstadien, in allen Verfallsstadien. Das schönste, erhabenste und raffinierteste Gewand, was je für Frauen erdacht wurde, ist der Sari. Der Sari in dieser Stadt ist ein Trost, ist Heilsversprechen, die Beschwörung von Schönheit. Er zeugt von einer Erfindungskraft, die blüht wie die tropische Pflanzenwelt, wie die Welt der Korallenriffe, der Feuerwerker, der Mikroorganismen, der Quantenphysiker.

Es gibt ihn stets nur einmal, man findet ihn unter sechs Millionen nicht zweimal gleich. In ihrem in Königsrobenart gewundenen, buntgoldenen Gewand schreiten die Bauarbeiterinnen mit einem Zementeimer auf dem Kopf, wedeln die Putzfrauen mit ihren Rutenbesen herum, schlafen Hunderttausende obdachloser Frauen von Chennai am Bordstein, es erhebt sie. Der Sari verleiht ihnen von Jugend an jene Haltung, in der sie sich vor ihren Göttern und ihren Dienstherren verneigen: ungebeugt. Ich sah keine einzige Frau in der Haltung der Unterwürfigkeit. Maria aus Paderborn hat mir endlich ihren Kleiderschrank geöffnet. Sie verliebte sich in den 50er Jahren in einen Studenten aus Madras, sie wusste nichts von Indien. Ich hatte nicht mal eine Ahnung davon, wie heiß es hier ist, und zwar immer, sagt sie, und ihr Mann mit dem schmalen Gesicht lacht.

Ich kam hier an, und trug vom ersten Tag an den Sari. Bald 50 Jahre lang lerne ich nun schon, eine Inderin zu sein, ohne dass es jemand sieht: das Lernen, sagt sie auf Deutsch.

Und was heißt es, eine Inderin zu sein?

Wenn ich das wüsste, lacht sie, es ist wie mit der Religion, jeden Tag dringst du ein bisschen tiefer ein, unmerklich. Die darin leben, brauchen es nicht, und wir können es nicht. Alles wird gleich falsch, wenn man es versucht festzulegen. Was wisst ihr von Indien – dass es fünf Kasten gibt! Es gibt Hunderte, vielleicht Tausende! An Indien kommt man mit Allgemeinwissen nicht heran, es wird lächerlich, sobald man hier ist.

Und jetzt zeige ich dir etwas, und sie öffnet ihren Kleiderschrank. Auf 20 Hosenbügeln hängen 40 Zentimeter lange Schals, ein Schrank voller Halstücher auf Kleiderbügeln, nach unten leer.

Das sind sie, alle meine Saris!

Maria lächelt mich liebevoll und spöttisch an. So zusammengefaltet stellen sich Europäer Indien vor, um es verstehen zu können … Angela Krauß, Chennai
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„BITTE HUPEN SIE“

Im Prinzip gibt es in Indien nur zwei Verkehrsregeln:

1. Stoße mit niemandem zusammen, der vor dir ist. Alles andere sei dir egal.
2. Rechne immer damit, dass jemandem hinter dir Regel Nummer eins egal ist.

Wer diese beiden Regeln beachtet, kann sich in indischen Städten so entspannt bewegen wie im Grunewald. Theoretisch. In der Praxis jedoch, lasse ich mich erst mal von Jude, dem Fahrer des Goethe-Instituts, in einem Kleinbus namens „Siddharth Tempo Traveller“ umherfahren. „Wer in Pune Auto fahren kann, kann überall Auto fahren“, sagt Jude und schiebt sich durch das Gewühle aus Porsche-Jeeps, schlammverkrusteten Bussen, Motorrädern, Schubkarren, Autorikschas und bettelnden Kindern auf eine Kreuzung, an der die Ampeln ausgefallen sind. Jemand klopft an mein Fenster und will mir eine Ausgabe der indischen Elle verkaufen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich auf mich allein gestellt diese Kreuzung überqueren müsste und denke: „Wer in Berlin zu Fuß gehen kann, kann noch längst nicht überall zu Fuß gehen.“

Am Abend meines zweiten Indientages bitte ich Jude, mich nicht am Hotel abzusetzen, sondern vor dem Kaufhaus Pune Central auf der anderen Seite der Hauptverkehrsstraße Bund Garden Road. Dort möchte ich Cola und Salzstangen kaufen, für den Fall, dass ich Durchfall bekommen sollte. Da es keine Salzstangen gibt, kaufe ich die indonesischen Hup-Seng-Salzkräcker und Minze-Koriander-Streichkäse. Und ungefähr zehn Flaschen Wasser – man weiß ja nie. Meine Einkäufe werden eingepackt, die Tüten mit Plastikband so fest verschlossen, dass ich sie später im Hotel aufreißen muss, dann vermerkt die Kassiererin auf dem Bon die Anzahl meiner Einkaufstüten. Überall Wachleute, Angestellte. An der Tür zum Fahrstuhl steht eine ältere Frau, die die Anzahl meiner Tüten prüft und das Wort EXIT auf den Kassenbon stempelt.

