Knaller an der Zeitungsfront

Monday, May 26, 2008

Wie man eine Stadt kaputt macht (taz)

26.05.2008
Schrift
Kommentar
Wie man eine Stadt kaputt macht
In Berlin gibt es zu viele Einkaufszentren. VON WALTRAUD SCHWAB

Bekannt ist: In Berlin haben die Menschen weniger Geld als im Rest der Republik. Ihre Kaufkraft lag 2007 ein gutes Drittel unter der der MünchnerInnen. Und im Vergleich zu Hamburg und Köln haben BerlinerInnen immer noch ein Viertel weniger im Portemonnaie. Diese schlechte Ausgangslage hindert die Investoren nicht, Berlin mit Einkaufsfläche ohne Ende zu bestücken. Am schlimmsten ist es mit den Shoppingmalls. 58 gibt es im Stadtgebiet, 15 im Umland dazu. Köln hat nur acht Shoppingcenter, München gar nur drei. Einkaufszentren en masse, gepaart mit einer armen Bevölkerung: Diese Mischung ist fatal.

Hauptstadt der Shoppingcenter
In Berlin gibt es zu viele Läden und Einkaufszentren: Nach dem enormen Zuwachs in den vergangenen Jahren wird mittlerweile ein Überhang von mehr als einer halben Million Quadratmeter Ladenfläche verzeichnet, für die es keine Kaufkraft gibt, wie aus einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur hervorgeht. Allein im vergangenen Jahr sei die Verkaufsfläche in der Hauptstadt um rund 215.000 auf etwa 4,56 Millionen Quadratmeter angewachsen. Fast die Hälfte des Zuwachses entfiel nach Angaben des Handelsverbands Berlin-Brandenburg auf Shoppingcenter. Berlin führt damit bundesweit: Es gibt 58 dieser Center. Bis 2010 soll die innerstädtische Verkaufsfläche sogar noch mal um 20 Prozent anwachsen. "Was da passiert, stimmt uns mit Sorge", sagt Rolf Pangels vom Handelsverband BAG, der vor allem den Einzelhandel in Deutschlands Innenstädten vertritt. "Wir fragen uns, wer da noch alles einkaufen soll." Der BAG rechne mit einer enormen Verschärfung des Wettbewerbs - zulasten der kleineren Unternehmen. "Für kleine inhabergeführte Geschäfte wird der Druck immer stärker."

DPA
Wer in einem Berliner Shoppingcenter war, weiß, wie es in den anderen aussieht. Überall sind die gleichen Franchise- und Supermarktketten. In Berliner Einkaufszentren wird die Bevölkerung mit globalisiertem Konsumgut terrorisiert. "Am billigsten" steht dabei in der Kategorie der Superlative ganz oben. Für den letzten Ramsch wird den Leuten das Geld aus der Tasche gezogen. Viele Einkaufscenter-Junkies merken es nicht. Andere sparen nicht freiwillig, sie müssen ja sparen.

Wer aber etwas merken müsste, das sind die, die die Entwicklung der Stadt im Senat steuern. Denn der Run auf die Shoppingcenter trägt nicht nur zur Verdummung der Bevölkerung bei. Er zerstört auch die Kieze. Kleine Geschäfte - und damit informelle Anlaufstellen - können sich nicht halten, die Inhaber werden zu Hartz-IV-Empfängern. Der Schwatz vor dem Bäckerladen ist längst passé - es gibt ja kaum noch Bäcker. Eine lebens- und liebenswerte Stadt kann aber auf die soziale Mikrostruktur intakter Nachbarschaften nicht verzichten. Auf weitere Einkaufszentren schon.

Hauptstadt der Shoppingcenter (taz)

26.05.2008

Hauptstadt der Shoppingcenter
In Berlin gibt es zu viele Läden und Einkaufszentren: Nach dem enormen Zuwachs in den vergangenen Jahren wird mittlerweile ein Überhang von mehr als einer halben Million Quadratmeter Ladenfläche verzeichnet, für die es keine Kaufkraft gibt, wie aus einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur hervorgeht. Allein im vergangenen Jahr sei die Verkaufsfläche in der Hauptstadt um rund 215.000 auf etwa 4,56 Millionen Quadratmeter angewachsen. Fast die Hälfte des Zuwachses entfiel nach Angaben des Handelsverbands Berlin-Brandenburg auf Shoppingcenter. Berlin führt damit bundesweit: Es gibt 58 dieser Center. Bis 2010 soll die innerstädtische Verkaufsfläche sogar noch mal um 20 Prozent anwachsen. "Was da passiert, stimmt uns mit Sorge", sagt Rolf Pangels vom Handelsverband BAG, der vor allem den Einzelhandel in Deutschlands Innenstädten vertritt. "Wir fragen uns, wer da noch alles einkaufen soll." Der BAG rechne mit einer enormen Verschärfung des Wettbewerbs - zulasten der kleineren Unternehmen. "Für kleine inhabergeführte Geschäfte wird der Druck immer stärker." DPA

Der RBB sucht sein Sparschwein (tagesspiegel)

Der RBB sucht sein Sparschwein
So sehen die Radiomodelle der heutigen Zeit aus: schließen, fusionieren, kooperieren.

Joachim Huber 18.5.2008 0:00 Uhr

Je länger die Geschäftsführung des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) schweigt, desto lauter werden die Gerüchte im Sender über den angekündigten Sparkurs. Am Faktum, dass in der Gebührenperiode 2009 bis 2012 dem RBB 54 Millionen Euro im Etat fehlen, kommt keiner vorbei, an der Frage, wo diese Summe gespart werden soll, scheiden sich die Meinungen. Die bisherigen Signale aus der Geschäftsleitung um Intendantin Dagmar Reim machen deutlich, dass es in dieser Sparrunde die Programmleistungen der Zwei-Länder-Anstalt treffen wird. Von bis zu jährlich zehn Millionen Euro geht die Rede. Und wie selbstverständlich fürchtet sich die Abteilung Hörfunk mehr als das Fernsehen. Im Radio veranstaltet der RBB sieben Wellen – ist das nicht eine zu viel? Zieht man die Stimmen zusammen, ergeben sich drei intern diskutierte Modelle. Erstens wird ein Programm komplett aufgegeben, das würde am ehesten Radio Multikulti treffen; zweitens werden zwei Wellen zusammengelegt: Antenne Brandenburg mit Radio Berlin 88,8 oder Radio Eins mit Radio Fritz. Drittens wird bei allen Wellen gespart und beim Kulturradio wieder mit der Kulturwelle des Norddeutschen Rundfunks kooperiert.

Ein Sparmodell, sagte RBB-Sprecher Ralph Kotsch, werde es definitiv nicht geben – das Modell „Rasenmäher“. Andererseits läuft die Aktion „Eichhörnchen“. Beim Inforadio beispielsweise wurden Schichten von 36,5 Stunden auf 38,5 Stunden hochgefahren oder Moderationshonorare gekürzt. Derartige Schritte werden die Sparsumme nicht erbringen, zumal an anderer Stelle Zusatzausgaben anfallen. Im neuen Gebäude von Inforadio an der Masurenallee wurde auch ein kleines Fernsehstudio für „rbb aktuell“ eingerichtet. Mitarbeiter berichten, die neue Technik sei derart fragil, dass in Potsdam stets ein zweites Nachrichtenteam bereit stehe – falls im Berliner Studio Mensch und Maschine versagen.
Joachim Huber
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 18.05.2008)

Die Überflieger (Tagesspiegel)

Die Überflieger
Der „Tatort“ aus Münster nimmt innerhalb der ARD-Krimireihe eine immer skurrilere Sonderrolle ein. Denn der lebt vor allem von den zwischenmenschlichen Verwicklungen, was aber oft zu Diskrepanzen zwischen Drehbuch und Regie führt.

