Knaller an der Zeitungsfront

Wednesday, January 31, 2007

Das Schöne und der Pate (Berliner Zeitung)

Das Schöne und der Pate
27.01.2007
Politik - Seite 04
Jens Weinreich

Im Fußball ist, wie im richtigen Leben, nichts daran auszusetzen, wenn ein 77-jähriger Präsident von einem 51-jährigen abgelöst wird. Zumal wenn der Jüngere Michel Platini heißt, dessen Spielweise noch heute betörend wirkt - vor allem auf Frauen. Platini wirkte einst verwegen wie D'Artagnon. Sein Spiel war Mitte der achtziger Jahre ein Versprechen darauf, dass manchmal das Gute und Schöne siegt, im Fußball zumindest. Nun ist dieser Michel Platini Präsident der Europäischen Fußball-Union (Uefa) geworden, eines Verbandes, der Milliarden umsetzt. Er löste den 26 Jahre älteren Schweden Lennart Johansson ab. Johansson versuchte auf dem Uefa-Kongress in Düsseldorf mit seiner Ehrlichkeit Eindruck zu machen - und mit einer unbedingt tadellosen Buchführung. Beides aber zählte nichts gegen Platini, dieses charismatische, Fleisch gewordene Versprechen.

Platinis Sieg macht weltweit Schlagzeilen. Das Volk dürstet nach Helden. Man hat ihn ja schon immer jubeln sehen. Als Spieler mit der französischen Nationalmannschaft, die 1984 im heimischen Prinzenpark Europameister wurde. Mit Juventus Turin, wo Platini Millionen verdiente. Als Organisationschef der Weltmeisterschaft 1998, die mit einem französischen Sieg im, natürlich, Stade de France gekrönt wurde. Das ist Platini, ein Gewinner, ein Genießer. Ein Romantiker, wie er immer wieder beteuert. Er verkauft sich gut, anders als der etwas bräsige Johansson. Die Geschichte hinter der Geschichte aber ist interessanter als Jubelposen. Und Platini hat in der Stunde seines größten persönlichen Triumphs als Fußballfunktionär selbst die Fährte gelegt, wenngleich etwas unfreiwillig: Er bezeichnete den langjährigen Fiat-Patron Gianni Agnelli, der ihn einst in die Hauptstadt des Piemont, nach Turin, gelotst hatte, als seinen Paten, dem er ewig dankbar sei.

Der Pate? Eine derartige Titulierung für den inzwischen verstorbenen Agnelli, der bei Juventus uneingeschränkt das Sagen hatte und ein mafioses System installierte, ist kein Verbrechen. Diese Bezeichnung passt perfekt zur Lage der Branche: Juventus wurde wegen Korruption in die zweite Liga verbannt. Und Platinis Aufstieg zum Uefa-Präsidenten wurde erst möglich durch das würdelose Wirken eines anderen Paten. Die Rede ist von Joseph Blatter, Präsident des Weltverbandes Fifa, der in bislang beispielloser Weise Partei ergriffen hatte in einem Wahlkampf, in dem er eigentlich zu Neutralität verpflichtet war. Doch Blatter hatte mit Johansson noch eine Rechnung offen. Die wurde nun beglichen.

Johansson, der sich demokratischen Grundsätzen verpflichtet fühlt, war vor einigen Jahren der Gegenentwurf zum Autokraten Blatter. Beide kandidierten für die Präsidentschaft im Fußball-Weltverband. Es war ein Wettbewerb der Intrigen, über dem immer der Schatten der Bestechung schweben wird. In der Nacht vor der Wahl, Anfang Juni 1998, sollen viele Briefumschläge mit dicken Geldbündeln ihre Besitzer gewechselt haben. Auf dem Fifa-Kongress in Paris gab sogar eine obskure Figur ihre Stimme für einen fremden Nationalverband ab, und am Ende, kein Wunder, siegte Blatter. Johansson war geschockt. Seine kleine Rache bestand nur noch darin, eine Personalie zu verhindern: Blatter wollte eigentlich Michel Platini zum Technischen Direktor der Fifa machen.

Neun Jahre ist das her, doch Blatter vergisst selbst kleinste Niederlagen nicht. Er pflegt sich zu rächen. Das hat er getan, in Düsseldorf. Und er machte gute Miene zum erbärmlichen Spiel. Endlich sei das Kriegsbeil zwischen der Uefa und der Fifa begraben, sagte er. Gleiches hat er zu verschiedenen Anlässen schon oft behauptet. Vor drei Jahren beispielsweise inszenierte er im Fifa-Hauptquartier in Zürich eine Versöhnungsgeste mit Johansson. Es war eine Finte, denn Blatter hat eine spezielle Art, sich mit Menschen zu versöhnen: Seine Versöhnung setzt voraus, dass die Gegner geschlagen am Boden liegen.

Vielleicht tut man Michel Platini Unrecht, wenn man ihn als trojanisches Pferd des Joseph Blatter bezeichnet. Wenn ja, dann kann Platini in den nächsten Jahren das Gegenteil beweisen. Vorerst aber gibt es gute Gründe, skeptisch zu sein. Ausgerechnet Blatter kontrolliert nun nicht nur die Milliarden der Fifa, sondern auch die Geldströme im reichsten Kontinentalverband. Das ist ein Rückschlag für all jene Funktionäre, die sich Transparenz und Demokratie verschrieben haben. Es ist ein weiteres Alarmzeichen. Nichts für Romantiker.

Monday, January 22, 2007

world wide bett (Tagesspiegel)

(21.01.2007)
world wide bett
Ob Marokko, Usbekistan oder Japan: Wer im Hospitality Club Mitglied ist, hat auf allen Kontinenten eine Wohnung. Ein Selbstversuch in den USA.
Von Björn Rosen

PHILADELPHIA, PENNSYLVANIA
Heather und Brit sammeln Hospitality-Club-Gäste wie andere Leute Briefmarken. Es ist so eine Art Hobby, ihr Unterhaltungsprogramm für die Wochenenden. Wie vereinbart stehe ich am frühen Freitagabend vor der Tür ihres Apartments, das sich in einem alten, renovierten Reihenhaus mit Backsteinfassade im Zentrum Philadelphias befindet. Die beiden begrüßen mich herzlich, wir nehmen die Wendeltreppe in das Souterrain: Hinter der Küche haben sie dort ein kleines Gästezimmer mit Bett und Fernseher eingerichtet. Dutzende Leute aus der ganzen Welt haben da schon übernachtet – und keiner hat etwas bezahlt. Das Zimmer hat nur ein winziges Fenster, ganz oben an der Wand. Im Kleiderschrank gegenüber vom Bett lagert altes Sportgerät und Kleidung, die keiner mehr trägt.

Heather und Brit nehmen mich auf, als wäre ich ein alter Freund. „Und, was willst du in Philadelphia machen?“, fragt mich Brit. „Ich weiß nicht“, antworte ich, nenne zwei Sehenswürdigkeiten, den Namen eines Museums. „Museum?“ Heather, Brits Verlobte, verdreht die Augen. „Was willst du in einem Museum?“ Die beiden haben meinen Besuch schon genau durchgeplant.

Heather ist Immobilienmaklerin, Brit arbeitet als Koch. Sie sind beide jung und verdienen ziemlich viel Geld. George W. Bush können sie nicht leiden, aber eigentlich ist ihnen Politik völlig egal. Denn was sie wollen, das ist: gut essen, gut trinken, dann tanzen. Wir ziehen durch Philadelphias Clubs; Heathers Freunde, Surfer aus Maryland, kommen auch noch vorbei, es ist ein großer Spaß.

