Saris, Krach und Chilischoten (Indien)
Saris, Krach und Chilischoten (01.10.2006)
Im Sommer schickte das Goethe-Institut deutsche Autoren nach Indien. Hier schreiben vier von ihnen, was sie am meisten beeindruckte
UNBEUGSAME SCHÖNHEIT
In Indien verwechselt man keine Frau, erklärt mir Maria aus Paderborn, von Ausländerinnen abgesehen. Ausländerinnen fallen dadurch auf, dass sie auch Männer sein könnten. Das versteht hier niemand, es macht sich auch niemand Gedanken darüber, Ausländerinnen sind marginale Erscheinungen. Wenigstens hier in Südindien, in Madras, wo die Engländer an Land gingen, um Indien zu erobern, was ihnen nicht gelungen ist.
Maria kam vor bald 50 Jahren hierher. Sie trägt ihr dichtes Haar in einem langen Zopf, dem man nicht ansehen kann, ob er einst schwarz oder blond gewesen ist. Und sie trägt den Sari, das Gewand der indischen Frau. Inderinnen sprechen anerkennend von ihr als einer Inderin. Maria lächelt dazu wortlos, was eine äußerst höfliche, also sehr verbreitete Art des Reagierens in Indien ist. Chennai, das frühere Madras, ist ihr Zuhause.
In dieser unrettbar chaotisch wirkenden Riesenstadt wehen die Frauen in ihren Gewändern wie Blüten umher, Blüten in allen Lebensstadien, in allen Verfallsstadien. Das schönste, erhabenste und raffinierteste Gewand, was je für Frauen erdacht wurde, ist der Sari. Der Sari in dieser Stadt ist ein Trost, ist Heilsversprechen, die Beschwörung von Schönheit. Er zeugt von einer Erfindungskraft, die blüht wie die tropische Pflanzenwelt, wie die Welt der Korallenriffe, der Feuerwerker, der Mikroorganismen, der Quantenphysiker.
Es gibt ihn stets nur einmal, man findet ihn unter sechs Millionen nicht zweimal gleich. In ihrem in Königsrobenart gewundenen, buntgoldenen Gewand schreiten die Bauarbeiterinnen mit einem Zementeimer auf dem Kopf, wedeln die Putzfrauen mit ihren Rutenbesen herum, schlafen Hunderttausende obdachloser Frauen von Chennai am Bordstein, es erhebt sie. Der Sari verleiht ihnen von Jugend an jene Haltung, in der sie sich vor ihren Göttern und ihren Dienstherren verneigen: ungebeugt. Ich sah keine einzige Frau in der Haltung der Unterwürfigkeit. Maria aus Paderborn hat mir endlich ihren Kleiderschrank geöffnet. Sie verliebte sich in den 50er Jahren in einen Studenten aus Madras, sie wusste nichts von Indien. Ich hatte nicht mal eine Ahnung davon, wie heiß es hier ist, und zwar immer, sagt sie, und ihr Mann mit dem schmalen Gesicht lacht.
Ich kam hier an, und trug vom ersten Tag an den Sari. Bald 50 Jahre lang lerne ich nun schon, eine Inderin zu sein, ohne dass es jemand sieht: das Lernen, sagt sie auf Deutsch.
Und was heißt es, eine Inderin zu sein?
Wenn ich das wüsste, lacht sie, es ist wie mit der Religion, jeden Tag dringst du ein bisschen tiefer ein, unmerklich. Die darin leben, brauchen es nicht, und wir können es nicht. Alles wird gleich falsch, wenn man es versucht festzulegen. Was wisst ihr von Indien – dass es fünf Kasten gibt! Es gibt Hunderte, vielleicht Tausende! An Indien kommt man mit Allgemeinwissen nicht heran, es wird lächerlich, sobald man hier ist.
Und jetzt zeige ich dir etwas, und sie öffnet ihren Kleiderschrank. Auf 20 Hosenbügeln hängen 40 Zentimeter lange Schals, ein Schrank voller Halstücher auf Kleiderbügeln, nach unten leer.
Das sind sie, alle meine Saris!