Wer sich mal richtig wie ein bescheuerter Europäer vorkommen möchte, sollte nach Einbruch der Dunkelheit vor der Pune Central Mall mit zwei riesenhaften Einkaufstüten die Bund Garden Road überqueren. Ja ich weiß, in Paris ist auch viel Verkehr, aber vergessen Sie Paris! Jede Lücke, die Lkw und Pkw hier lassen, füllt sich sofort mit Motorrädern und Autorikschas, deren Licht nur im Idealfall funktioniert. Ich folge einem Einheimischen bis zur Mitte der Straße, wonach dieser in einer – wie gesagt eigentlich gar nicht vorhandenen – Lücke zwischen zwei Autorikschas verschwindet und ich mit meinen Tüten zurückbleibe.

Über das Hupverhalten haben sich schon viele schreibende Indienfahrer geäußert. Ich habe Ilija Trojanows „Ich hupe, also bin ich“ nichts hinzuzufügen: Die Leute hupen hier, damit andere Verkehrsteilnehmer merken, dass es sie gibt. Hinten auf einem Lastwagen sah ich sogar einen Aufkleber: „Please Honk.“

Was mich an ein sehr schönes Lied von den Silver Jews erinnert. Es heißt: „Honk if you’re lonely tonight.“ Diesem Gedanken nachhängend öffne ich, wohlbehalten in meinem Hotelzimmer angekommen, eine Flasche des indisch-schottischen WhiskyJoint-Ventures Royal Challenge und sehe aus dem Fenster. Unten, vor dem „authentic Italian restaurant“ La Pizzeria, fährt ein Kleinwagen der Marke Maruti Suzuki rückwärts aus einer Parklücke und gibt dabei in fiepsigem Grußkartenton die Melodie von „Santa Claus is coming to town“ von sich. Ich wusste ja, dass hier alles anders ist, aber nun bekomme ich den Verdacht, dass hier alles ganz anders ist, als ich erwartet hatte.
Kristof Magnusson, Pune
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JOGHURT FÜR DIE LÄDIERTE ZUNGE

Auf der Dachterrasse des „Southern Spice“, einem Restaurant für traditionelle Andrah Pradesh Küche, formte die Hitze grüne Teigtaschen aus den Blättern der umherstehenden Topfpflanzen. Der Kellner, ein hagerer, leicht ergrauter Mann mit tiefen Furchen im Gesicht und schwarzen, dünnen Streifen auf der schillernden Weste, brachte zwei Silbertabletts mit hohem Rand, auf denen kleine Schälchen standen. „Essen“, sagte er, dann zog er sich zurück, blieb am Ende der Terrasse stehen und schaute lauernd zu unserem Tisch herüber. Außer Amita Desai und mir waren nur zwei weitere Gäste anwesend. Die beiden indischen Männer hatten ihr Mahl aber bereits beendet und tranken Wasser, in dem sie die Becher nie bis an die Lippen führten, sondern deren Inhalt aus zwei, drei Zentimeter Entfernung in den nach oben geöffneten Mund kippten, ohne dass ein Tropfen daneben gelandet wäre. „Das gilt in Indien als besonders vornehm und hygienisch“, sagte Amita und nahm aus jedem Schälchen eine kleine Portion auf ihren Teller. Neben Reis gab es Gatti Vankai Kura (ein Auberginen-Curry) verschiedene gebratene Gemüse, potatoe fry andhra style, Rasam und Sambhar (unterschiedliche Gemüsesuppen auf Linsenbasis), Chutney, Pickels und eine Joghurt-Sauce mit Gurken, deren Funktion mir bald klar wurde.

Erst aber führte ich meinem Gaumen einen Löffel Sambhar zu, ließ die Flüssigkeit kurze Zeit in meinem Mund, ehe ich schluckte. Was ich ohne zu übertreiben behaupten kann, ist, dass ich, obwohl das Gericht nicht sehr heiß war, sofort das Gefühl hatte, meine pilzförmigen Geschmackspapillen trockneten aus, schrumpften und zurück blieben ausschließlich unzählige kleine Brandlöcher, während in meiner Speiseröhre ein nicht mehr aufzuhaltender Hitzeschwall den Weg nach unten nahm. Die Joghurt-Sauce, die ich instinktiv hinterher schob, wickelte sich wie ein weißer Verband um meine lädierte Zunge. Dann machte ich die erste kurze Pause, lehnte mich zurück, öffnete meinen Mund und sog Luft über meinen Zungenrücken. Dabei sah ich Amita an. Auch sie machte ihre erste Pause.

„Findest du es scharf?“, fragte ich.

„Allerdings“, sagte sie.

„Ich dachte, die Inder sind diese Schärfe gewohnt“, hakte ich nach.

