Knaller an der Zeitungsfront

Monday, October 02, 2006

Spätsommer (Berliner Zeitung)

Spätsommer
Sönke Wortmann hat einen Film über die deutschen WM-Fußballer gemacht. Es ist das Video zum neuen Patriotismus-Gefühl. Premiere ist am 3. Oktober
Boris Herrmann

BERLIN. Da sitzen sie, die 22 frisch geduschten Nationalspieler und gucken wie kleine Jungs bei der Einschulung, als Angela Merkel den Raum betritt. Gleich wird sich die Regierungschefin fürsorglich nach Philipp Lahms lädiertem Arm erkundigen, es sind ja nur noch wenige Tage bis zum Eröffnungsspiel. Jens Lehmann will wissen, was die Regierung in Sachen Familienpolitik plant, ob es sich lohnen würde, von London zurück in sein Heimatland zu ziehen. Merkel spricht über Kindergeldanspruch und Vaterschaftsurlaub. Wir tun, was wir können, um ihnen zu helfen, ruft die Bundeskanzlerin liebevoll in die Runde. Sie meint natürlich beim Titelgewinn, nicht beim Kindergeld. Aus dem Hintergrund müsste Klinsmann lächeln - Kameraschwenk, Klinsmann lächelt.

Manchmal in diesem Sommer hatte es den Anschein, als gehörten Fußball und Politik tatsächlich ganz fest zusammen. Bisweilen hatte man den Eindruck, als ob Erfolg auf dem Rasen eines nationalen Schulterschlusses bedarf, und dass umgekehrt Tore das beste Mittel sind, um aus einer diffusen Masse eine Nation zu formen. Der Regisseur Sönke Wortmann hat aus diesem Gefühl gerade einen Dokumentarfilm gemacht. "Deutschland. Ein Sommermärchen", heißt er.

Natürlich ist es kein Zufall, dass die Premiere für den 3. Oktober angesetzt wurde. Wenn es in Deutschland um das große Ganze geht, wird selten etwas dem Zufall überlassen. Spätestens als das heilige WM-Jahr 2006 anbrach, hat die hiesige Diskurselite nichts mehr unversucht gelassen, um das Land nach innen wie nach außen neu zu positionieren. Angela Merkel machte in ihrer Neujahransprache den Anfang. "Der Sieger steht für mich jetzt schon fest", sagte sie, "das sind wir, die Menschen in diesem Land, weil wir mit der ganzen Welt ein Fest feiern können." Und Matthias Matussek lieferte mit seinem Buch "Wir Deutschen" zur rechten Zeit den theoretischen Überbau zum so genannten entspannten Patriotismus. Wortmanns Sommermärchen ist so etwas wie der Abschluss dieser gesellschaftlichen Kraftanstrengung. Mit allem, was über die WM berichtet und wiedergekäut wurde, fügt sich der Film als letzter Akt in ein nationales Gesamtkunstwerk ein. Seine Leistung ist, dass er die nahezu epidemische Freude dieses Sommers für alle Zeiten konserviert.

Wer im Juni und Juli in diesem Land weilte, dem konnte kaum entgehen, dass am Brandenburger Tor eine gigantische WM-Kirmes stattfand, dass die schwarz-rot-goldenen Autofähnchen von Aldi reißenden Absatz fanden und dass sich selbst ordnungsliebende Bundeswehreinheiten beim Anblick des DFB-Mannschaftsbusses zur La Ola formierten. Wortmanns Kamera hat in solchen Momenten immer besonders gut hingeschaut. So schwappt der Film von Gefühlswelle zu Gefühlswelle, oder muss man besser sagen: von Nationalfeiertag zu Nationalfeiertag?

Da wäre beispielsweise der 14. Juni, als sich im Vorrundenspiel gegen Polen die Euphorie in einem Abstauber von Oliver Neuville kristallisierte. Oder der 30. Juni, als Jens Lehmann mit einem Spickzettel im Elfmeterschießen gegen Argentinien den Slogan vom Land der Ideen für alle Bürger greifbar machte. Dass Torwarttrainer Köpke die Anweisungen mit Bleistift hingekritzelt hat und sie weder für Lehmann noch für den Kinozuschauer richtig zu entziffern sind, ist zweifellos einer der wertvollsten Beiträge zur nationalen Erinnerungsarbeit, die Wortmann erbracht hat.