Maria lächelt mich liebevoll und spöttisch an. So zusammengefaltet stellen sich Europäer Indien vor, um es verstehen zu können … Angela Krauß, Chennai
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„BITTE HUPEN SIE“
Im Prinzip gibt es in Indien nur zwei Verkehrsregeln:
1. Stoße mit niemandem zusammen, der vor dir ist. Alles andere sei dir egal.
2. Rechne immer damit, dass jemandem hinter dir Regel Nummer eins egal ist.
Wer diese beiden Regeln beachtet, kann sich in indischen Städten so entspannt bewegen wie im Grunewald. Theoretisch. In der Praxis jedoch, lasse ich mich erst mal von Jude, dem Fahrer des Goethe-Instituts, in einem Kleinbus namens „Siddharth Tempo Traveller“ umherfahren. „Wer in Pune Auto fahren kann, kann überall Auto fahren“, sagt Jude und schiebt sich durch das Gewühle aus Porsche-Jeeps, schlammverkrusteten Bussen, Motorrädern, Schubkarren, Autorikschas und bettelnden Kindern auf eine Kreuzung, an der die Ampeln ausgefallen sind. Jemand klopft an mein Fenster und will mir eine Ausgabe der indischen Elle verkaufen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich auf mich allein gestellt diese Kreuzung überqueren müsste und denke: „Wer in Berlin zu Fuß gehen kann, kann noch längst nicht überall zu Fuß gehen.“
Am Abend meines zweiten Indientages bitte ich Jude, mich nicht am Hotel abzusetzen, sondern vor dem Kaufhaus Pune Central auf der anderen Seite der Hauptverkehrsstraße Bund Garden Road. Dort möchte ich Cola und Salzstangen kaufen, für den Fall, dass ich Durchfall bekommen sollte. Da es keine Salzstangen gibt, kaufe ich die indonesischen Hup-Seng-Salzkräcker und Minze-Koriander-Streichkäse. Und ungefähr zehn Flaschen Wasser – man weiß ja nie. Meine Einkäufe werden eingepackt, die Tüten mit Plastikband so fest verschlossen, dass ich sie später im Hotel aufreißen muss, dann vermerkt die Kassiererin auf dem Bon die Anzahl meiner Einkaufstüten. Überall Wachleute, Angestellte. An der Tür zum Fahrstuhl steht eine ältere Frau, die die Anzahl meiner Tüten prüft und das Wort EXIT auf den Kassenbon stempelt.
Wer sich mal richtig wie ein bescheuerter Europäer vorkommen möchte, sollte nach Einbruch der Dunkelheit vor der Pune Central Mall mit zwei riesenhaften Einkaufstüten die Bund Garden Road überqueren. Ja ich weiß, in Paris ist auch viel Verkehr, aber vergessen Sie Paris! Jede Lücke, die Lkw und Pkw hier lassen, füllt sich sofort mit Motorrädern und Autorikschas, deren Licht nur im Idealfall funktioniert. Ich folge einem Einheimischen bis zur Mitte der Straße, wonach dieser in einer – wie gesagt eigentlich gar nicht vorhandenen – Lücke zwischen zwei Autorikschas verschwindet und ich mit meinen Tüten zurückbleibe.
Über das Hupverhalten haben sich schon viele schreibende Indienfahrer geäußert. Ich habe Ilija Trojanows „Ich hupe, also bin ich“ nichts hinzuzufügen: Die Leute hupen hier, damit andere Verkehrsteilnehmer merken, dass es sie gibt. Hinten auf einem Lastwagen sah ich sogar einen Aufkleber: „Please Honk.“
Was mich an ein sehr schönes Lied von den Silver Jews erinnert. Es heißt: „Honk if you’re lonely tonight.“ Diesem Gedanken nachhängend öffne ich, wohlbehalten in meinem Hotelzimmer angekommen, eine Flasche des indisch-schottischen WhiskyJoint-Ventures Royal Challenge und sehe aus dem Fenster. Unten, vor dem „authentic Italian restaurant“ La Pizzeria, fährt ein Kleinwagen der Marke Maruti Suzuki rückwärts aus einer Parklücke und gibt dabei in fiepsigem Grußkartenton die Melodie von „Santa Claus is coming to town“ von sich. Ich wusste ja, dass hier alles anders ist, aber nun bekomme ich den Verdacht, dass hier alles ganz anders ist, als ich erwartet hatte.