Als wir am Nachmittag darauf auf dem grauen Sofa im Wohnzimmer sitzen und Musikvideos schauen, sagt Heather: „It was so much fun with you.“ Brit fragt: „Heather, wer kommt eigentlich nächste Woche?“ „Drei Franzosen, glaube ich. Ich muss nachher nochmal in meinen E-Mails nachsehen.“

VALLEY FALLS, KANSAS

Vor Beryls Haus weht die amerikanische Fahne an einem hohen Mast. In Sichtweite stehen zwei Nachbarhäuser, dahinter beginnt das Nichts: ein weiter, grauer Himmel, flaches Land, die Prärie. Allein um ins Zentrum von Valley Falls, dem nächsten Ort, zu kommen, braucht man ein Auto und 15 Minuten Fahrzeit.

Beryl ist Mitte 60, trägt einen grauen Bart und über seinem massigen Bauch ein weißes Polo-Shirt. Das Haus, in dem er wohnt, hat er selbst gebaut. Es ist ebenerdig und aus Holz, im Innern wirkt alles improvisiert. Man weiß auf den ersten Blick, dass hier nur ein Mann wohnen kann. In einem Raum lagert ein Computer. Ersatzteile für das Gerät und CDs liegen in Pappkästen auf den Holzbrettern der Regale, daneben Bücher, die die ruhmreiche Geschichte amerikanischer Freiheitskämpfe und Kriege erzählen. Und überall hängt, steht, klebt das Maskottchen des Basketball-Teams „Kansas Jayhawks“, ein grinsender, untersetzter Vogel in den Farben Blau, Rot und Gelb.

„Du bist der Erste aus diesem Hospitality Club, der hier vorbeikommt“, sagt Beryl, der seit ein paar Monaten Mitglied ist. Kann sein, dass er sich einsam fühlt. Beryl war Soldat im Vietnamkrieg, dann Lehrer, jetzt ist er pensioniert. Als er noch arbeitete, waren jedes Jahr Austauschschüler bei ihm. In dem kleinen, fensterlosen Raum, in dem sie damals übernachteten, bleibe ich für zwei Tage. Und grusele mich anfangs, weit weg von der Zivilisation, allein mit dem sonderbaren Einsiedler, den ich nicht kenne. Niemand weiß, wo ich bin, mein Mobiltelefon funktioniert nicht. Und dann fühle ich mich wieder schuldig, denn Beryl kümmert sich sehr um mich.

Beryls Gefährtin heißt Abby. „Good old Abby“, wie Beryl sagt. Der Hund ist so schwer, dass er sich kaum bewegen kann, auch, weil Herrchen ständig den Fressnapf füllt. Mit Abby auf dem Rücksitz seines Trucks fährt mich Beryl durch halb Kansas, zeigt mir das Haus, in dem General Eisenhower aufwuchs, die Originalschauplätze des „Zauberers von Oz“ und die Weihnachtsdekorationen in Valley Falls: lebensgroße Rehe aus Plastik mit roten Schleifen um den Hals, einen blinkenden Santa Claus, lachende Schneemann-Gesichter an den Eingangstüren. Plötzlich stoppt er den Wagen und deutet mit dem Finger auf ein Haus: „Da wohnt eine Ex von mir“, sagt er mit seiner dunklen, knorrigen Stimme. „Die wollte mich unbedingt heiraten. Aber ich habe keine Lust darauf.“ Er gibt Gas, der Truck bewegt sich wieder. „Ich will meine Freiheit."

DALLAS, TEXAS

Sandra ist schon in Hektik, als sie mich am Greyhound-Busbahnhof abholt. „Ich habe leider keine Zeit, mich um dich zu kümmern“, sagt sie. „Überhaupt keine Zeit.“ Sandra ist blond, Mitte 30, Journalistin. Früher sei sie viel gereist, erzählt sie. Durch Europa, Zentralasien, bis nach Thailand und Indonesien. „Ich habe so viel Gastfreundschaft erfahren, ich möchte das einfach an die Welt zurückgeben.“ Die Welt – das bin in den nächsten drei Tagen ich. Sandra deutet auf das schwarze Ledersofa, das in der Mitte ihrer Wohnung steht, gegenüber einer großen, ebenfalls schwarzen Stereoanlage. „Da kannst du schlafen“, sagt sie und drückt mir den Zweitschlüssel für das Apartment in die Hand. Wir gehen in die Küche. „Da drüben, siehst du ja, steht der Kühlschrank. Bedien dich! Ich muss jetzt zur Arbeit.“ Dann geht sie.

Als ich am nächsten Morgen mit einer Tasse Kaffee allein am langen schwarzen Tresen in der Küche sitze und auf Sandras selbst gemalte Bilder an der Wand schaue – dicke rote und braune Kleckse auf weißem Untergrund – denke ich: Womit habe ich das verdient? Vertraut sie jedem so sehr wie mir? Und: Hätte ich Sandra meinen Zweitschlüssel gegeben? Ich bin mir nicht sicher.

Die meiste Zeit des Tages verbringe ich außer Haus. Mit Sandra spreche ich nur noch ein paar Mal, fünf, zehn Minuten. Am Tag meiner Abreise werfe ich den Schlüssel in ihren Postkasten.

ALBUQUERQUE, NEW MEXICO

Von Kens und Denises Haus kann man die Berge sehen. Der Himmel über New Mexico ist makellos blau. Die Gipfel sind karg. Früher haben die beiden da oben im Gebirge gewohnt, in einer Kommune. Vielleicht liegt es an Tochter Lark (Lerche), dass sie vor fast zwei Jahrzehnten ihrem Hippie-Leben ein Ende setzten, hier hinunter kamen und ein bisschen bürgerlich wurden.

Ken sitzt in seinem Wintergarten, in einem Korbstuhl, neben Kakteen und dem Regal voller Reiseführer, und zündet sich eine Marihuana-Pfeife an. Wir schauen durch die Scheiben auf das Panorama, auf die Plastikstühle und die Schaukel im Hof. Im vergangenen Jahr ist das Paar nach Europa gereist. Nach Italien, Frankreich. „Wir lieben es“, sagt Ken, und wird immer begeisterter, je länger er darüber spricht. „Komm, ich zeig dir was.“ Er führt mich über akkurat verlegte bunte Fliesen über den Hof, öffnet die Tür zu einem Schuppen. Darin steht ein halb fertiges Holzboot, Werkzeug liegt auf dem Boden. „Ist mein Hobby“, sagt Ken. „Damit werden wir mal durch ganz Frankreich fahren.“ Wie wollen sie das Boot dahin bekommen? Ken lacht und kratzt sich an seinem sorgfältig gepflegten Dreitagebart. „Darüber denken wir nach, wenn es fertig ist.“

LOS ANGELES, KALIFORNIEN

Südlich der Melrose Avenue heißen die Altersheime „Shalom“, und die Kundschaft des koscheren Fleischers spricht Jiddisch. Palmen säumen die Straßen.

Es ist schon spät, als ich vor Adams Apartment stehe, das eher wie ein Bungalow wirkt. „Ich hatte nicht mehr mit dir gerechnet“, sagt Adam. Er macht keinen glücklichen Eindruck: „Ich bin stark erkältet. Wenn es dir also lieber ist, nicht hierzubleiben …“ Aber ich verstehe den Wink nicht. Oder ich habe mich zu sehr an die Gastfreundschaft Fremder gewöhnt.