Von Kurt Sagatz 18.5.2008 0:00 Uhr

In welcher Beziehung der germanische Gott Wotan und Alberich, der Zwergenkönig aus dem Nibelungen-Lied, standen, ist nicht überliefert. Das mag vor allem daran liegen, dass diese Epoche in den Nebeln der Geschichte versunken ist. In der Fernsehgegenwart verstehen sich die beiden hingegen prächtig, auch wenn sich dahinter im „Tatort“-Krimi aus Münster mit dem Titel „Krumme Hunde“ ganz andere Geschöpfe verbergen. Wotan ist ein Kalb von einem Hund, das am liebsten Wiener Würstchen aus Kalbfleisch verspeist. Sein Herrchen, nur in den ersten Minuten des Films halbnackt und blutverschmiert zu sehen, ist ein Privatdetektiv und das Opfer eines heimtückischen Mordes. Er haucht sein Leben auf einer Baustelle inmitten einer Pfütze aus Säure aus. Seine Dogge, der treue Freund des Menschen, wird von Silke Haller (Christine Urspruch) adoptiert, besser bekannt unter ihrem Spitznamen Alberich als die kleinwüchsige Assistenten von Münsters bekanntestem TV-Gerichtsmediziner Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) – zumindest für diese Folge. Zum norddeutschen Kommissar Frank Thiel (Axel Prahl) hätte Wotan auch gar nicht gepasst. Denn zu all sein Marotten kommt seine Angst vor Hunden.

Doch der Hund ist nur der Runnig Gag, der durch die Gerichtsmedizin streift. Ansonsten dreht sich dieser „Tatort“ um Familien, ihre Traditionen, aber auch um ihre dunklen Seiten. Die Familienverhältnisse von Kommissar Thiel und seinem unsteten Vater Herbert (Claus. D. Clausnitzer) sind leidlich bekannt. Beide werden wohl nie zusammenkommen, auch wenn Herbert Thiel seinem Sohn dieses Mal sogar seine Quasi-Stiefmutter Asha präsentiert, die er nach dem indischen Hindu-Ritus geheiratet hat, der in Deutschland jedoch nicht rechtsgültig ist. Immerhin lässt sich Staatsanwältin Klemm (Mechthild Großmann) von deren Mantra-Weisheiten beeindrucken, die Asha leicht sächselnd vorträgt.

Für die Handlung erheblich bedeutsamer ist die zweite Familiengeschichte, die in der Industriellenfamilie Rummel angesiedelt ist. Junior Markus Rummel interessiert sich mehr für die Hobbyfliegerei, zumindest ist er dabei offensichtlich erfolgreicher als bei der Weiterführung des von seinem Vater aufgebauten Betriebes. Und er hat noch eine andere Leidenschaft für seine äußerst zielstrebige Assistentin Christine, an der nicht nur im Betrieb niemand vorbeikommt.

Familiengeschichte drei spielt sich bei den Boernes ab. Karl-Friedrichs ebenso betagter wie gut situierter Onkel Rudolf (Traugott Buhre) wird 100 und zwischen dem Mediziner und seiner Cousine Henriette kommt es zum Wettkampf um die Gunst des potenziellen Erbonkels. Allerdings sind stille Wasser tief, und Onkel Rudolf war nicht immer schwerhörig und an den Rollstuhl gefesselt. So kommt es, dass der TV-Mediziner Boerne über den altdeutschen Begriff Bankert für ein uneheliches Kind sinnieren darf.

So typisch das alles für einen „Tatort“ aus Münster ist, so wenig war selten von dieser Stadt in der westfälischen Provinz zu sehen. Keine Autofahrt über den Prinzipalmarkt mit Blick auf St. Lamberti, wo einst die Wiedertäufer in Käfigen am Kirchturm hingen. Und auch der St.-Paulus-Dom mit seinen prägnanten mit Grünspan überzogenen Kupferdächern kommt nur ganz kurz ins Bild, aus äußerst ungewöhnlicher Perspektive eines Motorseglers.

Wie so oft lebt darum auch dieser Münster-„Tatort“ vor allem von den zwischenmenschlichen Verwicklungen, dafür stehen nicht zuletzt die Autoren Stefan Cantz und Jan Hinter, die bereits zum sechsten Mal das Buch verfassten. Für den „Tatort“ erprobten Regisseur Manfred Stelzer ist es der zweite ARD-Krimi aus Münster. Dabei haben Buch und Regie vor allem mit einem Problem zu kämpfen. Während Boerne und Thiel als Einzelpersonen ihre Besonderheiten immer überzeugender präsentieren können, gelingt es kaum noch, die gegenseitige Widerborstigkeit aufrecht zu halten. In einer Szene redet der Kommissar den Mediziner versehentlich mit „Du“ an und Boerne erkundigt sich verwundert, wann er Thiel diese Anrede gestattet hat. Der Streit in dieser Szene schließt das zwar tatsächlich aus, ansonsten fragt sich der Zuschauer im 13. Münster-„Tatort“ schon, wie lange der bärbeißige St.-Pauli-Fan seine demonstrativ zur Schau getragene Antipathie gegen den Society-Snob Boerne noch aufrecht erhalten will – vor allem, wenn dieser den Streit mit einem Six-Pack Bier beizulegen versucht. Dass dieses „Tatort“-Duo dennoch funktioniert, liegt an den kriminalistischen Geschichten selbst. Sicherlich wäre dieser Münster-Krimi ohne Originale wie Christine Urspruch, Mechthild Großmann und Claus D. Clausnitzer nur halb so unterhaltsam. Dennoch muss es den Autoren immer wieder gelingen, genügend Spuren zur Aufklärung des Verbrechens zu legen. Typisch Münster daran ist, an welchen Orten die Beweise versteckt werden – wobei man wieder bei Alberich und Wotan wäre. „Tatort: Krumme Hunde“; ARD, 20 Uhr 15
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 18.05.2008)

Die „Bunte“ für Männer (Tagesspiegel)

Die „Bunte“ für Männer
Andere Welten: Italien leistet sich drei tägliche Sportzeitungen. Eine davon ist sogar die meistgelesene Tageszeitung des Landes.

Von Tim Klimeš, Rom 18.5.2008 0:00 Uhr

Der römische Bekannte schüttelt den Kopf: „Gli Italiani sono strani“, sagt er, „die Italiener sind komisch.“ Drei tägliche Sportzeitungen? So viel gebe es doch gar nicht zu berichten. Er selbst liest sie nicht, ist nicht solch ein Tifoso, vom Fußball beseelter Fan, wie viele seiner Landsmänner. Einer seiner Söhne spielt Basketball. Vielleicht liegt es daran.

Denn der Erfolg der Sportblätter in Italien ist vor allem der einen Sportart Nummer eins zu verdanken, dem Fußball. Mehr als die Hälfte ihrer Berichte drehen sich um den Calcio, auf den hinteren Seiten folgen Radsport, Motorsport und Randsportarten. „Gazzetta dello Sport“, „Corriere dello Sport“ und „Tuttosport“, so heißen, aufgezählt nach Auflage, die drei Tageszeitungen mit einer Gesamtleserschaft von rund sechs Millionen. Zwar wird auch in Italien üblicherweise nur am Wochenende Ligafußball gespielt – berichtet aber wird jeden Tag.

„Das ist Italiens meistgelesene Tageszeitung“, sagt Birgit Schönau und zieht den rosafarbenen Bestseller aus dem Stapel Altpapier, „besser als die ‚Bild‘-Zeitung“. Mit einer Auflage von durchschnittlich 520 000 Exemplaren und mehr als drei Millionen Lesern täglich ist die „Gazzetta dello Sport“ zugleich Europas größte Sportzeitung. Als Italiens Fußballer 2006 die Weltmeisterschaft gewannen, verkaufte sich das Blatt rund 2,3 Millionen Mal – ein Rekord. Der Verlag musste die Ausgabe, in der das Zeitungslogo die Farben der italienischen Trikolore trug, sogar nachdrucken lassen. Noch immer wird der Titel mit der Überschrift „Tutto vero!“ („Alles wahr!“) im verlagseigenen Fanshop als 38-mal-53-Zentimeter-Poster verkauft.

