Knaller an der Zeitungsfront

Tuesday, April 29, 2008

Leben am Abgrund (Berliner Zeitung)

Leben am Abgrund
Immer wieder brechen Kreidefelsen und Hänge an der Steilküste der Ostseeinsel Rügen ab. Nun könnte erstmals ein Dorf ins Meer rutschen
Andreas Förster
LOHME. Ostseeblick heißt die alte Dorfstraße von Lohme erst seit knapp zwei Jahren. Die Gemeinde hat die Straße umbenannt, weil man von hier aus nun den Leuchtturm von Arkona sehen kann und die Schaabe, den feinen Sandstrand an der Tromper Wiek, wie die langgezogene Bucht zwischen Kap Arkona und den Kreidefelsen des Jasmunder Nationalparks heißt. Über Jahrhunderte hinweg war dieses Panorama hinter Bäumen verborgen. Sie standen auf dem gut vierzig Meter hohen Steilhang, der vom Strand hoch zum alten Fischerdorf Lohme reichte. Bis in einer Märznacht vor drei Jahren ein gewaltiger Erdrutsch 150 000 Kubikmeter Hangwald in die Ostsee stürzen ließ.
An Rügens Kreideküste gibt es seit Jahrhunderten immer wieder spektakuläre Steilhangabbrüche. Im Jahr 2005 brachen die weltberühmten Wissower Klinken im Jasmunder Nationalpark ab, vor wenigen Wochen stürzten unweit von Kap Arkona Kreidefelsen und Geröll in die Tiefe. Wetter und Frost sind die Ursache, meist rutschen die Steilhänge in unbewohnten Gebieten der Insel weg. Im Februar 2005 wurde eine Spaziergängerin am Strand von herabstürzenden Kreidefelsen erschlagen, bislang sind Unglücke dieser Art aber selten.
Bei Lohme liegt der Fall anders. Hier ist eine ganze Gemeinde gefährdet. Der Ort, der vor 150 Jahren Rügens erstes Seebad war, liegt im Norden der Insel Rügen, seine rund fünfzig Häuser stehen auf einem Plateau am Rande der vierzig Meter hohen Steilküste. Hier können keine Felsen abbrechen wie an der nahen Kreideküste in der Gegend um den Königsstuhl. Die Zukunft des Dorfes mit seinen 320 Einwohnern ist durch einen Hang bedroht. Ingenieure haben festgestellt, dass er ins Rutschen kommen und Häuser mit in die Tiefe reißen könnte. Vor drei Wochen sind deshalb Teile der Gemeinde gesperrt worden.
An der alten Dorfstraße in Lohme kniet eine Frau im Garten ihres Hauses und zupft Unkraut aus dem Blumenbeet. "Kapitänshaus Trost, Zimmer frei" steht auf einem Schild am Zaun. Das Grundstück liegt gut hundert Meter von der Stelle entfernt, wo vor drei Jahren ein Stück Steilhang zum Strand abstürzte. Hat sie keine Angst, dass auch hier der Boden plötzlich in Bewegung kommen könnte? "So ein Quatsch", sagt die Frau unfreundlich. An dieser Stelle sei alles sicher, Panik würden nur die Medien machen, so wie vor drei Jahren, als wegen ein paar toter Vögel am Strand die Vogelgrippe in Rügen ausgerufen wurde. "Anderthalb Monate lang hatte ich keinen Urlauber wegen dieses Theaters", schimpft sie.
Andere Einwohner Lohmes pflichten ihr bei. Peter Müller etwa, der hier geboren wurde und heute einen Andenkenladen in der Nähe vom Hafen betreibt. "An der alten Abbruchstelle ist immer schon mal was abgerutscht, aber der Rest vom Hang ist sicher, da ist noch nie was runtergekommen", sagt er. "Na klar bewegt sich das Ufer, aber das ist doch alles nicht so dramatisch, wie es jetzt gemacht wird", meint auch Fred Schneewitz, der seit fünf Jahrzehnten in Lohme lebt.
Jörg Gothow kennt solche Argumente. Mit Argwohn wird der junge Ingenieur aus Bergen von vielen Lohmern betrachtet, weil er den Untergrund des alten Fischerdorfes seit dem Abbruch vor drei Jahren regelmäßig untersucht und jetzt Alarm geschlagen hat. In dem Bereich zwischen der alten Abbruchstelle im Westen und dem Hafen im Ortszentrum besteht seiner Überzeugung nach die Gefahr, dass der zum Teil bebaute Hang bei extrem hohen Grundwasserständen ins Rutschen kommen könnte.