Adams Wohnküche ist übersät mit Taschentüchern, in der Spüle stapelt sich das Geschirr, die Lampe über dem Küchentisch taucht die Wohnung ins Halbdunkel. Adam, hünenhaft groß und in Lederjacke, leidet sehr, wenn er krank ist. Ich gebe mich als Hypochonder zu erkennen, das bricht das Eis. „Sorry, ich wollte dich nicht ausladen“, sagt Adam. Er hatte Ärger auf der Arbeit. „Ich mag meinen Job nicht besonders. Den ganzen Tag am Schreibtisch zu hocken ist nichts für mich.“ Adam arbeitet für eine jüdische Wohltätigkeitsorganisation. Eigentlich will er zum Film. „Ich möchte mehr reisen, aber mit einem Nine-to-five-Job ist das unmöglich“, sagt er. „Deshalb bin ich im Hospitality Club. So kann ich mir das Ausland irgendwie nach Hause holen.“

Der Autor, 24 Jahre alt, war auf seiner Reise durch die USA neun Mal bei Mitgliedern des Klubs zu Gast. Fazit: Diese Übernachtungen sind interessant, aber anstrengend, weil die Gastgeber meistens erwarten, dass man viel Zeit mit ihnen verbringt.

Stärker als der Krebs (Tagesspiegel)

Stärker als der Krebs
Der Fußballprofi Karsten Hutwelker hat seine schwere Krankheit überwunden und spielt wieder für Augsburg
Von Sven Goldmann, Augsburg

Der erste Satz: „Ich will eine Cola.“ Die erste Frage: „Hat der Krebs gestreut?“ – „Nein, alles super gelaufen, du wirst wieder gesund.“ – „Wenn du mich jetzt anlügst, lasse ich mich scheiden!“

Dieses Gespräch hat Karsten Hutwelker am 22. September des vergangen Jahres mit seiner Frau geführt, nach einer sechseinhalbstündigen Operation, die über Leben und Tod entschied. Es verrät auch in seiner Kürze viel über den Menschen und Fußballprofi Hutwelker. Er hat im Zweifelsfall den Genuss über das professionelle Leben gestellt – kann man sich Ewald Lienen mit einer Cola am Krankenbett vorstellen? Hutwelker ist immer geradeheraus gewesen, nicht immer zu seinem Vorteil.

Karsten Hutwelker ist 35 Jahre alt. Er plaudert gern und viel und kurzweilig. Wer ihm zuhört, sieht irgendwann nicht mehr die lange Narbe am Hals und dass der linke Kiefer hängt. Unten links fehlen sieben Zähne, sie werden in ein paar Monaten mit Implantaten ersetzt. Karsten Hutwelker trägt das Haar strubbelig und ein Bärtchen, wie es Frank Zappa früher trug. Zappa ist an Krebs gestorben. Hutwelker hat ihn überlebt.

Bis zum vergangenen Sommer war Karsten Hutwelker einer der vielen Fußballspieler, die ihr Talent dem Spaß opferten, in Hutwelkers Fall sogar ganz bewusst, er mag das Leben, hat es immer gemocht, es war zu schön, es den Zwängen einer allzu mönchischen Profi-Existenz unterzuordnen. Er hat in Wattenscheid gespielt und in Regensburg, in Saarbrücken und Jena. „Weltklasse auf dem Platz und an der Theke“, heißt es im Internetforum des 1. FC Saarbrücken.

Er hat aber auch mit dem italienischen Nationalspieler Angelo di Livio beim AC Florenz gespielt und beim FC Wimbledon mit Vinnie „the axe“ Jones“, dem legendären Verteidiger, der ein Video mit seinen brutalsten Fouls herausgab. Wo der Mittelfeldspieler Hutwelker den Ball trat und ihn streichelte, war er der Liebling der Fans. Er hat seinen eigenen Sprechchor: „Hutwelkereinsatz, Hutwelkereinsatz!“ Bernd Schuster, sein Trainer beim 1. FC Köln, hat einmal gesagt: „Huti, ich verstehe dich nicht. Du müsstest längst Millionen verdienen und Nationalspieler sein. Was machst du hier in der Zweiten Liga?“

Karsten Hutwelker hat, wie immer in solchen Situationen, mit Gegenfragen geantwortet: Was habe ich von den Millionen, wenn ich morgens nicht mehr in den Spiegel schauen kann? Wenn ich die schönsten Jahre meines Lebens der bloßen Pflichterfüllung unterordne? Wenn mir morgen ein Ziegelstein auf den Kopf fällt?

Wenn der Krebs streut?

Die Geschichte, die Karsten Hutwelker heraushebt aus der Masse, beginnt im August 2006. Sein FC Augsburg, gerade in die Zweite Bundesliga aufgestiegen, spielt beim SC Paderborn. Hutwelker freut sich auf ein Wochenende daheim in Erftstadt bei Köln. Dort wohnt die Familie, Alexandra mit den Kindern Vivien und Lennox. In der Zweiten Liga wird meist freitags oder sonntags gespielt, danach verbringt Karsten Hutwelker immer zwei Tage daheim. Dieses Mal muss ein Teil der kostbaren Zeit dem Besuch beim Zahnarzt geopfert werden. Da ist diese Schwellung im Unterkiefer, sie schmerzt nicht, aber Hutwelker spürt sie, wenn er mit der Zungenspitze darübergleitet. Der Zahnarzt sagt: „Am Zahn ist nichts, das muss ein Kieferorthopäde untersuchen.“ Der Kieferorthopäde sagt: „Bleiben Sie mal sitzen, den Zahn ziehe ich Ihnen sofort.“ Moment mal, entgegnet Hutwelker, „das geht nicht, dann kann ich doch am Sonntag nicht spielen!“ Der Orthopäde setzt eine Spritze, er ritzt die Schwellung auf, nimmt eine Gewebeprobe und verspricht, sich zu melden.

Hutwelker fliegt zurück nach Augsburg, über Nacht schwillt die Backe an, schwillt so stark an, dass die Kollegen in der Kabine lachen. Der Trainer sagt: „Huti, das hat keinen Sinn. Fahr mal nach Hause und vergiss das Spiel am Sonntag.“ Der Kieferorthopäde ruft an und bittet um ein persönliches Gespräch. „Schlechte Nachrichten, Herr Hutwelker. Es ist ein Tumor. Sie müssen sofort in die Uni-Klinik.“ Er fährt sofort los, der Abend ist schon angebrochen, kein Arzt mehr da, doch Hutwelker klopft an alle Türen, er will sich nicht abwimmeln lassen, dann findet er eine Krankenschwester und bringt sie dazu, den letzten noch im Haus verbliebenen Professor zu holen. Der Professor studiert die Gewebeprobe, er schaut sich die Schwellung im Kiefer an und fragt: „Wollen Sie es schonend oder mit der Kelle voll ins Gesicht?“

Hutwelker will die Kelle ins Gesicht, und zwar sofort.

Also gut, sagt der Professor, „Ihre Fußball-Karriere ist vorbei. Es ist Krebs, ein ganz besonders bösartiger, er ist heilbar, aber es wird brutal.“ Hutwelker fährt verstört nach Hause. Die Kinder schlafen schon, und die Hutwelkers beschließen, sie erst einmal im Ungefähren zu lassen. Lennox ist vier Jahre alt und freut sich, dass der Papa immer zu Hause ist. Aber Vivien geht in die fünfte Klasse, sie weiß, dass Krebs selten gut endet, und eines Tages kommen die Jungs aus der neunten Klasse, die Fußballfans, die Karsten Hutwelker aus der Zeitung kennen, und sie sagen Vivien: „Du, dein Papa muss sterben.“ Es wird viel geweint in diesen Tagen im Haus der Familie Hutwelker.