Kristof Magnusson, Pune
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JOGHURT FÜR DIE LÄDIERTE ZUNGE
Auf der Dachterrasse des „Southern Spice“, einem Restaurant für traditionelle Andrah Pradesh Küche, formte die Hitze grüne Teigtaschen aus den Blättern der umherstehenden Topfpflanzen. Der Kellner, ein hagerer, leicht ergrauter Mann mit tiefen Furchen im Gesicht und schwarzen, dünnen Streifen auf der schillernden Weste, brachte zwei Silbertabletts mit hohem Rand, auf denen kleine Schälchen standen. „Essen“, sagte er, dann zog er sich zurück, blieb am Ende der Terrasse stehen und schaute lauernd zu unserem Tisch herüber. Außer Amita Desai und mir waren nur zwei weitere Gäste anwesend. Die beiden indischen Männer hatten ihr Mahl aber bereits beendet und tranken Wasser, in dem sie die Becher nie bis an die Lippen führten, sondern deren Inhalt aus zwei, drei Zentimeter Entfernung in den nach oben geöffneten Mund kippten, ohne dass ein Tropfen daneben gelandet wäre. „Das gilt in Indien als besonders vornehm und hygienisch“, sagte Amita und nahm aus jedem Schälchen eine kleine Portion auf ihren Teller. Neben Reis gab es Gatti Vankai Kura (ein Auberginen-Curry) verschiedene gebratene Gemüse, potatoe fry andhra style, Rasam und Sambhar (unterschiedliche Gemüsesuppen auf Linsenbasis), Chutney, Pickels und eine Joghurt-Sauce mit Gurken, deren Funktion mir bald klar wurde.
Erst aber führte ich meinem Gaumen einen Löffel Sambhar zu, ließ die Flüssigkeit kurze Zeit in meinem Mund, ehe ich schluckte. Was ich ohne zu übertreiben behaupten kann, ist, dass ich, obwohl das Gericht nicht sehr heiß war, sofort das Gefühl hatte, meine pilzförmigen Geschmackspapillen trockneten aus, schrumpften und zurück blieben ausschließlich unzählige kleine Brandlöcher, während in meiner Speiseröhre ein nicht mehr aufzuhaltender Hitzeschwall den Weg nach unten nahm. Die Joghurt-Sauce, die ich instinktiv hinterher schob, wickelte sich wie ein weißer Verband um meine lädierte Zunge. Dann machte ich die erste kurze Pause, lehnte mich zurück, öffnete meinen Mund und sog Luft über meinen Zungenrücken. Dabei sah ich Amita an. Auch sie machte ihre erste Pause.
„Findest du es scharf?“, fragte ich.
„Allerdings“, sagte sie.
„Ich dachte, die Inder sind diese Schärfe gewohnt“, hakte ich nach.
„Na ja“, sagte sie, „es soll Inder geben, die immer so scharf essen, stimmt, aber ich habe noch nie einen getroffen.“
Ich lachte, mischte etwas Reis unter das Auberginen-Curry und aß. Der Kellner im Hintergrund nickte zufrieden. Nach fünf, sechs Löffeln schmerzte meine Zunge erheblich, ein Schweißfilm lag auf meinen Wangenknochen, die Lippen versuchten sich nach innen zu rollen wie ausgetrocknetes Laub. Das absolut Faszinierende an diesem Essen aber war, dass die Speisen, trotz der enormen Schärfe, so wohlschmeckend waren, dass ich nicht aufhören konnte, weiter zu essen. In jedem Gericht steckten so viele glückliche Nuancen, dass ich mich auf jeden neuen Löffel freute. Natürlich legte ich viele Pausen ein, belüftete immer wieder meinen Mundraum, begoss meine Geschmacksknospen mit Wasser, aber niemals hätte ich auch nur eine Sekunde daran gedacht, das Mahl abzubrechen. Während sich die Schärfe nach jedem Bissen langsam gleich einem Nebel über der Geschmackslandschaft öffnete, saß ich voller Erwartungen auf dieser Terrasse und staunte über die Fülle der Schattierungen, der Abtönungen, der stilsicheren Spuren in einem kulinarischen Panorama, das ich bislang so noch nie betreten hatte. Zum Schluss biss ich in eine in Salz gelagerte, getrocknete und dann gebratene Chilischote, die knusprig in meinem Mund zerfiel, kaum noch Schärfe besaß und nach Tang und Metall schmeckte. „Dies war das beste Essen, das ich je hatte“, sagte ich zu Amita, „ich möchte es so schnell nicht wieder haben.“
Guy Helminger, Hyberabad
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ZUM BENIMMKURS NACH GOA!
