Knaller an der Zeitungsfront

Saturday, May 17, 2008

Das kollektive Kauen (Berliner Zeitung)

Das kollektive Kauen
Die Alltagsdroge Qat ist im Jemen beliebter als Kaffee. Das bringt einige Probleme mit sich - zum Beispiel Wassermangel
Regina Kerner

SANAA. Was ist bloß los in diesem Land? Es sieht aus, als grassiere eine hoch entzündliche Zahnkrankheit oder als hätten alle verabredet, sich Tennisbälle in eine Gesichtshälfte zu schieben. Ab der Mittagszeit begegnet man im Jemen kaum einem Mann ohne pralle Backe, egal ob es sich um Bauern, Lkw-Fahrer, Polizisten oder Geschäftsleute handelt. Sprechen diese Männer, schiebt sich ein grellgrüner Brei zwischen ihre Zähne. Es sind nämlich keine Pingpong- oder Tennisbälle, sondern Bällchen aus zerkauten Blättern des Qatstrauchs, die sie stundenlang in der rechten oder linken Backe "lagern", wie es im arabischen Sprachgebrauch heißt.
Das Ganze sieht ziemlich dämlich aus, aber das scheint keinen zu stören. Denn der säuerlich-bittere Saft der Qatpflanze euphorisiert. "Ich fühle mich stark", beschreibt der 23 Jahre alte Ahmed, der in der Hauptstadt Sanaa als Fahrer arbeitet, die Wirkung des Qats. Meist sitzt er beim Kauen mit Freunden beisammen und redet angeregt, "über alles", wie Ahmed sagt, Politik, Arbeit, Familie. "Ich kriege beim Qat die besten Ideen."

Gesellschaftliches Ritual

Auch wenn er hinterm Lenkrad sitzt, kaut Ahmed. Es hält ihn wach, sagt er. Seine tägliche Ration kauft er nach dem Mittagessen auf einem der vielen Märkte am Straßenrand, wo große Ballen von Qatzweigen liegen, oder bei einem der Händler, die am Morgen im Umland geerntete Zweigspitzen in kleinen Plastiktüten an jeder Kreuzung anbieten. Je nach Qualität kostet ein Beutel zwischen 300 und 3 000 Rial, ein bis zehn Euro - viel in einem Land, in dem das Jahres-Durchschnittseinkommen bei umgerechnet knapp 500 Euro liegt. 42 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze und hat weniger als zwei US-Dollar am Tag.

Dennoch kauen 72 Prozent der Jemeniten, die in der Mehrzahl noch den traditionellen Wickelrock und den Krummdolch im Gürtel tragen, nach einer Statistik der Weltbank regelmäßig Qat. Ob in Sanaa oder in abgelegenen Dörfern des Nordjemen, überall sitzen ab ein oder zwei Uhr nachmittags Grüppchen von Männern zusammen, grüne Büschel in der Hand, von denen sie die zartesten Blättchen abpflücken. Zum Ritual gehört, viel Wasser, Tee oder Cola zu trinken und Zigaretten zu rauchen. Auch ein Drittel der jemenitischen Frauen kaut Qat, allerdings nur zu Hause, im Kreis von Freundinnen und Nachbarinnen, schließlich herrscht strenge Geschlechtertrennung.

Der soziale Zwang zum Qatkauen ist groß. "Wer nicht kaut, ist ausgeschlossen", sagt Ahmed. Auch Scheich Mohammed Saleh, Dorfältester in Qaratil, etwa eine Autostunde von Sanaa entfernt in einem der Hauptanbaugebiete von Qat gelegen, kann sich diesem Zwang nicht entziehen. "Eigentlich weiß jeder, dass Qatkauen schädlich ist", sagt er. "Es macht Jemen zu einem armen Land und ist schlecht für die Gesundheit." Trotzdem schiebt sich der Scheich die grünen Blätter in den Mund, wenn die Männer des Dorfes nachmittags in den Empfangsraum seines Hauses, den Diwan kommen, und Probleme und Streitigkeiten besprechen. So will es eben das gesellschaftliche Ritual.

"Ich sage den Männern aber immer wieder, dass sie ihr Geld lieber für ihre Kinder ausgeben sollen statt für Qat", beteuert Scheich Mohammed. Viele Kinder im Jemen sind nicht zuletzt deshalb unterernährt, weil die Eltern dem Qat verfallen sind. Donia, die verschleierte Hebamme in der Gesundheitsstation von Qaratil, beklagt, dass viele Säuglinge mit Blutarmut auf die Welt kommen, weil die Schwangeren Qat kauten.

Dass Qat den Jemen zu einem armen Land macht, stimmt nur zum Teil. In den Hauptanbaugebieten der Pflanze, den Hochebenen nördlich von Sanaa und im Bergland von Amran, die um die 2 500 Meter über dem Meeresspiegel liegen, leben die Bauern gut davon. Die Frage ist nur, wie lange noch.

Die Landschaft hier ist ausgedörrt und sandgrau. Regen fällt nur im Frühjahr sowie im Juli und August, dann aber zuweilen als Sturzflut. Seit Jahrhunderten wird Wasser in Zisternen aufgefangen und durch ausgeklügelte Bewässerungssysteme auf terrassierte Felder geleitet.
In diesem Jahr warten die Bauern vergeblich auf den Frühjahrsmonsun. Das letzte Mal hat es im August geregnet. Sie haben den steinigen harten Boden der Felder wieder und wieder gepflügt, damit er das Wasser, wenn es denn endlich kommt, überhaupt aufnehmen kann. Dann sollen hier Sorghumhirse und Hartweizen sprießen, sie sind genügsam, kommen mit wenig Wasser aus. Aber Getreide bringt nicht viel Geld. Das für eine jemenitische Mahlzeit unverzichtbare Fladenbrot wird von der Regierung subventioniert, der Weizen dafür kommt meist aus dem Ausland. Qat bringt den Bauern etwa fünf Mal mehr ein.