Die Gefahr bestand wohl schon immer. Doch erst seit der Hang untersucht wird, ist sie auch bekannt. Nach den starken Regenfällen Anfang April ist nun der malerisch gelegene Hafen, der in der Saison von vielen Segelbooten angelaufen wird, ebenso gesperrt wie die vom Ort hinunter führende Holztreppe, eine der Attraktionen des alten Seebades. Das Grundwasser steht zu hoch, der Hang ist gefährlich durchfeuchtet, wie Ingenieur Gothow sagt. Die Sperrung gilt vorerst bis 5. Mai. "Vielleicht müssen wir sie auch verlängern", sagt er.
Der Ingenieur hockt auf der alten Dorfstraße und hebt eine kleine, oval geformte Stahlabdeckung aus der Erde. Zwei Rohre führen darunter in die Tiefe, sie sind vierzig und sechzig Meter lang. Es ist eine von zehn Grundwassermessstellen, die Gothows Firma Wastra-Plan in den letzten Jahren in Lohmes Untergrund gebohrt hat. Darin wird elektronisch gemessen, wie hoch das Wasser im Uferhang steht. Normalerweise werden die Werte alle zwei Wochen abgelesen. Nach den Regenfällen von Anfang April kommen die Bergener Ingenieure aber nun täglich hierher und kontrollieren von Hand mittels eines Lichtlots die Wasserstände.
Gothow hängt das Lichtlot, eine kleine metallene Röhre, in das Messrohr und wickelt das daran befestigte Bandmaß ab. Nach einigen Sekunden hört man einen Piepton, das Lichtlot hat die Grundwasserschicht erreicht. "13,72 Meter", liest der Ingenieur ab und trägt den Wert in eine Tabelle ein. Er ist niedriger als an den Vortagen, aber immer noch deutlich höher als der sogenannte Referenzwert. Der wurde Ende Juli 2007 gemessen, nach einem zwei Tage andauernden Starkregen, und galt bislang als der höchste in den vergangenen drei Jahren gemessene Pegel.
Jörg Gothow holt ein Blatt Papier hervor, um die komplizierte Untergrundstruktur des Lohmer Hanges zu verdeutlichen. Mit Bleistiftstrichen zieht er die verschiedenen Bodenschichten nach: Wasserundurchlässige Lehm- und Mergeladern, dazwischen die sogenannten Wasserleiter, in denen sich das Grundwasser sammelt. Auf all dem liegt eine zwischen vierzig Zentimetern und einem Meter starke Erdschicht aus Mutterboden und Sand. "Wenn diese oberflächliche Schicht feucht ist, muss man jederzeit damit rechnen, dass sie ins Rutschen kommt", erklärt Gothow. "Wir haben daher einen Sicherheitskorridor für den am stärksten gefährdeten Bereich des Ortes festgelegt."
Der Sicherheitskorridor beginnt an der alten Dorfstraße, dem Ostseeblick, die unmittelbar an der Abbruchstelle von 2005 einen Knick macht. Hier befindet sich das inzwischen leer stehende Diakoniezentrum, an dessen Vorderkante vor drei Jahren der Hang in die Tiefe gerutscht war. Jetzt soll das absturzgefährdete Haus von einer Spezialfirma abgerissen werden.
Vom Diakoniezentrum aus verläuft der Sicherheitskorridor an zwei nahe gelegenen Ferienhäusern und einem Wohnhaus am Ostseeblick vorbei und biegt dann auf unbebautes Gelände ab, um in der Ortsmitte, am oberen Teil der Hafentreppe, zu enden.
Nur gut hundert Meter weiter westlich und damit außerhalb des Sperrgebiets liegt das Panorama-Hotel, das erste Haus am Platz. Und dasjenige, das sich am kühnsten über den Steilhang der Lohmer Küste erhebt. Bei schönem Wetter ist die Hotelterrasse hoch über dem steinigen Ostseestrand stets voll belegt, weil man von hier aus den schönsten Blick über die Tromper Wiek nach Kap Arkona hat.
"Mein Haus ist absolut sicher", sagt Hotelbesitzer Matthias Ogilvie zur Begrüßung und eilt ins Büro, um das Gutachten eines Geologen zu holen. Darin steht, dass sein Hotel auf einer massiven so genannten Kreideschuppe steht. "Der Boden ist hier so fest, dass man nicht tiefer als zwanzig Meter in den Kreidefelsen bohren kann", sagt Ogilvie nicht ohne Stolz. Außerdem bezeugten alte Messungen, dass die Küste zu Füßen des Hotels in den letzten hundert Jahren um keinen Zentimeter zurückgewichen ist.