Mumbai ist ein Mann. Er ist laut, er hupt, rülpst und spuckt, röchelt und kratzt sich vollkommen ungeniert unterhalb der Gürtellinie, all das tut er öffentlich. Manchmal, an den Häuserecken, riecht man den Mann. Er sitzt in der Mitte der Eingangstufe vor seinem Dessousgeschäft mit Namen Madonna, hinter und vor und neben ihm BHs und Höschen in den ganzen bunten Frauenfarben. Und man denkt dann wirklich, Madonna mia, wo sind die Frauen und wie kommen sie da durch.
Nein, ich habe mich nicht weiter um den indischen Mann gekümmert, mich sogar geübt im Wegschauen und Weghören, oder ich habe meine kleine Kamera als Schutzschild genutzt, was meistens hervorragend klappte: Wer fotografiert wird, ist ein Objekt. Doch gleich was man tut, den indischen Mann kann man nicht übersehen. Zu manchen Uhrzeiten denkt man ganz Indien sei einer, und freut sich über das kleine farbige Leuchten indischer Frauen dazwischen: Gladiolen im frühen Herbst. Hinzu kommt, dass der indische Mann auf der Straße meist sehr überzeugt ist von seiner Wirkung: Hello Madame, sagt er sofort, wenn seinen Augen nur für einen Moment der weibliche Blick begegnet, manchmal macht er sogar eine Kehrtwende und plappert hinter der Frau her. Die indische Frau weiß das. Die Fremde schaut neugierig alles an, was ihr begegnet, bis sie versteht, dass das hier so einfach nicht geht: An den Männern muss man genauso tough vorbeischauen wie vorbeigehen, wenn man in Ruhe durch die Stadt kommen will. Spätestens an Tag acht ist das aber gelernt.
Einmal machte ich den Frauen in einem Deutschkurs die Straßen-Geräusche der indischen Männer vor, zumindest versuchte ich es: Schleim hochziehen, ausspucken. Die Geräusche kriegte ich milde aber doch einigermaßen nachvollziehbar hin, zu rülpsen versuchte ich erst gar nicht. Aber die Frauen haben mich trotzdem verstanden. Sie lachten. Sie wussten, dass das so ist. Die indischen Männer sind schlecht erzogen, generalisierte ich. Sie lachten wieder; eine ratlose Geste. Am Anfang meiner vier Wochen hätte ich am liebsten Gummistiefel getragen, ich setzte meine Schritte etwas angeekelt zwischen die roten Betelspuren auf dem Teer; in Indien herrscht Linksverkehr, der Taxifahrer kaut Pan und spuckt aus dem Fenster, die Spuren kleben am Taxi und am Straßenrand. An einem Tag, schon in der zweiten Hälfte meines Aufenthalts, als das Hochgefühl, das so viel Fremdes und Neues zuerst einmal ausgelöst hat, etwas abebbte, hätte ich vermutlich Feuer gespien, wäre mir einer nur ein bisschen zu nahe getreten, ich konnte diese Männergeräusche nicht mehr hören.
Finden Sie Mumbai nun schlimm? Wollten die Frauen in einem der Goethe-Deutschkurse wissen, und weil ich über dieses Phänomen auch in meinem Tagebuch geschrieben hatte, fragte jemand von der Zeitung dasselbe. Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil, sagte ich und das stimmt. – Dass ich Mumbais Männer aber, bis auf Ausnahmen, gerne zu einem Knigge-Kurs nach Goa schicken würde, ist mir erst später eingefallen. Danach könnte man noch mal über sie reden.