Unterkriegen lassen sie sich nicht. „Der Krebs ist drin, also muss er raus“, sagt Karsten Hutwelker. Seine Frau durchforstet das Internet und sucht nach Behandlungsmöglichkeiten. Die Hutwelkers werden zu medizinischen Spezialisten. Sie lesen alles, was ihnen in die Hände kommt. Der Tumor ist ein Chondroblastisches Osteosarkom und leitet sich von den Knorpelzellen ab. In Deutschland gibt es 200 Fälle, also so gut wie keine Erfahrungswerte. Hutwelker debattiert mit Orthopäden, Chirurgen und Pathologen, die wechselweise sofort operieren wollen oder erst zu einer zehnwöchigen Chemotherapie raten, gefolgt von der Operation und einer nochmaligen Chemotherapie, diesmal 18 Monate lang. Hutwelker setzt sich durch. Er will keine Chemotherapie, er will operiert werden, so schnell wie möglich.

Und dann wird gefeiert.

Es ist der 27. August, sein 35. Geburtstag. Hutwelker trommelt auf die Schnelle alle Leute zusammen, die ihm wichtig sind. Es sind viele Leute. Es wird ein langer Geburtstag mit Menschen, die er lange nicht gesehen hat. Er will nichts davon hören, dass es vielleicht sein letzter ist, „denn ich bin ein positiver Mensch, ich denke wie ein positiver Mensch, ich sehe nicht ein, dass ich mich mit negativen Gedanken belasten soll“. Vielleicht bekommt Karsten Hutwelker an diesem Abend schon eine Ahnung davon, was in den kommenden Monaten an Sympathiebekundungen auf ihn zukommen wird. Die ungezählten Anrufe, Briefe, Mails und SMS. Fans aus seinen früheren Klubs schicken Trikots und Ehrenmitgliedschaften. Frühere Trainer, Mitspieler, Freunde melden sich, Hutwelker mag keinen herausheben, „das wäre unfair den anderen gegenüber“. Er sagt sich: „Offensichtlich habe ich in meinem Leben doch nicht alles falsch gemacht.“

Doch erst einmal wird die Operation vorbereitet. Eine Untersuchung nach der anderen, am unangenehmsten ist die Infusion mit radioaktivem Zucker, sie wird in eine Vene gespritzt, breitet sich im Körper aus und zeigt an, ob der Krebs schon gestreut hat. Hat er nicht. Am 20. September nimmt Professor Joachim Zöller in der Kölner Uni-Klinik den Eingriff vor. Es ist ein Eingriff, der medizinischen Laien wie ein Wunderwerk der plastischen Chirurgie erscheint. Aus dem Unterkiefer sägt er ein sieben Zentimeter langes Stück heraus, sieben Zähne; alles, was vom Krebs befallen sein könnte, muss raus. Zur Rekonstruktion schneidet er ein Stück Knochen aus der rechten Hüfte, Vene und Arterie aus dem linken Arm, dazu Gewebe, um die fehlenden Hautpartikel zu ersetzen. In sechseinhalb Stunden wird Karsten Hutwelkers Kiefer neu modelliert. Alexandra Hutwelker wartet in der Klinik, eine Krankenschwester kommt aus dem OP, sie hält einen Schneidezahn in der Hand und ruft: „Alles gut gegangen, Frau Hutwelker, der musste dran glauben!“ Alexandra Hutwelker nimmt den Zahn als Souvenir mit.

Die Operation ist ein Erfolg. Das beschädigte Gewebe ist beseitigt, der Krebs hat nicht gestreut. Alexandra Hutwelker kommt jeden Tag in die Klinik, die Kinder bleiben zu Hause, sie sollen den Papa so nicht sehen, Hutwelker macht ein Foto mit der Handy-Kamera, „das zeige ich ihnen mal, später“. Er kann nicht liegen, nicht sitzen, nicht stehen, alles tut weh. Beim Verbandswechsel sieht Hutwelker das aufgeschnittene Handgelenk, er blickt hinab in den tiefen Krater, auf den Knochen und die Sehnen und sagt sich: „Das wächst doch nie wieder zu!“ Zwei Tage lang traut er sich nicht, den Arm zu bewegen.

Doch schon am dritten Tag ertappt ihn die Krankenschwester, wie er mit einer Gehhilfe über den Flur schleicht. Sie sagt: „Ich glaube, Sie werden wir nicht lange hierbehalten.“ Hutwelker antwortet: „Na, das will ich doch wohl schwer hoffen.“ Jeden Tag verschwindet ein Schlauch mehr aus seinem Körper, nach fünf Tagen wird die Magensonde entfernt. Hutwelker erfährt den Wert seines austrainierten Körpers. Er hat die Vorbereitungsphase auf die Zweite Bundesliga gerade hinter sich und ist topfit. Nach neun Tagen wird er entlassen, zwölf Tage früher als geplant.

Im November fährt er nach Augsburg und nimmt das Training auf. Er erhält ein individuelles Laufprogramm, und endlich darf er wieder auf den Fußballplatz. Karsten Hutwelker strahlt, wenn er daran zurückdenkt, wie er das erste Mal wieder den Ball am Fuß hatte. Kann er sich an das erste Trainingstor erinnern? „Natürlich, mit rechts in die lange Ecke.“ Hutwelker gehört wieder dazu, er arbeitet so intensiv wie noch nie in seiner Karriere, sein großes Ziel ist der Rückrundenauftakt in der Zweiten Bundesliga am dritten Sonntag im Januar. An diesem Sonntag, heute, spielt der FC Augsburg beim 1. FC Köln, Hutwelkers 1. FC Köln.

Dies ist der Teil der Geschichte, der nicht in ein Happy End mündet. Am Freitag ist er bei einem Augsburger Lokalradio zu Gast. Hutwelker plaudert über Köln und ein mögliches Comeback, da spielt ihm der Moderator ein Interview mit Trainer Rainer Hörgl vor. Nein, sagt der Augsburger Trainer, Hutwelker werde in Köln noch nicht zum Kader gehören, es sei noch zu früh. Er lässt durchblicken, dass der FC Augsburg kein FC Hutwelker sei.

Die Radiohörer können am Freitag förmlich fühlen, wie Hutwelker der schiefe Kiefer herunterklappt. Er weiß, was ihm noch zur kompletten Fitness fehlt, „ich habe schließlich drei Monate aufzuholen“, aber hätte der Trainer ihm das nicht selbst sagen können? Muss er das aus dem Radio erfahren?

Der junge Karsten Hutwelker hätte den Trainer wahrscheinlich vor versammelter Mannschaft zusammengebrüllt und sich danach einen neuen Verein suchen dürfen. Der 35-jährige Hutwelker hat sich auf die Zunge gebissen und das Gespräch mit dem Trainer gesucht. Hutwelker weiß, dass es nicht alle beim FC Augsburg gern sehen, wie viel öffentliche Aufmerksamkeit er auf sich zieht, dass die Zeitungen alle mit ihm reden wollen. Na und? Den Tumor hat ihm damals keiner geneidet.

Hat der Krebs einen neuen Menschen aus ihm gemacht? Hutwelker denkt lange nach. „Nein, ich war schon immer ein positiver Mensch“, das Glas war immer halb voll und nie halb leer, „aber vielleicht lebe ich heute ein bisschen bewusster als früher. Ich freue mich über jeden Sonnenaufgang, ich will jedes Trainingsspiel gewinnen, sogar die Waldläufe machen mir auf einmal Spaß“, und, Himmel, wie hat er die früher gehasst. Er weiß, dass der Krebs einstweilen nur überwunden ist und noch nicht besiegt, das kann man erst nach fünf Jahren mit Sicherheit behaupten. Denkt er noch an den Krebs? An die Möglichkeit, dass er zurückkommt? „Nein. Für mich ist das Thema beendet, das lasse ich nicht an mich heran.“

Und doch ist der Tumor allgegenwärtig. Karsten Hutwelker trägt ihn am Körper, unter der Narbe am Hals, die man kaum noch sieht. Es ist der Zahn, den Alexandra Hutwelker nach der Operation mitgenommen hat, sie hat ihn in Silber einfassen lassen und ihrem Mann zu Weihnachten geschenkt.