Wenn an diesem Wochenende der letzte Spieltag der Serie A ausgetragen wird, können sich Inter Mailand oder der AS Rom noch den Gewinn der italienischen Meisterschaft sichern. Die Kioskverkäufer werden den Montag sehnlichst erwarten, immerhin bringt das Spieltagsresümee am Wochenanfang Italiens Sportzeitungen wöchentlich bis zu 30 Prozent mehr Auflage. Entsprechend üppig dürften die Verkäufe mit dem diesjährigen Saisonrückblick ausfallen.

Für Birgit Schönau sind die Sportzeitungen auch Informationsquelle. Die deutsche Journalistin lebt seit 1990 in Italien, berichtet für „Zeit“ und „Süddeutsche Zeitung“ aus der ewigen Stadt. Und oft auch aus dem Stadion. „Nichts ist Fußball in Italien weniger als ein Sport“, das schrieb die Journalistin bereits 2005 in ihrem Buch „Calcio – Die Italiener und ihr Fußball“. Das Land lasse sich durch den Sport wunderbar erzählen, sagt sie im Gespräch. Deshalb ihr Buch. Deshalb vielleicht auch die Sportzeitungen?

Viele Italiener kaufen sich morgens am Kiosk nichts weiter als eines der drei Blätter. Alles Wichtige zum Weltgeschehen bekommt man in Italien immerhin am U-Bahn-Eingang zugesteckt. Drei Gratisblätter sind landesweit erhältlich, eine davon, die „Leggo“, ist mit über zwei Millionen Lesern die zweitgrößte Gratispublikation Europas. Und selbst wer die Gratiszeitungen meidet, bekommt ein paar Nachrichten vom Tag mit auf den Weg: Auf drei von rund 60 Seiten informiert etwa die „Gazzetta“ auch über nationale und internationale Politik. In der Rubrik „Altri Mondi“ („Andere Welten“) – wenn ein neuer Papst gewählt wird oder amerikanische Hochhäuser einstürzen. „Spektakel hat hier eine lange Tradition“, sagt Birgit Schönau. Ihre Wohnung liegt fünf Laufminuten vom Kolosseum entfernt, dem Ort, an dem im Jahr 404 n. Chr. etwas geschah, was symptomatisch ist für die italienischen Tifosi. Der Mönch Telemachus hatte damals, zwölf Jahre nachdem das Christentum zur Staatsreligion ausgerufen worden war, versucht, zwei kämpfende Gladiatoren zu trennen. „Wir sind jetzt Christen“, soll er den Zuschauern entgegengeschrien haben, „diese Kämpfe sind ein unwürdiges Spektakel.“ Dann steinigten sie ihn zu Tode.

„In Rom gibt es über 300 Kirchen“, sagt Schönau, „und keine einzige ist nach ihm benannt. Raten Sie mal, warum?“ Das Spektakel, der Fußball sei in Deutschland nicht so stark im gesellschaftlichen Leben verankert wie in Italien – und so wird auch die Sportzeitung zum Gesellschaftsblatt. Man suche sich in Deutschland nicht das Lieblingscafé nach dem Wirt aus, der denselben Lieblingsklub habe. „In Italien wird im schlimmsten Fall die Partei nach der Klubzugehörigkeit ausgewählt“, sagt die Journalistin. Sport und Politik – in Italien hängt das zusammen. Als der gebürtige Mailänder Silvio Berlusconi 1994 erstmals an die Macht kam, entdeckte er den Fußball als besonders effektives Instrument der Politik. Der Cavaliere, wie Berlusconi auch genannt wird, nannte seine Partei „Forza Italia“, nach dem Stadionausruf der italienischen Fußballfans, und er instrumentalisierte fortan seinen AC Mailand. Brachte die eigene Partei gerade keine Positivnachrichten, brachte sie eben sein Verein. Als Präsident eines Top-Serie-A-Klubs kommen auch die einschlägigen Gazetten nicht an einem vorbei.

„Die italienische Gesellschaft hat starke Züge einer postdemokratischen Gesellschaft, in der die Teilnahme am kollektiven Spektakel die demokratische Partizipation ersetzt“, sagt Schönau. Im Klartext, was die Italiener im Parlament vermissen, bekommen sie im Stadion oder beim gemeinsamen Fußballfernsehen: Teilnahme. Schon deshalb ist aus deutscher Sicht der Stellenwert des Fußballs in Italien schwer zu ermessen – und mit ihm der Stellenwert der Sportzeitungen.

In Deutschland gebe es die Tradition der akademischen Auseinandersetzung mit dem Fußball nicht, „die Disziplin des calcio parlato, des gesprochenen Fußballs“. In Italien könne im Fernsehen auch zwanzig Minuten über eine Schiedsrichterentscheidung diskutiert werden – „Fußball-Debatten werden in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gerückt“, sagt Schönau. 1998 beschäftigte eine strittige Schiedsrichterentscheidung gar das italienische Abgeordnetenhaus. Und sollte, was die Mandatsträger beschäftigt, nicht auch die Presse beschäftigen?

Dass es in Deutschland keine Fußballsprache gebe, merke man schon an den hiesigen Fernseh-Sportkommentatoren. „Die sind erstaunlich sprachlos“, sagt die Journalistin: „Ecke – Lahm, Pass – Schweinsteiger; das war’s.“ Die italienischen Kommentatoren würden „eine Geschichte erzählen“, „eine Dramaturgie entwickeln“. Ähnlich auch die Sportzeitungen, die „neben den Hintergrundberichten über die Unterhaltungsindustrie Fußball auch Mythen schaffen, einen Voyeurismus bedienen“. Dann hat Birgit Schönau die Formel gefunden: „Eine ‚Bunte‘ für Männer, das ist die italienische Sportzeitung.“

Obgleich sich etwas geändert hat im Land der Tifosi. Der Fußball-Korruptionsskandal von 2006 habe einen Bruch verursacht, sagt die Journalistin. Die Gewalt in den italienischen Fußballstadien tat ihr Übriges. „Viele Italiener betrachten ihren Sport heute kritischer.“ Die täglichen Sportzeitungen hat das nicht weiter tangiert, in den vergangenen drei Jahren haben sich die Auflagenzahlen nur unmerklich verändert. Was früher live im Stadion verfolgt wurde, wird heute eben vom Sofa aus im Fernseher gesehen – oder in der Zeitung nachgelesen. „Der Ausflug ins Stadion ist tot“, sagt Schönau, „nicht der Fußball.“ Mit ihm leben die täglichen Sportzeitungen weiter.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 18.05.2008)

Saturday, May 17, 2008

Das kollektive Kauen (Berliner Zeitung)

Das kollektive Kauen
Die Alltagsdroge Qat ist im Jemen beliebter als Kaffee. Das bringt einige Probleme mit sich - zum Beispiel Wassermangel
Regina Kerner

SANAA. Was ist bloß los in diesem Land? Es sieht aus, als grassiere eine hoch entzündliche Zahnkrankheit oder als hätten alle verabredet, sich Tennisbälle in eine Gesichtshälfte zu schieben. Ab der Mittagszeit begegnet man im Jemen kaum einem Mann ohne pralle Backe, egal ob es sich um Bauern, Lkw-Fahrer, Polizisten oder Geschäftsleute handelt. Sprechen diese Männer, schiebt sich ein grellgrüner Brei zwischen ihre Zähne. Es sind nämlich keine Pingpong- oder Tennisbälle, sondern Bällchen aus zerkauten Blättern des Qatstrauchs, die sie stundenlang in der rechten oder linken Backe "lagern", wie es im arabischen Sprachgebrauch heißt.
Das Ganze sieht ziemlich dämlich aus, aber das scheint keinen zu stören. Denn der säuerlich-bittere Saft der Qatpflanze euphorisiert. "Ich fühle mich stark", beschreibt der 23 Jahre alte Ahmed, der in der Hauptstadt Sanaa als Fahrer arbeitet, die Wirkung des Qats. Meist sitzt er beim Kauen mit Freunden beisammen und redet angeregt, "über alles", wie Ahmed sagt, Politik, Arbeit, Familie. "Ich kriege beim Qat die besten Ideen."