Sandra Hoffmann, Mumbai
(01.10.2006)
Im Sommer schickte das Goethe-Institut deutsche Autoren nach Indien. Hier schreiben vier von ihnen, was sie am meisten beeindruckte
UNBEUGSAME SCHÖNHEIT
In Indien verwechselt man keine Frau, erklärt mir Maria aus Paderborn, von Ausländerinnen abgesehen. Ausländerinnen fallen dadurch auf, dass sie auch Männer sein könnten. Das versteht hier niemand, es macht sich auch niemand Gedanken darüber, Ausländerinnen sind marginale Erscheinungen. Wenigstens hier in Südindien, in Madras, wo die Engländer an Land gingen, um Indien zu erobern, was ihnen nicht gelungen ist.
Maria kam vor bald 50 Jahren hierher. Sie trägt ihr dichtes Haar in einem langen Zopf, dem man nicht ansehen kann, ob er einst schwarz oder blond gewesen ist. Und sie trägt den Sari, das Gewand der indischen Frau. Inderinnen sprechen anerkennend von ihr als einer Inderin. Maria lächelt dazu wortlos, was eine äußerst höfliche, also sehr verbreitete Art des Reagierens in Indien ist. Chennai, das frühere Madras, ist ihr Zuhause.
In dieser unrettbar chaotisch wirkenden Riesenstadt wehen die Frauen in ihren Gewändern wie Blüten umher, Blüten in allen Lebensstadien, in allen Verfallsstadien. Das schönste, erhabenste und raffinierteste Gewand, was je für Frauen erdacht wurde, ist der Sari. Der Sari in dieser Stadt ist ein Trost, ist Heilsversprechen, die Beschwörung von Schönheit. Er zeugt von einer Erfindungskraft, die blüht wie die tropische Pflanzenwelt, wie die Welt der Korallenriffe, der Feuerwerker, der Mikroorganismen, der Quantenphysiker.
Es gibt ihn stets nur einmal, man findet ihn unter sechs Millionen nicht zweimal gleich. In ihrem in Königsrobenart gewundenen, buntgoldenen Gewand schreiten die Bauarbeiterinnen mit einem Zementeimer auf dem Kopf, wedeln die Putzfrauen mit ihren Rutenbesen herum, schlafen Hunderttausende obdachloser Frauen von Chennai am Bordstein, es erhebt sie. Der Sari verleiht ihnen von Jugend an jene Haltung, in der sie sich vor ihren Göttern und ihren Dienstherren verneigen: ungebeugt. Ich sah keine einzige Frau in der Haltung der Unterwürfigkeit. Maria aus Paderborn hat mir endlich ihren Kleiderschrank geöffnet. Sie verliebte sich in den 50er Jahren in einen Studenten aus Madras, sie wusste nichts von Indien. Ich hatte nicht mal eine Ahnung davon, wie heiß es hier ist, und zwar immer, sagt sie, und ihr Mann mit dem schmalen Gesicht lacht.
Ich kam hier an, und trug vom ersten Tag an den Sari. Bald 50 Jahre lang lerne ich nun schon, eine Inderin zu sein, ohne dass es jemand sieht: das Lernen, sagt sie auf Deutsch.
Und was heißt es, eine Inderin zu sein?
Wenn ich das wüsste, lacht sie, es ist wie mit der Religion, jeden Tag dringst du ein bisschen tiefer ein, unmerklich. Die darin leben, brauchen es nicht, und wir können es nicht. Alles wird gleich falsch, wenn man es versucht festzulegen. Was wisst ihr von Indien – dass es fünf Kasten gibt! Es gibt Hunderte, vielleicht Tausende! An Indien kommt man mit Allgemeinwissen nicht heran, es wird lächerlich, sobald man hier ist.
Und jetzt zeige ich dir etwas, und sie öffnet ihren Kleiderschrank. Auf 20 Hosenbügeln hängen 40 Zentimeter lange Schals, ein Schrank voller Halstücher auf Kleiderbügeln, nach unten leer.
Das sind sie, alle meine Saris!