(21.01.2007)

50 Dinge, die man wissen muss (SZ)

Die Liste: Die Liste: 50 Dinge, die man wissen muss
von dirk-vongehlen

Wir haben gefragt , du hast geantwortet: Was steht auf deinem Lehrplan des Lebens. Hier die 50 besten Antworten

* Wie man sich auf einem Rock-Konzert richtig verhält – inklusive Stagediven. emilykane.jetzt.de*

Dass Rosinen nichts als getrocknete Trauben sind. kirili.jetzt.de

* Ein Bier mit einem Feuerzeug öffnen. Nicht immer ist ein passender Öffner zur Hand, um Bierflaschen auf Festen jeder Art zu öffnen. Gut, wenn man dann eine der wesentlichsten aller Party-Fähigkeiten beherrscht und den Kronkorken mit einem Feuerzeug oder, auch gut, mit einer anderen verschlossenen Bierflasche vom Flaschenhals zu entfernen versteht. peter-wagner.jetzt.de

* Dass Joggen für Frauen eine ganz ungesunde Sportart ist. miranova.jetzt.de

* Dass man in einer Woche ohne Internet, Telefon oder Zeitungen selten etwas Wesentliches verpasst. milagro.jetzt.de

* Wie viel Alkohol man persönlich verträgt. hyks.jetzt.de

* Ein Lied kennen, von dem man jedes Mal an einer Stelle Gänsehaut bekommt. mrAufziehvogel.jetzt.de

* Wie man Tränen unterdrückt und andere Tricks, die verhindern, dass man als Gefühlsdussel und emotional abgestempelt wird, wenn in bestimmten Situationen Weinen sehr unpassend oder einfach nur peinlich ist. dadegia.jetzt.de

* Wie man eine von diesen altmodischen Türen mit der EC-Karte öffnen kann. tyrannenmoerderin.jetzt.de

* Die Grundrechenarten beherrschen. Es ist in Deutschland ein Skandal, wenn man nicht lesen und schreiben kann, aber jemand, der nicht rechnen kann, kann damit sogar kokettieren und so etwas wie Anerkennung bekommen. CommodoreSchmidtlepp.jetzt.dedirk-schmidt

* Kanon hin oder her: ein Buch von Goethe (Faust), einen Film mit de Niro (Taxidriver) und einen Song von Radiohead (Creep) sollte man kennen, also gelesen, gesehen und gehört haben. sport-bh.jetzt.de

* Wie man aus der Entfernung aussieht. Diese Selbstdistanz macht einen zu einem viel interessanteren Gesprächspartner. Es hält zudem geistig rege, weil man sich in Zweifelsfällen nicht so sehr auf sein eigenes Klischee verlässt. Und man merkt früher, wenn man sich wie ein Idiot verhält. paloalto.jetzt.de

* Wie man sich Telefonnummern merkt. parser.jetzt.de

* Dass der Wunsch nach Beliebtheit und Anerkennung zwar grundsätzlich in Ordnung ist, aber letztlich genauso bestechlich und wankend macht und nicht der höchste Wert im Leben sein kann. kulturgut.jetzt.de

* Wissen, dass Promiskuität nichts ist, worauf man stolz sein kann. Nein. Lang lebe die Monogamie. blaaa.jetzt.de

* Reifen wechseln. Autos haben schon lange so viel Elektronik im Körper wie einst nur K.I.T.T. – aber eine Sache, die kann und sollte man auch mit den eigenen Händen machen, bis sie schwarz werden: die Autoreifen wechseln. roland-schulz.jetzt.de

* Einen Browser installieren. Nicht aus technisch-handwerklichen, sondern aus ideologischen Gründen sollte jeder wissen, wie man statt des Internet Explorer den Firefox auf seinem Rechner installiert. stefan-winter.jetzt.de

* Wörter mit vielen Vokalen rülpsen können. big_mama.jetzt.de

* Copy- Paste: In einer Zeit, in der alles schon mal da gewesen ist, ist diese Fähigkeit mehr als nur die Tastenkombination strg+a,strg+c,strg+v am Computer. Die Kunst des Kopierens ist es, zu wissen, welches Zitat man in welche Stelle einfügt, damit so etwas Eigenes und nicht bloß ein billiges Plagiat entsteht. simon-poelchau.jetzt.de

* Wissen, wer den Buchdruck erfunden hat. ClaerchenBaerchen.jetzt.de

* Das „Haus vom Nikolaus“ zeichnen können oder Schiffchen falten, zur reinen, sinnlosen Selbstbeschäftigung. Giftzwergin.jetzt.de

* Einen offiziellen Beschwerdebrief schreiben. diedrossel.jetzt.de

* Man sollte wissen, dass die Welt vonanderen Orten aus anders aussieht. ruebezahl.jetzt.de

* Wie man einen Verband anlegt, um eine Blutung zu stoppen. deeli.jetzt.de

* Man sollte wissen, dass 99 Prozent der Popstars ihre Songs nicht selber schreiben. bulle.jetzt.de

* Ein Beschäftigung haben, für die man leidet. Damit es nicht beim Hobby bleibt, sondern eine echte Leidenschaft wird, die den Ausdruck auch wirklich verdient. znoe.jetzt.de

* Wie man Gothik von Renaissance unterscheidet. Kirschmaedchen.jetzt.de

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* Wie man Steuern zahlt. liebenacht.jetzt.de

* Ein Gedicht auswendig lernen. Man muss nicht alles wissen, man muss nur wissen, wo man alles nachlesen kann, was man wissen muss. Das stimmt für Telefonnummern, es stimmt aber nicht für Dinge, die wirklichen Wert haben: mindestens eine Strophe oder einen Reim, aber besser noch ein ganzes Gedicht sollte man sich selber jederzeit aufsagen können. dirk-vongehlen.jetzt.de

* Ein Hemd bügeln können. alcofribas.jetzt.de

* Zwei Gerichte sehr gut und auswendig kochen können – auch für mehr als zwei Personen. Damit kann man sich ein Leben lang durchmogeln und vor Freunden ein bisschen angeben. penni-dreyer.jetzt.de

* Ein Zelt aufbauen. kikuju.jetzt.de

* Zehn Minuten rennen können. Selbst wer gar keinen Sport macht, sollte zehn Minuten am Stück laufen können. Am Stück. Und nicht im Walking-Stil, nein – richtig rennen. dirk-schmidt.jetzt.de

* Eine Karte lesen können. Alienbiber.jetzt.de

* Eben doch: Wie man eine Krawatte bindet. Man muss sie nie tragen, es reicht, dass man es könnte. Denn es wimmelt in den Agenturen, Redaktionen und Thinktanks von Chefs und Vorgesetzten, die zwar auf Treppengeländern Snowboard fahren können, aber nie gelernt haben, wie man einen ordentlichen Knoten in ein Stückchen Seide macht. Deswegen hängt ein bereits fertiggebundener (und inzwischen völlig verzogener) Schlips über ihrem Garderobenständer. Und wenn man einmal als Praktikant dem Chef die Krawatte gebunden hat, ist das ungefähr so, als hätte man ihn nackt beim Haarefärben erwischt. max-scharnigg.jetzt.de

* Wissen, dass man mit jedem Einkauf und jeder Teilnahme am Wirtschaftsleben eine politische Entscheidung tätigt. zauderhaft.jetzt.de

* Man sollte wissen, wie man eine gute Freundin oder einen guten Freund tröstet. Manchmal kann es dabei um Leben und Tod gehen. Frl_Suse.jetzt.de