Gesellschaftliches Ritual

Auch wenn er hinterm Lenkrad sitzt, kaut Ahmed. Es hält ihn wach, sagt er. Seine tägliche Ration kauft er nach dem Mittagessen auf einem der vielen Märkte am Straßenrand, wo große Ballen von Qatzweigen liegen, oder bei einem der Händler, die am Morgen im Umland geerntete Zweigspitzen in kleinen Plastiktüten an jeder Kreuzung anbieten. Je nach Qualität kostet ein Beutel zwischen 300 und 3 000 Rial, ein bis zehn Euro - viel in einem Land, in dem das Jahres-Durchschnittseinkommen bei umgerechnet knapp 500 Euro liegt. 42 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze und hat weniger als zwei US-Dollar am Tag.

Dennoch kauen 72 Prozent der Jemeniten, die in der Mehrzahl noch den traditionellen Wickelrock und den Krummdolch im Gürtel tragen, nach einer Statistik der Weltbank regelmäßig Qat. Ob in Sanaa oder in abgelegenen Dörfern des Nordjemen, überall sitzen ab ein oder zwei Uhr nachmittags Grüppchen von Männern zusammen, grüne Büschel in der Hand, von denen sie die zartesten Blättchen abpflücken. Zum Ritual gehört, viel Wasser, Tee oder Cola zu trinken und Zigaretten zu rauchen. Auch ein Drittel der jemenitischen Frauen kaut Qat, allerdings nur zu Hause, im Kreis von Freundinnen und Nachbarinnen, schließlich herrscht strenge Geschlechtertrennung.

Der soziale Zwang zum Qatkauen ist groß. "Wer nicht kaut, ist ausgeschlossen", sagt Ahmed. Auch Scheich Mohammed Saleh, Dorfältester in Qaratil, etwa eine Autostunde von Sanaa entfernt in einem der Hauptanbaugebiete von Qat gelegen, kann sich diesem Zwang nicht entziehen. "Eigentlich weiß jeder, dass Qatkauen schädlich ist", sagt er. "Es macht Jemen zu einem armen Land und ist schlecht für die Gesundheit." Trotzdem schiebt sich der Scheich die grünen Blätter in den Mund, wenn die Männer des Dorfes nachmittags in den Empfangsraum seines Hauses, den Diwan kommen, und Probleme und Streitigkeiten besprechen. So will es eben das gesellschaftliche Ritual.

"Ich sage den Männern aber immer wieder, dass sie ihr Geld lieber für ihre Kinder ausgeben sollen statt für Qat", beteuert Scheich Mohammed. Viele Kinder im Jemen sind nicht zuletzt deshalb unterernährt, weil die Eltern dem Qat verfallen sind. Donia, die verschleierte Hebamme in der Gesundheitsstation von Qaratil, beklagt, dass viele Säuglinge mit Blutarmut auf die Welt kommen, weil die Schwangeren Qat kauten.

Dass Qat den Jemen zu einem armen Land macht, stimmt nur zum Teil. In den Hauptanbaugebieten der Pflanze, den Hochebenen nördlich von Sanaa und im Bergland von Amran, die um die 2 500 Meter über dem Meeresspiegel liegen, leben die Bauern gut davon. Die Frage ist nur, wie lange noch.

Die Landschaft hier ist ausgedörrt und sandgrau. Regen fällt nur im Frühjahr sowie im Juli und August, dann aber zuweilen als Sturzflut. Seit Jahrhunderten wird Wasser in Zisternen aufgefangen und durch ausgeklügelte Bewässerungssysteme auf terrassierte Felder geleitet.
In diesem Jahr warten die Bauern vergeblich auf den Frühjahrsmonsun. Das letzte Mal hat es im August geregnet. Sie haben den steinigen harten Boden der Felder wieder und wieder gepflügt, damit er das Wasser, wenn es denn endlich kommt, überhaupt aufnehmen kann. Dann sollen hier Sorghumhirse und Hartweizen sprießen, sie sind genügsam, kommen mit wenig Wasser aus. Aber Getreide bringt nicht viel Geld. Das für eine jemenitische Mahlzeit unverzichtbare Fladenbrot wird von der Regierung subventioniert, der Weizen dafür kommt meist aus dem Ausland. Qat bringt den Bauern etwa fünf Mal mehr ein.

Hamid Rashid aus dem Dorf Beit Ghufr baut zwar Weizen an, um seine etwa 50-köpfige Großfamilie zu ernähren. Geld verdient er aber mit seinen Qatfeldern. Gemeinsam mit Söhnen und Enkeln erntet er jeden Morgen die frischen Zweigspitzen. Qat gedeiht zwar auch auf schlechtem Boden, aber im Gegensatz zu Weizen müssen die Sträucher und Bäume regelmäßig bewässert werden. Hamid Rashid zahlt für das Wasser jedes Jahr 100 000 Rial, etwa 330 Euro. Das ist viel, aber er verdient das Drei- bis Vierfache, wenn er das Qat an Händler verkauft.

Weil die Bauern immer mehr Qat anbauen, fließt inzwischen die Hälfte des für die Landwirtschaft genutzten Wassers auf die Qatfelder. Selbst Kaffee, das einmal ein wichtiges Exportprodukt war, ist durch Qat verdrängt worden. Und viele Landstriche trocknen aus. Die Bewohner fürchten, dass sie bald nicht einmal mehr Trinkwasser haben werden.

"Im Amran-Becken sinkt der Grundwasserspiegel jedes Jahr um sechs Meter", sagt der deutsche Geograf und Islamwissenschaftler Gerhard Lichtenthäler. Er berät gemeinsam mit anderen Experten der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) seit 2004 die jemenitischen Behörden und das Wasserministerium, wie kostbare Vorräte geschont und gerecht verteilt werden können. Allein aus den 2 500 Brunnen der Qatregion Amran holen die Bauern zehnmal mehr Wasser, als durch Regen nachfließt. Um neue Brunnen zu bohren, muss man inzwischen 250 bis 400 Meter tief vordringen, bis man auf Wasser stößt.

"Nach islamischem Recht ist Wasser für alle da, man kann es nicht besitzen und also auch nicht verkaufen", erklärt Gerhard Lichtenthäler. Allerdings gibt es Nutzungsrechte. Wer zum Beispiel Land über dem Grundwasserspeicher besitzt und einen Brunnen bohrt, kann von anderen Geld für die Nutzung verlangen. Das führt häufig zu Streit. "Diese Auffassung steht oft im Konflikt mit dem Anspruch des Staates als Eigentümer und rechtmäßigem Verwalter der Wasserressourcen", sagt Lichtenthäler. Mit Unterstützung der GTZ-Berater haben viele Dorf- und Stammesgemeinschaften Abkommen geschlossen, wie sie das Wasser aufteilen.