Maria lächelt mich liebevoll und spöttisch an. So zusammengefaltet stellen sich Europäer Indien vor, um es verstehen zu können … Angela Krauß, Chennai
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„BITTE HUPEN SIE“
Im Prinzip gibt es in Indien nur zwei Verkehrsregeln:
1. Stoße mit niemandem zusammen, der vor dir ist. Alles andere sei dir egal.
2. Rechne immer damit, dass jemandem hinter dir Regel Nummer eins egal ist.
Wer diese beiden Regeln beachtet, kann sich in indischen Städten so entspannt bewegen wie im Grunewald. Theoretisch. In der Praxis jedoch, lasse ich mich erst mal von Jude, dem Fahrer des Goethe-Instituts, in einem Kleinbus namens „Siddharth Tempo Traveller“ umherfahren. „Wer in Pune Auto fahren kann, kann überall Auto fahren“, sagt Jude und schiebt sich durch das Gewühle aus Porsche-Jeeps, schlammverkrusteten Bussen, Motorrädern, Schubkarren, Autorikschas und bettelnden Kindern auf eine Kreuzung, an der die Ampeln ausgefallen sind. Jemand klopft an mein Fenster und will mir eine Ausgabe der indischen Elle verkaufen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich auf mich allein gestellt diese Kreuzung überqueren müsste und denke: „Wer in Berlin zu Fuß gehen kann, kann noch längst nicht überall zu Fuß gehen.“
Am Abend meines zweiten Indientages bitte ich Jude, mich nicht am Hotel abzusetzen, sondern vor dem Kaufhaus Pune Central auf der anderen Seite der Hauptverkehrsstraße Bund Garden Road. Dort möchte ich Cola und Salzstangen kaufen, für den Fall, dass ich Durchfall bekommen sollte. Da es keine Salzstangen gibt, kaufe ich die indonesischen Hup-Seng-Salzkräcker und Minze-Koriander-Streichkäse. Und ungefähr zehn Flaschen Wasser – man weiß ja nie. Meine Einkäufe werden eingepackt, die Tüten mit Plastikband so fest verschlossen, dass ich sie später im Hotel aufreißen muss, dann vermerkt die Kassiererin auf dem Bon die Anzahl meiner Einkaufstüten. Überall Wachleute, Angestellte. An der Tür zum Fahrstuhl steht eine ältere Frau, die die Anzahl meiner Tüten prüft und das Wort EXIT auf den Kassenbon stempelt.
Wer sich mal richtig wie ein bescheuerter Europäer vorkommen möchte, sollte nach Einbruch der Dunkelheit vor der Pune Central Mall mit zwei riesenhaften Einkaufstüten die Bund Garden Road überqueren. Ja ich weiß, in Paris ist auch viel Verkehr, aber vergessen Sie Paris! Jede Lücke, die Lkw und Pkw hier lassen, füllt sich sofort mit Motorrädern und Autorikschas, deren Licht nur im Idealfall funktioniert. Ich folge einem Einheimischen bis zur Mitte der Straße, wonach dieser in einer – wie gesagt eigentlich gar nicht vorhandenen – Lücke zwischen zwei Autorikschas verschwindet und ich mit meinen Tüten zurückbleibe.
Über das Hupverhalten haben sich schon viele schreibende Indienfahrer geäußert. Ich habe Ilija Trojanows „Ich hupe, also bin ich“ nichts hinzuzufügen: Die Leute hupen hier, damit andere Verkehrsteilnehmer merken, dass es sie gibt. Hinten auf einem Lastwagen sah ich sogar einen Aufkleber: „Please Honk.“
Was mich an ein sehr schönes Lied von den Silver Jews erinnert. Es heißt: „Honk if you’re lonely tonight.“ Diesem Gedanken nachhängend öffne ich, wohlbehalten in meinem Hotelzimmer angekommen, eine Flasche des indisch-schottischen WhiskyJoint-Ventures Royal Challenge und sehe aus dem Fenster. Unten, vor dem „authentic Italian restaurant“ La Pizzeria, fährt ein Kleinwagen der Marke Maruti Suzuki rückwärts aus einer Parklücke und gibt dabei in fiepsigem Grußkartenton die Melodie von „Santa Claus is coming to town“ von sich. Ich wusste ja, dass hier alles anders ist, aber nun bekomme ich den Verdacht, dass hier alles ganz anders ist, als ich erwartet hatte.