* Dass Null auch eine Zahl ist. bluegrass.jetzt.de

* Man sollte sich wenigstens einmal im Leben mit jemandem unterhalten haben, der eine Sprache spricht, die man selbst nicht beherrscht. Da normale Konversationen so schwer zustande kommen, lernt man nicht nur, sich mit Händen, Füssen und Gestik zu verständigen, man lernt auch über seinen eigenen Schatten zu springen und Blockaden abzubauen. grinsekatzejulie.jetzt.de

* Den Uriah Heep-Heuler „Lady in Black“ auf Gitarre spielen (e-a-e-a-e-a). stefan-biro.jetzt.de

* Einen Schweinebraten machen können. Und zwar ohne Packerlsauce, sondern mit Braunbier, kleinen Knochen, Gemüse. gammelfleisch.jetzt.de

* Trommeln lernen – zumindest auf Kochtöpfen. caroline-vonlowtzow.jetzt.de

* Wie es ist, eine Straftat zu begehen. Wenn selbst Siemens-Manager knietief im Sumpf der Korruption stehen, ist endgültig klar: Zu den Schlüsselqualifikation des Lebens gehört es auch zu wissen, wie es ist, eine Straftat zu begehen. durs-wacker.jetzt.de

* Wie man Nein sagt. Wir sind alle sehr freundlich und gut erzogen. Wir hören uns Werbeanrufe an und lassen die Zeugen Jehovas an der Tür ihre große Tasche aufmachen und lügen, wenn der Kellner fragt, ob es geschmeckt hat. Wir müssen wissen, wie es ist „Nein“ zu sagen. Vor allem damit unser „Ja“ wieder etwas zählt. fabian-fuchs.jetzt.de

* Kopfsprung vom Dreimeterbrett. rich.jetzt.de

* Walzer tanzen. Tanzkurse rangieren in der Gunst junger Erwachsener auf den hinteren Rängen, Gründe dafür gibt es zuhauf. Der Bedeutendste: Wo wird heute schon noch paargetanzt. Stimmt, aber: Den Tanz aller Tänze, den sollte man sich aneignen. yvonne-gamringer.jetzt.de

* Ein Video bei YouTube hochladen. Nelson_.jetzt.de

* Liebeskummer, auch der allerschlimmste, geht irgendwann vorbei Auch wenn es mehrere Jahre dauert. christina-kretschmer.jetzt.de

* Dass Hartnäckigkeit sich auszahlt und wer Rolf Dieter Brinkmann war. gretel.jetzt.de

* Was man nicht weiß. Nichts ist so peinlich wie überzeugt von Dingen zu reden, von denen man keine Ahnung hat und dabei ertappt zu werden. SteveeG.jetzt.de

Ein Rhetor Rumsfeldscher Größe (SZ)

Stoibers beste Verhaspler
Ein Rhetor Rumsfeldscher Größe
Sie sind Legende, sie sind groß und ihre Anzahl ist Legion: Die Versprecher Edmund Stoibers sind ebenso zahllos wie ihre Dokumentationen im MP3-Format, die im Netz kursieren. Wir haben die besten.

Hier sind für immer und für alle Zeiten in digitalen Stein gemeißelt: Jene Tondokumente, die uns wie ehedem an das Radio fesselten, weil in ihnen Sprech- und Hörkultur gelebt wird.

Edmund Stoiber ist der scharfsinnigst und schnellst denkende Politiker seit Rumsfeld. Leider ist demgegenüber Stoibers Sprechapparatur des öfteren ins Stolpern und Stocken geraten - fast immer, wenn der Mann auf Autopilot umgestellt hatte.

Und so gab es die unvergessliche Kompetenzkompetenz, die regellose Regelung, den Transrapid des Wahnsinns und die gludernde Lot. Stoiber war der Ministerpräsident des Dadaismus, ein Karl Valentin des Politpos.

Das, was nach peinlicher Unabsichtlichkeit ausschaut - und auch so klingt -, ist in Wahrheit die Essenz der politischen Rede: Franz Müntefering umschreibt sie damit, dass man Politiker nicht an ihren Wahlversprechen messen solle.

Edmund Stoiber führt dazu gar nicht erst in Versuchung. Darum sind seine Beiträge auch kaum mehr als die Zeit, die die Zunge zum Stolpern benötigt: Ekstatische Momente, Einbrüche der Sinnlosigkeit in die Monokultur von Macht, Herrschaft und Effizienz.

Denn das, was zu sagen wäre, es wird nicht gesagt werden, weil es nie gesagt werden kann. Das ist tief und groß, und es ist tief philosophisch. Ein Abgrund, der in uns hineinschaut., je länger wir ihn betrachten. Nichts veranschaulicht dies besser als etwa Stoibers Einlassungen zum Transrapid, der anscheinend alles miteinander verbindet und doch aber schon am Bahnhof entgleist, jedenfalls gedanklich.Oder die Stanzen zum Problembären und dem Verhalten des Ministers Schnappauf.

Wir sammeln hier noch einmal Stoibers große Verhaspler. Es sind die besten Kunstfiguren politischer Rhetorik, seit es Macht und Ämter im schönen Bayern gibt.

FJS, der andere große Staatsredner aus dieser Region, war ein Maschinengewehr, Stoiber die Blechbüchsenarmee am Mikrofon.

Hier - nur für Feinschmecker - Stoibers Transrapid-Rede in der Verschriftung:

"Wenn Sie vom Hauptbahnhof in München mit zehn Minuten ohne daß Sie am Flughafen noch einchecken müssen dann starten Sie im Grunde genommen am Flughafen am am Hauptbahnhof in München starten Sie ihren Flug zehn Minuten schauen Sie sich mal die großen Flughäfen an wenn Sie in Heathrow in London oder sonstwo meine s Charles de Gaulle in äh Frankreich oder in Rom wenn Sie sich mal die Entfernungen ansehen, wenn Sie Frankfurt sich ansehen dann werden Sie feststellen daß zehn Minuten Sie jederzeit locker in Frankfurt brauchen um ihr Gate zu finden - Wenn Sie vom Flug- äh vom Hauptbahnhof starten Sie steigen in den Hauptbahnhof ein Sie fahren mit dem Transrapid in zehn Minuten an den Flughafen in an den Flughafen Franz-Josef Strauß dann starten Sie praktisch hier am Hauptbahnhof in München - das bedeutet natürlich daß der Hauptbahnhof im Grunde genommen näher an Bayern an die bayerischen Städte heranwächst weil das ja klar ist weil aus dem Hauptbahnhof viele Linien aus Bayern zusammenlaufen."

Ach, Kinder! Und das kommt doch nie wieder! Rechts klicken, zurücklehnen und Anhören!

Saturday, January 20, 2007

Der Herbst des Commandante (Die Welt)

Fidel Castro
Der Herbst des Commandante
Die Nachrichten über den Gesundheitszustand des kubanischen Präsidenten sind widersprüchlich. Klar ist nur, dass seine Ära zu Ende geht. Dann könnten die Veränderungen auf der Karibik-Insel so gewaltig sein wie jene, die das Ende der großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts begleiteten.
Von Nina Chruschtschowa

Die Totenwache für Fidel Castro konnte nur Gabriel García Márquez richtig darstellen. Sein Roman "Der Herbst des Patriarchen" fängt die moralische Verkommenheit, politische Lähmung und grausame Langeweile ein, von der eine Gesellschaft eingehüllt wird, die auf den Tod eines langjährigen Diktators wartet.