Der zuständige Vize-Gouverneur von Amran, Abker Ali Baker, ein Mann mit imposantem schwarzem Schnurrbart, verweist darauf, dass in seinem Distrikt illegale Bohrungen für die Qatbewässerung verboten wurden, neue Qatfelder auch. Wer sich nicht daran halte, der müsse eine Strafe zahlen. Allerdings steht nur eine halbe Autostunde vom Gouverneursgebäude entfernt, kilometerweit sichtbar, ein Bohrfahrzeug in der Hochebene, das ohne Genehmigung nach Wasser bohrt. Zwanzig Qatbauern aus der Gegend hätten dafür Geld zusammengelegt, erzählt Khaled, der in einem klapprigen Pickup-Wagen vorbeifährt. Die Abschreckung per Gesetz scheint nicht ganz zu funktionieren.

Massive Unruhen bei Verbot

Fatima el Hababi ist Geschäftsführerin der Vereinigung zum Kampf gegen Qat, die ihren Sitz in der Hauptstadt Sanaa hat und der etwa 200 einflussreiche Jemeniten angehören. Sie hält dieses Beispiel für typisch. Die Regierung gehe nicht konsequent vor, um das Qatproblem einzudämmen. So sei es verboten, während der Arbeit Qat zu kauen. Aber kein Mensch halte sich daran. Das Laster schade der Wirtschaft des Landes erheblich. "So viele Jemeniten kauen stundenlang Qat, statt ihre Energie sinnvoll einzusetzen", klagt Fatima el Hababi. Es genüge nicht, dass Präsident Ali Abdullah Saleh im Dezember erklärt hat, er kaue künftig nicht mehr. Die Regierung müsse den Anbau und Konsum von Qat strikt verbieten.

Gerhard Lichtenthäler glaubt nicht, dass sich diese Forderung umsetzen lässt. "Qat beruhigt die politische Situation im Jemen. Es gäbe schnell massive Unruhen, wenn es verboten würde", sagt der GTZ-Experte. Und Vize-Gouverneur Abker Ali Baker sagt: "Es leben einfach zu viele Menschen vom Qat." 80 Prozent der Jemeniten arbeiten in der Landwirtschaft.

Eines allerdings könnte die Situation grundlegend ändern: Auch im Jemen werden durch höhere Weltmarktpreise Nahrungsmittel teurer. Ein kleines Brot kostet zwanzig Rial, doppelt so viel wie vor ein paar Wochen. Weizen und Gemüse anzubauen, könnte für die Bauern vielleicht genauso lukrativ werden wie der Verkauf von Qat. Und würde das Qat-Angebot knapper, könnten sich viele das Kauen nicht mehr leisten.

Ahmed, der Mietwagen-Fahrer aus Sanaa, will sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn er nicht mehr täglich sein Qat in der Backe hätte, das ihn so stark macht. Eher würde er weniger essen, sagt Ahmed. Qatkauen dämpft schließlich auch das Hungergefühl.

Im Interview: Michael Palin (SZ)

03.05.2008 Im Interview: Michael Palin
"Es muss weh tun"
Als Mitbegründer der Komikergruppe Monthy Python hat Michael Palin dem englischen Humor seinen Stempel aufgedrückt. Nach seiner Auffassung wollen die Engländer gedemütigt werden, um sich zu amüsieren.

Michael Palin wird von allen Menschen auf den Straßen am Covent Garden nicht nur erkannt, sondern mit irgendwie herzerwärmender Dankbarkeit angelächelt. Zunächst gibt es ein Mittagessen im privaten "Two Brydges"-Club. Reizend. Steile Treppen. Kamin. Ölgemälde zeigen schöne gelangweilte Aristokratinnen. Mit "Monty Python" feierte man hier rauschende Partys. Er ist ein sehr zuvorkommender und hellwacher Brite, gutes Hemd, feiner Trenchcoat, aufmerksam funkelnde Augen. Nach dem Essen und aufschlussreichen Anekdoten aus dem Leben der Pythons geht es in sein Büro in der Tavistock Street. Reden wir nun über seine Landsleute!

SZ: Mister Palin, in Ordnung, dass wir jetzt über die Engländer sprechen? Und über eine gewisse, wie soll ich sagen . . . recht besondere Eigenart?
Palin: Gerne. Ich habe mir alle Zeit genommen.

SZ: Max Mosley und die Nazi-Huren, Prinz Harry in Nazi-Uniform . . .
Palin:. . . absolute Einzelfälle . . .

SZ: . . . Fotomontagen deutscher Fußballspieler in Wehrmachtsuniform in den Zeitungen, und es ließen sich weitere Belege nennen für ein Nazi-Faszinosum . . .
Palin: . . . nun gut, nun gut. Ich muss Sie nicht zum Lachen bringen, oder?

SZ: Nicht zwingend.
Palin: Und wenn Sie doch lachen müssen, tun Sie es bitte einfach. Ich hingegen werde versuchen, stets ernst zu bleiben.

SZ: Mit Monty Python erforschten Sie die Abgründe der Briten, heute haben Sie über Ihre Reisefilme in der BBC ein riesiges Publikum. Sie kennen sich aus, mit den Briten, mit der Fremde, und darin, wie man Briten die Fremde näherbringt, oder?
Palin: Wissen Sie, was ich grundsätzlich merke, wenn ich sehr weit weg bin?

SZ: Was?
Palin: Dass es einen englischeren Menschen als mich womöglich nicht gibt.

SZ: Woran merken Sie das?
Palin: Es ist mehr ein Gefühl. Eine Mischung aus Neugier und Blässe womöglich. Nun zu diesen tatsächlich evidenten Nazidingern hier in der Presse und so weiter, tja . . . . .

SZ: ...schon müssen Sie lächeln.
Palin: Aus einer gewissen Scham heraus. Wie so vieles, was das Königreich Großbritannien in seiner Alltagskultur auffährt, ist auch das alles ja überaus beschämend. Andererseits könnte man sagen, es ist Teil unseres weltweit einzigartigen und zu Recht vielfach preisgekrönten Humors.

SZ: Warum?
Palin: Dieser Humor basierte immer schon auf Demütigung - darauf, eine Niederlage zu erwarten, sich mental rechtzeitig auf sie vorzubereiten und dann Pointen parat zu haben, um sich totzulachen.

SZ: Niederlage? Es wäre gewagt zu behaupten, dass England zwei Weltkriege gegen Deutschland verloren hat.
Palin: Natürlich.

SZ: Was man als Deutscher oft nicht versteht: Ihr habt den Krieg gewonnen - wir sind doch sozusagen eh schon blamiert.
Palin: Sie greifen zu kurz.

SZ: Inwiefern?
Palin: Sie dürfen die Jahre, die dem letzten Weltkrieg folgten, nicht vergessen. England hatte einige prächtige Jahrhunderte hinter sich - wir waren die Weltmacht schlechthin. Aber absolut nicht mehr im 20.Jahrhundert. Und nach dem Zweiten Weltkrieg schon mal gar nicht mehr.

SZ: Eine geschlagene Siegermacht?
Palin: England lag vollkommen am Boden. Der Eindruck war, dass die Deutschen nur ein paar Wochen brauchten, um den Staub von der Kleidung zu schütteln und einen Wirtschaftsmotor anzuschmeißen, der einzigartig erfolgreich war, und das ist er doch, Krise hin oder her, bis heute! Schauen Sie sich die deutschen Exportzahlen an. Und es ging den Deutschen schon in den 50ern und in den 60ern schlicht viel besser als uns. Das hat . . .

SZ: . . . zu einer gewissen Verstimmung unter den Briten geführt?
Palin: Der Eindruck war: Es ist schon okay, dass sie eine Demokratie und eine Chance haben, die Deutschen, nach dem Blut, das sie ja auch selbst vergossen haben. Aber: sie hätten sich ein wiiiiinziges bisschen mehr schämen können für das Grauen, das sie angerichtet haben. Stattdessen sind sie wieder so effizient. Und diszipliniert. Da wiederum sind wir bei einem englischen Trauma. Wenn es zwei Eigenschaften gibt, die wir Engländer nicht haben: Effizienz und Disziplin.