Kristof Magnusson, Pune
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JOGHURT FÜR DIE LÄDIERTE ZUNGE
Auf der Dachterrasse des „Southern Spice“, einem Restaurant für traditionelle Andrah Pradesh Küche, formte die Hitze grüne Teigtaschen aus den Blättern der umherstehenden Topfpflanzen. Der Kellner, ein hagerer, leicht ergrauter Mann mit tiefen Furchen im Gesicht und schwarzen, dünnen Streifen auf der schillernden Weste, brachte zwei Silbertabletts mit hohem Rand, auf denen kleine Schälchen standen. „Essen“, sagte er, dann zog er sich zurück, blieb am Ende der Terrasse stehen und schaute lauernd zu unserem Tisch herüber. Außer Amita Desai und mir waren nur zwei weitere Gäste anwesend. Die beiden indischen Männer hatten ihr Mahl aber bereits beendet und tranken Wasser, in dem sie die Becher nie bis an die Lippen führten, sondern deren Inhalt aus zwei, drei Zentimeter Entfernung in den nach oben geöffneten Mund kippten, ohne dass ein Tropfen daneben gelandet wäre. „Das gilt in Indien als besonders vornehm und hygienisch“, sagte Amita und nahm aus jedem Schälchen eine kleine Portion auf ihren Teller. Neben Reis gab es Gatti Vankai Kura (ein Auberginen-Curry) verschiedene gebratene Gemüse, potatoe fry andhra style, Rasam und Sambhar (unterschiedliche Gemüsesuppen auf Linsenbasis), Chutney, Pickels und eine Joghurt-Sauce mit Gurken, deren Funktion mir bald klar wurde.
Erst aber führte ich meinem Gaumen einen Löffel Sambhar zu, ließ die Flüssigkeit kurze Zeit in meinem Mund, ehe ich schluckte. Was ich ohne zu übertreiben behaupten kann, ist, dass ich, obwohl das Gericht nicht sehr heiß war, sofort das Gefühl hatte, meine pilzförmigen Geschmackspapillen trockneten aus, schrumpften und zurück blieben ausschließlich unzählige kleine Brandlöcher, während in meiner Speiseröhre ein nicht mehr aufzuhaltender Hitzeschwall den Weg nach unten nahm. Die Joghurt-Sauce, die ich instinktiv hinterher schob, wickelte sich wie ein weißer Verband um meine lädierte Zunge. Dann machte ich die erste kurze Pause, lehnte mich zurück, öffnete meinen Mund und sog Luft über meinen Zungenrücken. Dabei sah ich Amita an. Auch sie machte ihre erste Pause.
„Findest du es scharf?“, fragte ich.
„Allerdings“, sagte sie.
„Ich dachte, die Inder sind diese Schärfe gewohnt“, hakte ich nach.
„Na ja“, sagte sie, „es soll Inder geben, die immer so scharf essen, stimmt, aber ich habe noch nie einen getroffen.“
Ich lachte, mischte etwas Reis unter das Auberginen-Curry und aß. Der Kellner im Hintergrund nickte zufrieden. Nach fünf, sechs Löffeln schmerzte meine Zunge erheblich, ein Schweißfilm lag auf meinen Wangenknochen, die Lippen versuchten sich nach innen zu rollen wie ausgetrocknetes Laub. Das absolut Faszinierende an diesem Essen aber war, dass die Speisen, trotz der enormen Schärfe, so wohlschmeckend waren, dass ich nicht aufhören konnte, weiter zu essen. In jedem Gericht steckten so viele glückliche Nuancen, dass ich mich auf jeden neuen Löffel freute. Natürlich legte ich viele Pausen ein, belüftete immer wieder meinen Mundraum, begoss meine Geschmacksknospen mit Wasser, aber niemals hätte ich auch nur eine Sekunde daran gedacht, das Mahl abzubrechen. Während sich die Schärfe nach jedem Bissen langsam gleich einem Nebel über der Geschmackslandschaft öffnete, saß ich voller Erwartungen auf dieser Terrasse und staunte über die Fülle der Schattierungen, der Abtönungen, der stilsicheren Spuren in einem kulinarischen Panorama, das ich bislang so noch nie betreten hatte. Zum Schluss biss ich in eine in Salz gelagerte, getrocknete und dann gebratene Chilischote, die knusprig in meinem Mund zerfiel, kaum noch Schärfe besaß und nach Tang und Metall schmeckte. „Dies war das beste Essen, das ich je hatte“, sagte ich zu Amita, „ich möchte es so schnell nicht wieder haben.“
Guy Helminger, Hyberabad
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ZUM BENIMMKURS NACH GOA!