Commandante Fidels Abschied von der Macht wird selbstverständlich einzig und allein eine Frage der Biologie sein, und die wenigen Fotos von ihm, die seit seiner Erkrankung im letzten Jahr aufgetaucht sind, zeigen deutlich, wie die Biologie voranschreitet. Wenn das Ende kommt, könnten die Veränderungen in Kuba ebenso gewaltig sein wie jene, die das Ende der großen Diktatoren des letzten Jahrhunderts begleiteten.

Stalin, Franco, Tito, Mao: Alle stimmten in ihren Mitteln und Methoden größtenteils überein. Wie sie jedoch von der Bühne verschwanden, war oft sehr unterschiedlich, und diese Unterschiede können Gesellschaften noch Jahre und Jahrzehnte später prägen.

Nehmen wir z.B. die Sowjetunion. Am 9.März 1953 stand vom Finnischen Meerbusen bis zur Beringsee alles still, ebenso in Warschau, Budapest, Prag und Ost-Berlin. In Peking verneigte sich Mao Zedong persönlich vor einem riesigen Bildnis Josef Stalins. Große trauernde Menschenmengen, die – fast hysterisch – weinten, waren überall in dem gewaltigen Reich zu sehen, das Stalin regiert hatte.

Dennoch wurde das Wort Stalinismus innerhalb weniger Tage aus einem neuen sowjetischen Wörterbuch gestrichen, und drei Jahre später verurteilte mein Großvater Nikita Chruschtschow Stalins „Personenkult“ in seiner berühmten „Geheimrede“ auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei. Die darauf folgende Tauwetter-Periode war zwar von kurzer Dauer, aber zum ersten Mal in der Sowjetgeschichte öffnete sich die Möglichkeit zur Veränderung – eine Möglichkeit, die Michail Gorbatschow 1985 ergriff.

Der Tod von Marschall Josip Broz Tito brachte etwas anderes zum Ausbruch. Jahrzehntelang hatte seine persönliche Herrschaft Jugoslawien eine falsche Einheit auferlegt. Nach seinem Tod 1980 begann dieser künstliche Staat sich aufzulösen, was in den 90er Jahren in Völkermord und Krieg in Bosnien, Kroatien und im Kosovo gipfelte.

Doch enden nicht alle langjährigen Diktaturen mit Zerfall und Verwüstung. Maos Tod ermöglichte Deng Xiaoping die Rückkehr aus Ungnade und internem Exil. Schnell vertrieb Deng Maos Erben, die „Viererbande“, und in nur wenigen Jahren öffnete er Chinas Wirtschaft und löste somit eine kapitalistische Revolution aus, die China bei weitem stärker – und erfolgreicher – veränderte, als es Maos sozialistische Revolution je getan hatte. Selbstverständlich ist die Kommunistische Partei weiterhin an der Macht, und Maos Porträt hängt nach wie vor über dem Platz des Himmlischen Friedens. Doch beides sind bloße Überbleibsel von Ideen und Idealen, die in Wirklichkeit dem Mülleimer der Geschichte übergeben wurden.

Auch Spanien entkam einer gewaltsamen Auflösung, als Generalssimo Francisco Francos Diktatur bei seinem Tod zusammenbrach. Dafür verdient der alte Diktator etwas Anerkennung, denn indem er kurz vor seinem Tod die Monarchie unter König Juan Carlos wieder einführte, gab Franco Spanien ein Fundament, auf dem es neu aufgebaut werden konnte. Franco erkannte kaum, dass das, was Juan Carlos mit der Hilfe eines schlauen, jungen Bürokraten aus der Franco-Ära namens Adolfo Suarez aufbauen würde, das moderne, demokratische Spanien von heute wäre.

Fidel Castro: Der Herbst des Commandante (2)

Es ist kein Zufall, dass kommunistische Länder normalerweise von betagten Politikern, und Demokratien von jüngeren Männern und Frauen geleitet wurden (und werden). Dieser Unterschied ist wichtig. Alte Machthaber können erfolgreich reibungslos funktionierende Länder leiten, die keine radikale Überprüfung ihrer Politik und Ziele benötigen. Natürlich gibt es Ausnahmen von dieser Regel – Churchill, Adenauer, Deng, Reagan. Aber kein Staat kann sich darauf verlassen, dass das Schicksal ihm einen außergewöhnlichen Herrscher zuspielt. Es ist wahrscheinlicher, dass jüngere Machthaber mit dem Hin und Her in schwierigen Zeiten besser zurechtkommen.

Aufgrund des politischen Konkurrenzkampfs müssen alle Politiker unabhängig von ihrem Alter am Ball bleiben, neue Probleme frühzeitig erkennen und offen für neue Ideen bleiben, die diese Probleme angehen. Niemand kann es sich in seinem hohen Amt bequem machen, abhängig nur vom Tod oder der eigenen Langeweile. Einparteiensysteme, charismatische Ein-Mann-Diktaturen oder eine Kombination beider, wie in Titos Jugoslawien, sind eine Garantie für verkalkte Geister und untätige Regierungen.

Was wird also nach Fidels Ableben aus Kuba? Viele Beobachter stellen Raúl Castro, Fidels jüngeren Bruder und designierten Nachfolger, als Pragmatiker dar – den „praktischen Castro“. Als die großzügigen sowjetischen Zuwendungen an Kuba in den frühen 90er Jahren wegfielen, war es Raúl, der erkannte, dass für das Überleben des Regimes Wirtschaftsreformen notwendig waren, und darauf drang, dass private Bauernmärkte wieder öffnen durften, um die Lebensmittelproduktion anzukurbeln und einen möglichen Hungertod abzuwenden.

Dabei handelt es sich jedoch um denselben Mann, der als Kopf von Kubas internem Sicherheitsapparat viele Jahre lang die eiserne Faust eines grausamen Regimes darstellte und direkt für die Verhaftung – und häufig Folter – Tausender Dissidenten verantwortlich war. Das Beste, auf das man hoffen kann, ist also vielleicht ein Experiment im russischen Stil, bei dem die Liberalisierung schnell von der nervösen alten Garde des Regimes abgeblasen wird.

Darüber hinaus könnte die Durchführung von Reformen durch die Unterstützung von ölreichen Verbündeten, wie dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, und durch die neuere Entdeckung bedeutender Rohölreserven vor Kubas eigener Küste weniger dringend werden. In diesem Fall könnte Raúl versuchen, erbittert an dem verknöcherten System festzuhalten, das er mit aufgebaut und mit so viel Brutalität erhalten hat.

Doch ist Raúl Castro selbst ein alter Mann, sodass wir auf die Aussicht hoffen können, dass irgendein Deng oder besser noch ein Suarez am Ende aus den Trümmern des Fidelismus auferstehen wird. Doch bisher bleiben die jüngeren kommunistischen Funktionäre wie Außenminister Felipe Perez Roque ideologische Hardliner, die von vielen Kubanern als „los Taliban“ bezeichnet werden. Wenn sie die Macht übernehmen und nicht nachgeben, könnte Kuba eine weitere lange Biologiestunde bevorstehen.

Nina Chruschtschowa ist Professorin für internationale Beziehungen an der New School University. Ihr Buch Imagining Nabokov erscheint in diesem Herbst bei Yale University Press.
Artikel erschienen am 19.01.2007

"Stoiber konnte einfach nicht, was Strauß konnte" (Welt)

Gerhard Polt: "Stoiber konnte einfach nicht, was Strauß konnte"
Nach dem angekündigten Rückzug des bayerischen Ministerpräsidenten von seinen Spitzenämtern bricht eine Welle des Hohns über ihm zusammen. Warum die Bayern einen Volkstribun wie Strauß und Stoiber dringend brauchen, erklärt im Gespräch mit WELT.de der bayerische Kabarettist Gerhard Polt.
Von Franz Solms-Laubach


Schliersee/Berlin - Gerhard Polt ist der unangefochtene König des bayerischen Humors. Und er spricht Deutsch. Wie kaum ein anderer verkörpert Polt die Zerrissenheit des bayerischen Wesens zwischen Spießertum und Anarchie. Deshalb ist er auch der Einzige, der das Verhältnis der Bayern zu Edmund Stoiber, Franz Josef Strauß und der lokalen Einheitspartei CSU erklären kann.