SZ: Verzeihen Sie, aber die Disziplin der Engländer ist berühmt.
Palin: Ich rede ja nicht von den kleinen Gelegenheiten, von der Schlange vorm Bus und derlei. Sondern von den großen. Von Kriegen. Vom Gesundheitssystem. Von der Eisenbahn. Oder von der Einweihung eines tollen neuen Flughafenterminals in Heathrow, das viereinhalb Milliarden Pfund kostet - aber keine Parkplätze fürs Personal einplant!

SZ: Okay, zu Heathrow gleich mehr.
Palin: Von mir aus übrigens bitte gerne nicht.

SZ: Vorweg eine gewagte These, und Sie können mich ja dann rausschmeißen . . .
Palin:. . . nein, nein, demütigen Sie mich!

SZ: Hat der Automobilverbandspräsident Mosley stellvertretend für viele Gefallen daran gefunden, mal so richtig, nun ja: dizipliniert zu werden?
Palin: Wir werden hier nicht in Vulgärpsychologie verfallen, nicht wahr? Nur, zweifellos ist er der Sohn des ehemaligen britischen Faschistenführers, und, nein: keine Spekulationen darüber, wieso sich der Sohn des Faschistenführers von einer deutschen Hure entlausen lässt - mein Gott!! Als Autor von Drehbüchern und als Komiker mit einem gewissen filmhistorischen Strafregister muss ich, wenn ich so was lese, natürlich auch sagen: Ich bin stolz, zu einem Volk zu gehören, das solche Prachtkerle auf die Wirklichkeit loslässt!

SZ: Aber meine anmaßende Frage war . . .
Palin: . . . ob Mosley es stellvertretend für alle Briten erregt, von Damen in SS-Uniformen über den Stuhl gelegt zu werden?

SZ: Gut, lassen wir das, Mister Palin.
Palin: Nein, nein, also . . . wenn Sie es ein wenig metaphorisieren vielleicht?

SZ: Tun Sie es!
Palin: Also, hier, Sir: Yes, we love to be spanked! Wir Engländer lieben es gottverdammt noch mal, den Arsch versohlt zu bekommen - hahaha! Anwesende natürlich ausgenommen. Aber unser Humor, wie gesagt, er basiert darauf, erst zu demütigen und dann gedemütigt zu werden.

SZ: Oder umgekehrt.
Palin: Oder umgekehrt. Jedenfalls gibt’s was auf den Hintern. Es muss weh tun.

SZ: Er ist nicht so offensiv wie der amerikanische Humor, zum Beispiel der Humor des Rat Pack in Las Vegas, der darauf abzielte, dass man das beste Mädchen . . .
Palin: . . . exakt. Heute hat sich der Humor natürlich internationalisiert, es gibt ja womöglich auch bei deutschen Komikern Beispiele für eher britischen Humor . . .

SZ: . . . kein gutes Thema . . .
Palin: . . . gut. Aber der amerikanische Humor gründete seit der Stummfilmzeit darauf, dass gerade der Underdog es schafft, das Mädchen zu kriegen. Wenn aber Briten etwas nicht finden, niemals, dann: den Zubringer auf die Gewinnerstraße. Unser Vorbild bei Monty Python war nicht das Rat Pack, sondern die "Goon Show" von Spike Milligan . . .

SZ: . . . neben Peter Sellers die große bipolare Persönlichkeit des britischen Humors.
Palin: Spike war manisch-depressiv, und er war der größte Komiker, den ich kenne. Und die "Goon Show", sie verhandelte vor allem Spikes Kriegsneurose. Er war traumatisiert von seiner Zeit bei der Royal Artillery in Afrika. Das Prinzip der "Goon Show" war nicht die große, rührende oder jedenfalls alles auflösende Pointe am Ende. Die gab es meistens nicht - wie es sie ja bei Monty Python auch nicht gab. Die jeweilige Maßeinheit pro Sketch war dafür: das Ausmaß des jeweils gestifteten Unfriedens. Und die Deutschen hatten einfach ein ungeheures Traumapotential abgefeuert. Sie waren einschüchternd, alles glänzte, war spitz und scharf, es war perfekt choreographiert und dabei furchtbar in der Wirkung, es war wirklich insgesamt sehr, sehr, wie soll ich sagen: eckig? Ja: eckig! Und effizient!

"Es muss weh tun"

SZ: Oh Gott . . . wirken wir heute noch eckig?
Palin: Nein, beruhigen Sie sich. Das war einmal. Und diese Horrorshow nun, sie kam nicht aus einem Land wilder Irrer, sondern aus einem künstlerischen und aufgeklärten Land, einem Land großer Regisseure und Autoren, aus dem Land von Thomas Mann, Bertolt Brecht. Es gab hohe künstlerische und moralische Maßstäbe. Die moralischen waren dann aus der Mode gekommen . . .

SZ: . . . das haben Sie fein gesagt.
Palin: Aber rein künstlerisch sind - das ist das Irritierende - diese sehr fatalen Filme von Leni Riefenstahl Meisterwerke, diese ganze Nürnberger Maschinerie aus Licht und Choreographie . . .
SZ: . . . womit im Pop viel gearbeitet wurde. Nehmen wir Texte der Rolling Stones wie "Sympathie For The Devil" oder Shows von Pink Floyd oder David Bowie. Regelrechte Teufelsaustreibungen, oder?
Palin: Richtig. Und auch hier sind wir wieder bei der Demütigung. Nennen Sie es Pop oder nicht Pop. Fakt ist: die Zeichensprache der Nazis, die Inszenierung, sie war ziemlich scharf. Das sah - in der Inszenierung, wir wollen uns nicht missverstehen - smart aus. Ich meine, schon diese verdammten Wehrmachtsuniformen, sie waren todschick. Bis heute machen wir hier Witze über die Helme unserer Soldaten!

SZ: Wieso?
Palin: Während die Wehrmacht verdammt gut geschnittene Helme hatte, sahen unsere aus wie umgedrehte Suppenschüsseln. Natürlich schauten die weltberühmten englischen Segelohren an der Seite raus. Solche Sachen. Wir waren nicht cool. Es hielt sich zudem lange der Eindruck, dass wir den Zweiten Weltkrieg nicht in dem Sinne gewonnen hatten. Sondern dass wir uns eher bei den unkultivierten Amerikanern bedanken sollten, dass wir ihn nicht verloren haben, dass also das Königreich von den deutschen V2-Raketen nicht vollkommen planiert wurde.

SZ: Insgesamt starben bei den deutschen Luftangriffen, den "Blitz" im Herbst 1940 eingeschlossen, mehr als 66.000 Zivilisten in England.
Palin: Und beachten Sie: Es war ja eben der Blitz aus dem Himmel, es war in dem Sinne zunächst kein Frontenkrieg.

SZ: Sie meinen, dass die Paranoia durch die Insellage zusätzlich kultiviert wurde?
Palin: Durchaus, der Tod kam aus dem Himmel: wie ein Fabelwesen. Nicht, dass es für Polen oder Holländer leichter gewesen wäre, Gott bewahre. Aber die Insellage, sie schürte den Wahnsinn, was bleibt dir übrig: Du kannst nicht abhauen, du kannst in Dover vom Felsen springen. Paranoid! Da gibt es dann in der Umkehrung auch einen komischen Aspekt.

SZ: Welchen?
Palin: Das Inseldasein hat ja in glorreicheren Zeiten maßgeblich zur britischen Selbstüberschätzung beigetragen. Wir selbst waren nicht die Insel - alles andere war die Insel! So kann man es sehen. Wenn man nur irre genug ist. Aaaah, diese Selbstüberschätzung liebe ich! Sie war Anlass für zahllose Python-Sketche.