Mumbai ist ein Mann. Er ist laut, er hupt, rülpst und spuckt, röchelt und kratzt sich vollkommen ungeniert unterhalb der Gürtellinie, all das tut er öffentlich. Manchmal, an den Häuserecken, riecht man den Mann. Er sitzt in der Mitte der Eingangstufe vor seinem Dessousgeschäft mit Namen Madonna, hinter und vor und neben ihm BHs und Höschen in den ganzen bunten Frauenfarben. Und man denkt dann wirklich, Madonna mia, wo sind die Frauen und wie kommen sie da durch.
Nein, ich habe mich nicht weiter um den indischen Mann gekümmert, mich sogar geübt im Wegschauen und Weghören, oder ich habe meine kleine Kamera als Schutzschild genutzt, was meistens hervorragend klappte: Wer fotografiert wird, ist ein Objekt. Doch gleich was man tut, den indischen Mann kann man nicht übersehen. Zu manchen Uhrzeiten denkt man ganz Indien sei einer, und freut sich über das kleine farbige Leuchten indischer Frauen dazwischen: Gladiolen im frühen Herbst. Hinzu kommt, dass der indische Mann auf der Straße meist sehr überzeugt ist von seiner Wirkung: Hello Madame, sagt er sofort, wenn seinen Augen nur für einen Moment der weibliche Blick begegnet, manchmal macht er sogar eine Kehrtwende und plappert hinter der Frau her. Die indische Frau weiß das. Die Fremde schaut neugierig alles an, was ihr begegnet, bis sie versteht, dass das hier so einfach nicht geht: An den Männern muss man genauso tough vorbeischauen wie vorbeigehen, wenn man in Ruhe durch die Stadt kommen will. Spätestens an Tag acht ist das aber gelernt.
Einmal machte ich den Frauen in einem Deutschkurs die Straßen-Geräusche der indischen Männer vor, zumindest versuchte ich es: Schleim hochziehen, ausspucken. Die Geräusche kriegte ich milde aber doch einigermaßen nachvollziehbar hin, zu rülpsen versuchte ich erst gar nicht. Aber die Frauen haben mich trotzdem verstanden. Sie lachten. Sie wussten, dass das so ist. Die indischen Männer sind schlecht erzogen, generalisierte ich. Sie lachten wieder; eine ratlose Geste. Am Anfang meiner vier Wochen hätte ich am liebsten Gummistiefel getragen, ich setzte meine Schritte etwas angeekelt zwischen die roten Betelspuren auf dem Teer; in Indien herrscht Linksverkehr, der Taxifahrer kaut Pan und spuckt aus dem Fenster, die Spuren kleben am Taxi und am Straßenrand. An einem Tag, schon in der zweiten Hälfte meines Aufenthalts, als das Hochgefühl, das so viel Fremdes und Neues zuerst einmal ausgelöst hat, etwas abebbte, hätte ich vermutlich Feuer gespien, wäre mir einer nur ein bisschen zu nahe getreten, ich konnte diese Männergeräusche nicht mehr hören.
Finden Sie Mumbai nun schlimm? Wollten die Frauen in einem der Goethe-Deutschkurse wissen, und weil ich über dieses Phänomen auch in meinem Tagebuch geschrieben hatte, fragte jemand von der Zeitung dasselbe. Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil, sagte ich und das stimmt. – Dass ich Mumbais Männer aber, bis auf Ausnahmen, gerne zu einem Knigge-Kurs nach Goa schicken würde, ist mir erst später eingefallen. Danach könnte man noch mal über sie reden.
Sandra Hoffmann, Mumbai
(01.10.2006)
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