Unter diesen Umständen ist es vielleicht schon aus Gründen der Ehrenrettung des 3. Oktober angebracht, das Sommermärchen just an diesem Tag noch einmal beginnen zu lassen. Ausgerechnet der offizielle Nationalfeiertag der Deutschen hat ja seit seinem Bestehen ein Legitimationsproblem - ein wenig WM-Flair kann ihm nur gut tun. So oder so ähnlich dürften in diesen Tagen wohl einige Deutsche denken, die sich sehnsüchtig an das muntere Treiben im Sommer erinnern. Es ist ja dann doch recht schnell Herbst geworden. Im deutschen Fußball und im ganzen Land.

Nach Lage der Dinge hat die Bundesliga von dem WM-Hype wenig bis gar nicht profitiert. Bislang gilt der Zweisatz: je schöner der Rausch, umso schlimmer der Kater. Strahlemann Lukas Podolski fristet inzwischen beim FC Bayern ein Schattendasein auf der Bank. Auch das Party-Hauptquartier Berlin ist farbloser geworden. Gerade haben sie die letzten magentafarbenen Kleckse von der Fernsehturm-Kugel gekratzt, die überdimensionalen Stollenschuhe vor dem Bundeskanzleramt wurden vom Tieflader abgeholt. Der Alltag hat das Land wieder fest im Griff. Nur im Kinosaal lässt sich das Sommermärchen noch ein wenig weiter träumen, hier entfaltet Wortmann einen Hort des schwarz-rot-güldenen Glücks.

Da sich der Filmemacher mit dem Titel schon einmal so eindeutig bei Heinrich Heine unterhakt, sei es erlaubt, eben nachzuschlagen, was der Dichter in seinem Wintermärchen so schreibt: "Fatal ist mir das Lumpenpack/ Das, um die Herzen zu rühren/ Den Patriotismus trägt zur Schau/ Mit allen seinen Geschwüren." Die Sache wird ja nicht uninteressanter dadurch, dass Sönke Wortmann sagt: "Mein Film ist eher als Gegenentwurf zu Heine gedacht." Der Schriftsteller aus Düsseldorf hatte 1843 nach 13 Jahren im Pariser Exil erstmals wieder die deutsche Rheinseite betreten, er fand ein hölzern pedantisches Volk vor, mit rechten Winkeln im Gesicht und warnte souverän satirisch vor der preußischen Zopfigkeit.

Sönke Wortmann, ebenfalls ein Düsseldorfer, rutscht auf seinem Stuhl ganz nach vorne, als sein Sommermärchen mit dem Wintermärchen konfrontiert wird. "Das hölzern Pedantische hat sich ein bisschen geändert. Ich habe das Gefühl, dass die Deutschen in diesem Sommer ein normaleres Verhältnis zu sich gefunden haben." Das sagt einer, der an der Imagekampagne "FC Deutschland 06" mitgearbeitet hat, die später für die Imagekampagne "Land der Ideen" ausgewechselt wurde, und einer, der schon beizeiten für Klinsmann Motivationsvideos zusammengeschnitten hat, die die Spieler vor der Abfahrt in die WM-Stadien bei der Ehre packen sollten. Ursache, Wirkung und Dokumentation der WM-Euphorie gehen bei Sönke Wortmann eine enge Verbindung ein.

Natürlich ist der Dokumentarfilm über die WM 2006 nicht ganz so pathetisch geworden, wie jenes Heldenepos, das er über die WM 1954 gedreht hat - was womöglich daran liegt, dass es diesmal für das deutsche Außenseiter-Team doch nicht ganz zum Titel gereicht hat. Im August 2003 bei der Premierenfeier für "Das Wunder von Bern", musste Kanzler Gerhard Schröder der Überlieferung nach sogar drei Mal vor Rührung weinen. Für manchen war damit der letzte Nachweis erbracht, dass im Wankdorfstadion zu Bern der emotionale Kern der deutschen Volksseele ruht. Nun, Bundeskanzlerin Merkel wird sich die Tränen bei der Premiere zum Sommermärchen am Dienstag gerade noch verkneifen können. Aber im Herbst 2006, soviel steht fest, wird ihre Nation wieder ein Stück näher zusammen rücken. Sie wird vereint vor den Leinwänden sitzen.