SZ: Es gab diese berühmte Zeitungsüberschrift in England zu Beginn des 20.Jahrhunderts: "Fog over the channel, continent isolated." Nebel über dem Kanal, Europa isoliert. Toll.
Palin: Die Mutter aller Selbstüberschätzungen. Kein Wunder, dass wir seither masochistisch veranlagt sind. Es ist inzwischen Teil der britischen DNS, zu scheitern, mit vollen Hosen dazustehen und aber relativ gute Witze darüber zu machen. Und zwar scheitern wir bis heute immer dann, wenn es um große Projekte geht. Ich nenne es: das "Big Occasion Syndrom".

SZ: Noch einmal: Den Krieg haben die effizienten Deutschen verloren.
Palin: Ja, aber nicht aufgrund von angeborener Unfähigkeit zur Effizienz. Sondern weil man in Deutschland an ein totalitäres System glaubte, das, weil es so total war, zu allem fähig sein würde. Es gibt viel Unheil in Großbritannien, auch politisches, aber ich glaube, der Brite ist eher mal nicht in der Lage, an ein totalitäres System zu glauben. Er glaubt überhaupt nicht an eine Systematik. Er glaubt an ein paar Benimmregeln für den Alltag, die das Leben erleichtern. Und im Übrigen glaubt er ans totale Chaos. Diese Einstellung ist mir auch sympathisch. Wie gesagt, einen englischeren Menschen als mich finden Sie nicht.

SZ: Und doch nehme ich Ihnen nicht ab, dass jedes Großprojekt hier zum Scheitern verurteilt ist. Zum Beispiel haben Sie mit Monty Python große Filme gestemmt. Denken Sie an "Life Of Brian"!
Palin: Den hat nur George Harrison gerettet. Wie überhaupt in England etwas meist nur dann funktioniert, wenn sich ein reicher Musiker einschaltet.

SZ: Wie kam das?
Palin: Der Chef der EMI, die den Film produzieren sollte, las - kurz vor dem Drehstart - das Drehbuch. Bisschen spät.

SZ: Und dann?
Palin: Eine Parodie auf Bibel-Verfilmungen. Singende Menschen am Kreuz. Kalkweiß saß er da: "Wenn ich den Film finanziere, bin ich dem Untergang geweiht. Tut mir leid, Jungs!" Wie auch in Heathrow scheiterte also ein Projekt in der Vorbereitung, das aber faktisch schon begonnen hatte. Die Kreuze und Römer-Kostüme waren ja schon am Drehort in Tunesien.

SZ: Wieso hat Harrison ausgeholfen?
Palin: Hab’ ich ihn auch gefragt: "George, es geht um viel Geld! Fünf Millionen Pfund! Bis morgen! Wieso tust du das für uns?" George, auf seine wunderbar nasale Art, sagte nur: "Weil ich den Film sehen will." Bei "Monty Python And The Holy Grail" waren es dann die humorbegabten Herren von Pink Floyd, die viel Geld ’reinlegten. Sie waren gerade durch die "Dark Side Of The Moon"-Sache zu einem überraschend unüberschaubaren Reichtum gekommen. Aber: Wehe, es wird etwas von offizieller Seite geplant hier in England! Ich gebe Ihnen meine Hand drauf: es wird schiefgehen.

SZ: Das neue Terminal in Heathrow . . .
Palin: . . . Jahrzehnte der Planung. Jahrzehnte politischer Diskussionen. Milliardenkosten. Und? Ein Desaster. Was groß ist, scheitert. Es liegt an der hochexplosiven Mischung in unserer lustigen DNS: Empire-Übermut und gleichzeitig maximale Selbstdemütigungsdrehzahl. Als wollten wir vor der Welt dastehen wie die dummen "Upper Class Twits" aus dem Python-Sketch . . . Sie erinnern sich?

SZ: Die "Meisterschaften um den Blödmann des Jahres aus der Oberklasse"? Hurra! Im Namen der Leser möchte ich Ihnen auch für diesen Sketch sehr danken.
Palin: Bitte sehr! Also, hier eine kleine Chronik des Versagens: Nehmen Sie die beiden Prestigeprojekte mit dem Architekten Richard Rogers. Der Millennium Dome, 320 Meter Durchmesser, das neue Terminal in Heathrow für 30 Millionen Passagiere unserer sensationellen Fluglinie British Airways. Der Dome begeisterte im Jahre 2000 am Eröffnungsabend dadurch, dass keiner reinkam, weil die Türen kaputt waren. Dann ging er pleite, was mich nicht wundert. Heute können wir froh sein, dass die Amerikaner von O2 ihn 2005 übernahmen und eine Konzertarena draus machten. Sonderbarerweise läuft alles seitdem reibungslos.


03.05.2008 8:35 Uhr
Im Interview: Michael Palin
"Es muss weh tun"


SZ: Im Terminal 5 . . .
Palin: Im Terminal 5 verschwanden Hunderttausende Koffer, weitere Einzelheiten wollen wir uns ersparen. Schon beim Tunnel unterm Kanal müssen wir uns bei den Franzosen bedanken, denn ohne die hätten wir womöglich bis zu den Kanarischen Inseln weitergegraben. Nur am Rande erwähnen will ich, dass sogar die Spanier - die Spanier! - inzwischen schnellere Züge bauen als wir. Dass der Großcomputer, der unser marodes Gesundheitssystem NHS revolutionieren sollte, ein Totalausfall ist, wussten Sie es schon? Und das neue Wembley Stadion wurde zwei Jahre zu spät fertig, weshalb ich nicht verstehe, dass alle Welt Angst hat, ob die Südafrikaner mit ihrer Infrastruktur fertig werden bis zur WM 2010, weil: wirklich Sorgen machen sollte man sich darüber, dass die Olympischen Spiele 2012 in London stattfinden - ich sage Ihnen: Machen Sie sich auf was gefasst!

SZ: Sie sind ja ganz außer sich.
Palin: Natürlich. Denn immer werden diese "big occasions" hier als die Ankunft des leibhaftigen Gottes in London gepriesen - und immer ist das nur die Overtüre zum dann größten Witz der Welt.

SZ: Ich darf daran erinnern, dass England bei der Fußball-Europameisterschaft nicht dabei sein wird . . .
Palin: ... ich danke Ihnen! Übrigens das vielleicht beste Anschauungsmaterial für meine These von Wahn und Scheitern des Empires. Denn was passiert eigentlich immer, wenn unser Team gefragt ist?

SZ: Es scheitert.
Palin: Ja, aber nicht einfach so. Das Vorspiel ist interessant: Wir scheitern bei der WM in ausgerechnet Deutschland, peitschen uns vor aller Welt selbst fast zu Tode vor Scham - und schwören dann plötzlich über Nacht in unseren feinen Zeitungen, derselben Welt bei der EM zu zeigen, welche Nation gottverdammt nochmal den Fußball erfunden hat und dann halt Europameister werden wird! Statt uns nun aber - wie die effizienten Deutschen - ordentlich zu organisieren, vergessen wir, eine halbwegs den Anforderungen entsprechende Qualifikation zu spielen und werden dann nicht Europameister, weil es dazu ja zum Beispiel zwingend nötig gewesen wäre, überhaupt zur Europameisterschaft hinzufahren, oder?

SZ: Schon, ja, aber . . .
Palin: Beachten Sie die Kurve, die nur extreme Koordinaten zeigt: Übermut - Schande - Selbsthass - Komik - und dann wieder Übermut. Alles in drei Sekunden.

SZ: Mister Palin, könnte in der Gewissheit, mit der zum Beispiel die Menschen hier in London das Chaos einkalkulieren, nicht aber auch der Charme liegen, der diese Stadt so überaus liebenswert macht?
Palin: Sie meinen . . .