Die Baubehörde des Landkreises vermag Ogilvie mit seinen Fakten allerdings nicht zu überzeugen. "Ich will anbauen, ein neues exklusives Hotelgebäude auf meinem Grundstück errichten. Aber ich bekomme keine Baugenehmigung, obwohl dieser Teil Lohmes überhaupt nicht gefährdet ist", klagt er. Seit dem Abbruch vor drei Jahren sei praktisch ein Baustopp über den ganzen Ort verhängt worden.
Ilona Reimann hat es noch härter getroffen als den Hotelier. Sie betreibt einen kleinen Imbisskiosk an dem seit drei Wochen gesperrten Hafen. Und auch die Holztreppe, die vom Ortszentrum hinunter führt zu den Booten und zu ihrem Kiosk, ist mit einem Metallgitter abgeriegelt. Ein Plastikschild mit der Aufschrift "Achtung Lebensgefahr! Betreten verboten" hängt daran. "Von einem Tag auf den anderen hieß es, ich muss meinen Kiosk dicht machen", sagt sie. "Aber mit dem Geld, das ich jetzt in der Saison verdiene, muss ich über den Winter kommen. Nun ist mir schon ein Monat verloren gegangen - wer ersetzt mir den Verlust?"
Karl-Heinz Walter, Leiter des Amtes Rügen-Nord, zu dem neben sieben weiteren Gemeinden auch Lohme gehört, weicht einer Antwort darauf aus. Die Frage der Entschädigung müsse noch gemeinsam mit der Gemeinde geklärt werden, sagt er vorsichtig. Auch weil er weiß, dass es schon die ersten besorgten Urlauber gibt, die ihre Hotelbuchung stornieren wollen.
Und dann referiert Walter in seinem Amtsbüro in Sagard eine halbe Stunde lang über Grundbrüche und Oberflächenrutschungen, über Bodenschichten und Gefahrenabwehr, über Monitoring, wie er die Grundwassermessungen nennt, und die "tickende Zeitbombe" im Lohmer Untergrund. Geduldig breitet er Zeichnungen aus und liest aus Gutachten vor. Als er endet, sieht er erschöpft aus - und resigniert. "Wissen Sie, was am schlimmsten ist", sagt er dann. "Dass die grundsätzliche Frage noch immer nicht geklärt ist: Wollen wir Lohme retten - oder geben wir den Ort auf?"
Rein technisch gesehen gibt es laut Walter bereits konkrete Ideen, wie der gefährdete Steilhang im Ort gesichert werden kann. Mit horizontal verlaufenden Leitungen könnte demnach das Wasser aus dem Boden zur Seeseite abgeführt werden, eine etwa fünf Meter hohe Schüttung am Hangfuß würde den Hang zusätzlich stabilisieren. Dazu ließe sich mit sogenannten Erdnägeln die obere Hangschicht mit den tiefer liegenden, stabileren Bodenschichten verbinden. Die Kosten veranschlagen Experten auf insgesamt vier Millionen Euro.
"Aber es ist kein Geld dafür da", sagt Amtsleiter Walter. Zwar existiert in der Schweriner Landesregierung seit drei Jahren eine interministerielle Arbeitsgruppe, die regelmäßig über Maßnahmen zur Rettung Lohmes diskutiert. In der entscheidenden Frage jedoch, welche Ministerien wie viel Geld für das Projekt beisteuern, hat man bislang keine Einigung gefunden. "Die Zeit verrinnt, und ich hab die Angst im Nacken, dass was passiert", sagt er. Dabei seien schon eine halbe Million Euro allein in die Gutachten und den Bau der Messstellen geflossen. "Das ist doch aber rausgeschmissenes Geld, wenn man nach dem A nicht auch B sagt und Lohme vor der Katastrophe bewahrt."
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"Die grundsätzliche Frage ist: Wollen wir Lohme retten - oder geben wir den Ort auf?" Karl-Heinz Walter, Leiter des Amtes Rügen-Nord
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Foto: Ingenieur Jörg Gothow am Diakoniezentrum in Lohme. Vor drei Jahren brach hier der Steilhang ab - das Haus wird jetzt abgerissen.

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