Hamid Rashid aus dem Dorf Beit Ghufr baut zwar Weizen an, um seine etwa 50-köpfige Großfamilie zu ernähren. Geld verdient er aber mit seinen Qatfeldern. Gemeinsam mit Söhnen und Enkeln erntet er jeden Morgen die frischen Zweigspitzen. Qat gedeiht zwar auch auf schlechtem Boden, aber im Gegensatz zu Weizen müssen die Sträucher und Bäume regelmäßig bewässert werden. Hamid Rashid zahlt für das Wasser jedes Jahr 100 000 Rial, etwa 330 Euro. Das ist viel, aber er verdient das Drei- bis Vierfache, wenn er das Qat an Händler verkauft.

Weil die Bauern immer mehr Qat anbauen, fließt inzwischen die Hälfte des für die Landwirtschaft genutzten Wassers auf die Qatfelder. Selbst Kaffee, das einmal ein wichtiges Exportprodukt war, ist durch Qat verdrängt worden. Und viele Landstriche trocknen aus. Die Bewohner fürchten, dass sie bald nicht einmal mehr Trinkwasser haben werden.

"Im Amran-Becken sinkt der Grundwasserspiegel jedes Jahr um sechs Meter", sagt der deutsche Geograf und Islamwissenschaftler Gerhard Lichtenthäler. Er berät gemeinsam mit anderen Experten der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) seit 2004 die jemenitischen Behörden und das Wasserministerium, wie kostbare Vorräte geschont und gerecht verteilt werden können. Allein aus den 2 500 Brunnen der Qatregion Amran holen die Bauern zehnmal mehr Wasser, als durch Regen nachfließt. Um neue Brunnen zu bohren, muss man inzwischen 250 bis 400 Meter tief vordringen, bis man auf Wasser stößt.

"Nach islamischem Recht ist Wasser für alle da, man kann es nicht besitzen und also auch nicht verkaufen", erklärt Gerhard Lichtenthäler. Allerdings gibt es Nutzungsrechte. Wer zum Beispiel Land über dem Grundwasserspeicher besitzt und einen Brunnen bohrt, kann von anderen Geld für die Nutzung verlangen. Das führt häufig zu Streit. "Diese Auffassung steht oft im Konflikt mit dem Anspruch des Staates als Eigentümer und rechtmäßigem Verwalter der Wasserressourcen", sagt Lichtenthäler. Mit Unterstützung der GTZ-Berater haben viele Dorf- und Stammesgemeinschaften Abkommen geschlossen, wie sie das Wasser aufteilen.

Der zuständige Vize-Gouverneur von Amran, Abker Ali Baker, ein Mann mit imposantem schwarzem Schnurrbart, verweist darauf, dass in seinem Distrikt illegale Bohrungen für die Qatbewässerung verboten wurden, neue Qatfelder auch. Wer sich nicht daran halte, der müsse eine Strafe zahlen. Allerdings steht nur eine halbe Autostunde vom Gouverneursgebäude entfernt, kilometerweit sichtbar, ein Bohrfahrzeug in der Hochebene, das ohne Genehmigung nach Wasser bohrt. Zwanzig Qatbauern aus der Gegend hätten dafür Geld zusammengelegt, erzählt Khaled, der in einem klapprigen Pickup-Wagen vorbeifährt. Die Abschreckung per Gesetz scheint nicht ganz zu funktionieren.

Massive Unruhen bei Verbot

Fatima el Hababi ist Geschäftsführerin der Vereinigung zum Kampf gegen Qat, die ihren Sitz in der Hauptstadt Sanaa hat und der etwa 200 einflussreiche Jemeniten angehören. Sie hält dieses Beispiel für typisch. Die Regierung gehe nicht konsequent vor, um das Qatproblem einzudämmen. So sei es verboten, während der Arbeit Qat zu kauen. Aber kein Mensch halte sich daran. Das Laster schade der Wirtschaft des Landes erheblich. "So viele Jemeniten kauen stundenlang Qat, statt ihre Energie sinnvoll einzusetzen", klagt Fatima el Hababi. Es genüge nicht, dass Präsident Ali Abdullah Saleh im Dezember erklärt hat, er kaue künftig nicht mehr. Die Regierung müsse den Anbau und Konsum von Qat strikt verbieten.

Gerhard Lichtenthäler glaubt nicht, dass sich diese Forderung umsetzen lässt. "Qat beruhigt die politische Situation im Jemen. Es gäbe schnell massive Unruhen, wenn es verboten würde", sagt der GTZ-Experte. Und Vize-Gouverneur Abker Ali Baker sagt: "Es leben einfach zu viele Menschen vom Qat." 80 Prozent der Jemeniten arbeiten in der Landwirtschaft.

Eines allerdings könnte die Situation grundlegend ändern: Auch im Jemen werden durch höhere Weltmarktpreise Nahrungsmittel teurer. Ein kleines Brot kostet zwanzig Rial, doppelt so viel wie vor ein paar Wochen. Weizen und Gemüse anzubauen, könnte für die Bauern vielleicht genauso lukrativ werden wie der Verkauf von Qat. Und würde das Qat-Angebot knapper, könnten sich viele das Kauen nicht mehr leisten.

Ahmed, der Mietwagen-Fahrer aus Sanaa, will sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn er nicht mehr täglich sein Qat in der Backe hätte, das ihn so stark macht. Eher würde er weniger essen, sagt Ahmed. Qatkauen dämpft schließlich auch das Hungergefühl.

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