SZ: Zum Beispiel: Wie bewegend der lässige Stolz war, mit dem man hier im Juli 2005 bewiesen hat, dass man sich durch Terroristen nicht beeindrucken lässt . . .
Palin: . . . natürlich . . .

SZ: . . . in Amerika wäre die nackte Hysterie ausgebrochen, in Deutschland finstere Nacht, tiefe Depression.
Palin: Ich hoffe, dass ich mich klar ausgedrückt habe: Ich liebe dieses Land, und ich liebe diese Stadt. Sollte ich von einem Problem gesprochen haben, so bin ich selbstredend Teil des Problems und habe immer auch von ihm profitiert. Ohne dieses England hätte es Monty Python nie gegeben. Das Faszinierende an London ist für mich bei all dem Chaos ja auch: diese Masse an glücklich aussehenden, an so überaus fröhlichen jungen Menschen. Ich weiß, wie hart sie arbeiten, um das Leben hier zu finanzieren, aber wo auf der Welt finden Sie so viele glückliche junge Menschen? Es war immer so, und dass es heute noch so ist, wo alles hier so teuer ist: Ich finde das sehr bemerkenswert.

SZ: Sehen Sie das bei Ihren Reisen durch Deutschland auch?
Palin: Was? Chaos? Nein.

SZ: Sehr viele glückliche junge Menschen?
Palin: Hm . . .

SZ: Nein?
Palin: Ich habe eben dieses interessante Buch von Sebastian Haffner gelesen, seine Erinnerungen an die Zeit von 1914 bis zur Machtergreifung durch die Nazis ("Geschichte eines Deutschen", dtv, die Red.). Haffner schreibt vom großen Talent der Deutschen zur Melancholie. Ich musste beim Lesen an meine letzten Reisen denken, nach Meißen, Dresden, Berlin. Ich hatte Kontakt zu absolut großartigen und sehr nachdenklichen jungen Leuten, als wir unsere Reportage für die BBC drehten. Aber wenn Sie mich fragen, ob es Glück, Spaß oder Zuversicht war, was sie dort im Osten mit ihrem Leben verbanden, ich könnte das jetzt nicht mit einem Jubelschreib bejahen. In Bayern, an den Seen, auch in München sieht die Sache für einen Außenstehenden allerdings schon wieder anders aus.

SZ: Wir werden nur durch das kleine, lästige Land Österreich von Italien getrennt!
Palin: Ich finde München immer wieder sehr hinreißend. Auch mag ich diese Affinität der Bayern zum Wahnsinn. Denken Sie nur an Ludwig II.! Wir waren bei den Pythons absolut besessen von ihm. Wir wollten ihn sogar ins Ensemble aufnehmen. Leider war er schon tot.

SZ: Es ist Höflichkeit, dass Sie das vom englischen Boulevard gepflegte Klischee vom dumpfen Deutschen nicht bestätigen.
Palin: Nein, es ist keine Höflichkeit. Bitte, wie sollte ein Land, das Monty Python bis heute traumhafte Absatzzahlen beschert, dumpf sein? Geben Sie nichts auf den britischen Boulevard! Zeitungen pflegen Ressentiments, weil sie glauben, dass sie so näher am kleinen Mann dran sind. Aber der kleine Mann hier, er hat keine Ressentiments mehr gegen Deutsche.

SZ: Sicher?
Palin: Man kann es drehen und wenden, wie man will: Es liegt einfach länger schon nicht mehr an den Deutschen, wenn in Paddington exakt zu den Stoßzeiten alle Züge gleichzeitig ausfallen.
Palin: Danke.
SZ: Gerne.

(SZ vom 03.05.2008)

Tuesday, May 06, 2008

Die Hoffnung wird bürgerlich (Tagesspiegel)

1. Mai
Die Hoffnung wird bürgerlich
Von Gerd Nowakowski 3.5.2008 0:00 Uhr

Hass und Liebe lautet das Motto der legendären Italo-Punkband „Banda Bassotti“ – früher meinten die das ernst. Beim Auftritt am 1. Mai in Kreuzberg war das nurmehr anarchistische Folklore. So ändern sich die Zeiten. Jetzt werden keine Verhältnisse mehr zum Tanzen gebracht, und Pogo auf der flammenden Barrikade gibt es erst recht nicht mehr. Trotz 138 Festnahmen – so friedlich war es selten. Ein Bezirk atmet auf. Die radikale Linke, die ihren Aufbruchmythos in Hass und Scherben hinter sich hat, ist längst heimisch geworden in ihrem Kiez. Der Bezirksbürgermeister ist ein Grüner, der grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele als direkt gewählter Kiezvertreter bundesweit bekannt, die Revoluzzer von einst mit grauem Haar sind stramm auf dem Marsch in die Rente. Von Kreuzberger Straßenkampf wird nur noch geträumt, wenn es um die Kampagne für eine Rudi-Dutschke-Straße geht – vor der Haustür des Springer-Verlags.

Gut so. Das Ritual der Gewalt, ehedem nahezu ein Pubertätssymbol, das erlebnishungrige Randale-Jugendliche aus der ganzen Bundesrepublik, Migrantenkids und gewaltbereite Autonome am 1. Mai nach Kreuzberg führte – es hat sich überlebt. Endlich. Die Polizei, die einst überhart auch gegen Unbeteiligte den Aufruhr zuweilen provozierte, hat durch kluge Zurückhaltung immer besser gelernt, das Aggressionspotenzial zu dimmen. Tausende Beamte waren auch diesmal im Einsatz, aber fernab im Hintergrund, in Zivil oder als Streitschlichter unterwegs. Nur wenn es knallt, sind die Polizisten zur Stelle und greifen sich zielgerichtet die Krawallmacher heraus. Das findet niemand mehr falsch.

Vor allem ist der 1. Mai anders geworden, weil Kreuzberg anders geworden ist. Ihren Kiez lassen sich die Kreuzberger nicht mehr von betrunkenen Randalierern kaputt machen. Das „Myfest“ hat dieser Stimmung eine Stimme gegeben. Schon als im vergangenen Jahr die legendäre Politband „Ton Steine Scherben“ „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ spielte, dachte keiner mehr an den eigenen Bezirk. Die Alternativen und Autonomen von damals sind heute die Menschen, die ihrem problembeladenen Bezirk mit dem ganz eigenen Lebensmodell eine Art bürgerlicher Hoffnung geben. Anteil an der erfolgreichen Befriedung haben viele Menschen, auch die türkischen Fußballvereine mit dem am 1. Mai ausgespielten Muslim-Cup.

Ob der flammende 1. Mai in Kreuzberg endgültig Geschichte ist, haben die Kreuzberger nicht allein in der Hand. Der globalisierte Protest benötigt die lokale Basis. Im vergangenen Jahr war es der G-8-Gipfel, der die Gewaltbereitschaft in der Bundeshauptstadt befeuerte, diesmal zog Hamburg beim Protest gegen den NPD-Aufmarsch die gewaltbereiten Linksradikalen an. Event-Hooligans, die ihren Adrenalinkick ausleben wollen, wird es immer geben. Da braucht es als Auslöser nicht einmal den öffentlichen Cafébesuch von Berlins Polizeipräsident Dieter Glietsch. An die Provokation des einstigen Berliner Innensenators Heinrich Lummer, der sich 1981 nach der Räumung von besetzten Häusern in unsäglicher Siegerpose auf dem Balkon präsentierte, muss sich niemand erinnert fühlen. Jeder hat das Recht, sich am 1. Mai in Kreuzberg zu zeigen, auch ein Polizeipräsident. Dass dies nicht als kollektive Provokation begriffen wurde, zeigt, wie weit sich Kreuzberg von 1987 entfernt hat. Ob der Auftritt klug war, ist eine andere Frage. So normal ist Kreuzberg dann doch noch nicht.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 03.05.2008)