„Na ja“, sagte sie, „es soll Inder geben, die immer so scharf essen, stimmt, aber ich habe noch nie einen getroffen.“

Ich lachte, mischte etwas Reis unter das Auberginen-Curry und aß. Der Kellner im Hintergrund nickte zufrieden. Nach fünf, sechs Löffeln schmerzte meine Zunge erheblich, ein Schweißfilm lag auf meinen Wangenknochen, die Lippen versuchten sich nach innen zu rollen wie ausgetrocknetes Laub. Das absolut Faszinierende an diesem Essen aber war, dass die Speisen, trotz der enormen Schärfe, so wohlschmeckend waren, dass ich nicht aufhören konnte, weiter zu essen. In jedem Gericht steckten so viele glückliche Nuancen, dass ich mich auf jeden neuen Löffel freute. Natürlich legte ich viele Pausen ein, belüftete immer wieder meinen Mundraum, begoss meine Geschmacksknospen mit Wasser, aber niemals hätte ich auch nur eine Sekunde daran gedacht, das Mahl abzubrechen. Während sich die Schärfe nach jedem Bissen langsam gleich einem Nebel über der Geschmackslandschaft öffnete, saß ich voller Erwartungen auf dieser Terrasse und staunte über die Fülle der Schattierungen, der Abtönungen, der stilsicheren Spuren in einem kulinarischen Panorama, das ich bislang so noch nie betreten hatte. Zum Schluss biss ich in eine in Salz gelagerte, getrocknete und dann gebratene Chilischote, die knusprig in meinem Mund zerfiel, kaum noch Schärfe besaß und nach Tang und Metall schmeckte. „Dies war das beste Essen, das ich je hatte“, sagte ich zu Amita, „ich möchte es so schnell nicht wieder haben.“
Guy Helminger, Hyberabad
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ZUM BENIMMKURS NACH GOA!

Mumbai ist ein Mann. Er ist laut, er hupt, rülpst und spuckt, röchelt und kratzt sich vollkommen ungeniert unterhalb der Gürtellinie, all das tut er öffentlich. Manchmal, an den Häuserecken, riecht man den Mann. Er sitzt in der Mitte der Eingangstufe vor seinem Dessousgeschäft mit Namen Madonna, hinter und vor und neben ihm BHs und Höschen in den ganzen bunten Frauenfarben. Und man denkt dann wirklich, Madonna mia, wo sind die Frauen und wie kommen sie da durch.

Nein, ich habe mich nicht weiter um den indischen Mann gekümmert, mich sogar geübt im Wegschauen und Weghören, oder ich habe meine kleine Kamera als Schutzschild genutzt, was meistens hervorragend klappte: Wer fotografiert wird, ist ein Objekt. Doch gleich was man tut, den indischen Mann kann man nicht übersehen. Zu manchen Uhrzeiten denkt man ganz Indien sei einer, und freut sich über das kleine farbige Leuchten indischer Frauen dazwischen: Gladiolen im frühen Herbst. Hinzu kommt, dass der indische Mann auf der Straße meist sehr überzeugt ist von seiner Wirkung: Hello Madame, sagt er sofort, wenn seinen Augen nur für einen Moment der weibliche Blick begegnet, manchmal macht er sogar eine Kehrtwende und plappert hinter der Frau her. Die indische Frau weiß das. Die Fremde schaut neugierig alles an, was ihr begegnet, bis sie versteht, dass das hier so einfach nicht geht: An den Männern muss man genauso tough vorbeischauen wie vorbeigehen, wenn man in Ruhe durch die Stadt kommen will. Spätestens an Tag acht ist das aber gelernt.

Einmal machte ich den Frauen in einem Deutschkurs die Straßen-Geräusche der indischen Männer vor, zumindest versuchte ich es: Schleim hochziehen, ausspucken. Die Geräusche kriegte ich milde aber doch einigermaßen nachvollziehbar hin, zu rülpsen versuchte ich erst gar nicht. Aber die Frauen haben mich trotzdem verstanden. Sie lachten. Sie wussten, dass das so ist. Die indischen Männer sind schlecht erzogen, generalisierte ich. Sie lachten wieder; eine ratlose Geste. Am Anfang meiner vier Wochen hätte ich am liebsten Gummistiefel getragen, ich setzte meine Schritte etwas angeekelt zwischen die roten Betelspuren auf dem Teer; in Indien herrscht Linksverkehr, der Taxifahrer kaut Pan und spuckt aus dem Fenster, die Spuren kleben am Taxi und am Straßenrand. An einem Tag, schon in der zweiten Hälfte meines Aufenthalts, als das Hochgefühl, das so viel Fremdes und Neues zuerst einmal ausgelöst hat, etwas abebbte, hätte ich vermutlich Feuer gespien, wäre mir einer nur ein bisschen zu nahe getreten, ich konnte diese Männergeräusche nicht mehr hören.

Finden Sie Mumbai nun schlimm? Wollten die Frauen in einem der Goethe-Deutschkurse wissen, und weil ich über dieses Phänomen auch in meinem Tagebuch geschrieben hatte, fragte jemand von der Zeitung dasselbe. Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil, sagte ich und das stimmt. – Dass ich Mumbais Männer aber, bis auf Ausnahmen, gerne zu einem Knigge-Kurs nach Goa schicken würde, ist mir erst später eingefallen. Danach könnte man noch mal über sie reden.
Sandra Hoffmann, Mumbai

(01.10.2006)