Die Schlüssellochperspektive, mit der Wortmann in die Kabine, in die Schlafzimmer, und in den Mannschaftsbus der Nationalelf blickt, ist für Normalsterbliche unbestritten reizvoll. Wenn sich der spätere Torjäger Miroslav Klose mit seinem Hahnenkamm auf dem Kopf in einem Münchner Haarstudio sagen lassen muss, dass er dringend einen Stammfrisör nötig hätte, oder wenn Sturmpartner Oliver Neuville bei der Dopingkontrolle mit seiner Blasenfunktion kämpft, dann funktioniert dieser Film.

Was nicht ganz funktioniert hat, ist Wortmanns Versprechen, die Dokumentation "Les Yeux dans les Bleus" von Stéphane Meunier zu imitieren. Der Franzose hatte zur WM 1998 die Equipe Tricolore auf ihrem Weg zum Titel begleitet und eine atemberaubende Nähe zu Spielern wie Zinédine Zidane oder Thierry Henry entwickelt. "Als ich das gesehen habe, war ich starr vor Schreck", sagt Wortmann. Er konnte sich offenbar auch nicht wieder so weit entkrampfen, um die lockere Filmsprache seines französischen Vorbildes zu finden.

Meuniers Film verdient deshalb Anerkennung, weil er so angenehm pathosfrei ist und eigentlich ohne Patriotismus auskommt. Wortmanns Film steht dagegen sinnbildlich für die Stimmungslage des letzten Sommers. Der Versuch, auf Kommando locker zu sein, wirkt verkrampft. Zumal der entspannte Patriotismus bei Jürgen Klinsmanns Kabinenansprachen rustikal daher kommt. Vor dem Gruppenspiel gegen Polen brüllt der Bundestrainer in die Runde: "Die stehen mit dem Rücken zur Wand und wir knallen sie durch die Wand hindurch." Gegen Ecuador gibt er den Spielern mit auf den Weg: "Denen müssen wir auf die Fresse geben."

Man kann Klinsmann diese Ausdrücke nicht übel nehmen, sie folgen der Logik des Kampfspiels Fußball. Solche Dinge wurden aber weitgehend unterschlagen, wenn Politiker und Wirtschaftsleute im WM-Jahr bei jeder Gelegenheit von der integrativen Funktion des Spiels schwärmten. Aber es ist heute ja so, dass nur noch der geringste Teil dessen, was wir als Fußball bezeichnen, auf dem Rasen stattfindet: Fußball ist auch im Süßwarenregal, in Fernsehtalkshows und im Bundestag. Die WM in Deutschland musste daher von Anfang an mehr leisten, als einfach nur einen Weltmeister finden. Und es überrascht nicht, dass ein Dokumentarfilm über diese WM nicht einfach nur ein Dokumentarfilm sein darf.

Nur zwei Szenen haben den Schneideraum überlebt, in der mal nicht alle, wie Klinsmann so gerne sagte, super gut drauf sind. Einmal agitieren Michael Ballack und Oliver Kahn gegen die Idee, nach dem letzten Auftritt gegen Portugal am Brandenburger Tor in der Massenhysterie zu baden. "Das nervt doch richtig", wettert Ballack vergeblich.

Das andere Mal sitzen die deutschen Nationalspieler schweigend in der Kabine. Gerade haben sie 0:2 gegen Italien verloren, der Traum ist zu Ende. Einige Köpfe stecken unter Frottéhandtüchern, niemand wagt es, einen Laut von sich zu geben. Ganz hinten in der Ecke kauert der im Halbfinale gesperrte Torsten Frings und kämpft mit den Tränen. Dann betreten nacheinander Horst Köhler und Angela Merkel die Umkleidekabine. Der Bundespräsident schüttelt ein paar schlaff herunterhängende Hände, die Kanzlerin sagt: "Es kann doch auch etwas Schlimmeres passieren, als Dritter zu werden" und lächelt entspannt patriotisch in die Runde. Es ist jener Moment, in dem der dringende Verdacht aufkommt, dass Fußball und Politik gar nicht so viel miteinander zu tun haben.
Berliner Zeitung, 02.10.2006

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