WELT.de: Warum wollen die Bayern eigentlich nichts anderes wählen als die CSU?
Gerhard Polt: Ja, da fragt man sich natürlich, was das für ein Zustand und ein Volk ist, das fünfzig Jahre lang bereit ist, nur eine einzige Partei regieren zu lassen, die mehr oder weniger ganz ohne Opposition auskommt. Die Bayern können sich eine Demokratie ja überhaupt nur ohne Opposition vorstellen. Das ist ein Phänomen, das in der bayerischen Bevölkerung tief verwurzelt ist. Die Bayern sind eben unpolitisch und sagen sich: „Wir brauchen nur wenig Kontrolle der Regierungsmacht!“ Und so macht die Verfilzung von Administration, Verwaltung und Politik Bayern eigentlich aus.

WELT.de: Ist das, was in Bayern und mit Edmund Stoiber passiert ist, jetzt ein Drama oder eher ein Komödiantenstadl?
Polt: Für mich ist es auf alle Fälle noch nicht einmal das. Ein Komödiantenstadl kann ja sehr schön und witzig sein, aber das was jetzt passiert ist, ist doch eher eine Schmiere. Die ist auf ihre Art zwar auch komisch, aber sie ist eben eine Schmiere. So ähnlich wie im italienischen Volkstheater eben, wo man kein richtiges Konzept hat, sondern extemporiert. Die Schauspieler improvisieren und schlüpfen von Rolle zu Rolle. Es gibt da die Diadochen, die hauen und stechen und fragen sich immer, „Wer wird jetzt der Nachfolger?“, und wie zur Antwort werden die jeweiligen Bataillone aufgestellt. Für den Seehofer, für den Huber und wie sie alle heißen. Ich lehne mich da zurück, schau mir das an und find die Situation saukomisch. Es ist eigentlich das, was Sie bei uns auf dem Nockerberg als politisches Theater sehen können.

WELT.de: Nimmt der Bayer das jetzt als Krise war?
Polt: Wissen kann ich das nicht, aber ich glaube, dass es wirklich einfach nur ein schlichter Machtwechsel ist. Das, was da jetzt vor sich geht, wird die bayerische Gesellschaft nicht erschüttern.

WELT.de: Wie geht es denn mit Stoiber weiter? Werden ihn die Bayern jetzt glorifizieren, oder wird er davongejagt?
Polt: Weder noch, glaube ich. Was bleiben wird, ist der Begriff des Sommer-Stoibers. Das ist dieser Sommer-Trachten-Janker, den er immer anhat. Der Sommer-Stoiber wird auch weiterhin getragen werden und wird auch so heißen. Dass Stoiber selbst verewigt wird, glaube ich nicht. Standbilder wird man ihm zumindest nicht errichten.

WELT.de: Was bleibt von Stoiber als kabarettistischem Charakter?
Polt: Es gibt ja Figuren, die sind unvergänglich. Wie etwa die berühmten Gestalten des Lehrer Lempel, des Schneider Böck und des Pater Filucius von Wilhelm Busch. Wenn Sie diese drei Figuren genau anschauen und sehen dann den Stoiber, dann haben Sie ein Aha-Erlebnis. Dann ist doch das „Heureka!“ sofort da.

WELT.de: Und wer sind dann die Maikäfer, die ihn in der Nacht in den Fuß zwicken?
Polt: [Lacht] Ja, Maikäfer gibt es immer. Manchmal sind es Wanzen, manchmal sind es Maikäfer. Es sind meistens Insekten.

WELT.de: Wer war der größere Monarch für Bayern: Edmund Stoiber oder Franz Josef Strauß?Polt: Natürlich der Franz Josef Strauß. Der große Unterschied ist doch der: Der Strauß war wirklich eine Art Volkstribun. Er war ein sehr gebildeter Mann und hatte, für süddeutsche Verhältnisse jedenfalls, eine sehr starke rhetorische Kraft. Der konnte formulieren, der konnte Bilder entstehen lassen, der konnte einfach reden. Er war wirklich ein großer Bierzelt-Entertainer. Ich werde nie vergessen, als er mal ein Interview in der „Zeit“ gegeben hat und die Gräfin Dönhoff und der Herr Sommer ihn zerlegen und zeigen wollten, wes Geistes Kind er ist. Aber es ging nicht. Er war einfach stärker. Er war ein ganz starker Erzähler und Narrateur.

WELT.de: Und was ist mit Stoiber?
Polt: All diese volkstribunhaften, nennen wir es ruhig mal demagogischen Eigenschaften von Franz Josef Strauß, die hat der Stoiber nicht. Das muss man ja vielleicht sogar zu seinen Gunsten sagen. Ich war einmal in einem Bierzelt, als der Mann versucht hat, die Leute bierzeltmäßig zu überzeugen. Da ging das dann eigentlich mit ein paar Verbalinjurien für den politischen Gegner auch ganz gut los, und es kam am Anfang sogar ein bisserl Stimmung auf, aber dann hat der Mann dieses Bierzelt eine Stunde lang zum Schlafen gebracht. Er hat die Leute mit Prozenten, Rechnungen und Vergleichen, also so wirtschaftlichen Kenndaten wie, „Von vier Prozent auf 3,2 Prozent, und wenn wir schon acht Prozent haben, dann haben die nur ein Prozent“, gelangweilt. Und da habe ich gesehen, wie die Leute langsam am Bierkrug eingeschlafen sind. Der konnte einfach nicht, was der Strauß konnte. Da kommt natürlich noch dazu, dass zu Zeiten von Strauß die Bundesrepublik die alte Bundesrepublik war. Da war Bayern die Hausmacht und die CSU hatte damals wesentlich größeren Einfluss auf die Politik. Seit der Wiedervereinigung ist die CSU marginalisiert worden. Logischerweise.

WELT.de: Wenn man mal bei der Formulierungskunst bleibt, da hat Stoiber doch durchaus kabarettistisches Talent...
Polt: ...denken Sie doch daran, dass er immerhin neben Kardinal Ratzinger ein Träger des Karl-Valentin-Ordens ist. Ob man ihm den für unfreiwilligen Humor gegeben hat oder warum, das weiß ich nicht.

WELT.de: Dass in der jetzigen Situation eigentlich niemanden Herrn Franz Maget fragt, geschweige denn wahrnimmt, ist das bezeichnend für Bayern?
Polt: Leider ist das so. Der von mir persönlich sehr geschätzte Maget hat das gleiche Problem wie alle Sozialdemokraten in Bayern, sie werden einfach nicht wahrgenommen. Es gibt bei uns sogar ein Wettrennen, wer der unbekannteste Oppositionspolitiker ist. Medienmäßig schneiden die SPD-Kandidaten in Bayern einfach immer schlecht ab. Und ich nehme an, das bleibt auch so.

WELT.de: War das Skript für Stoibers Rücktritt gut geschrieben, oder war es eher beschämend?
Polt: Die CSU und allen voran Edmund Stoiber haben die Parole ausgegeben, „staatsmännisch“ wirken und auftreten zu wollen. Und das gelingt nicht allen Leuten immer gleich gut. Das kann eben nicht jeder. Und man hat schon gemerkt, dass da etwas geschrumpft ist. Staatsmännische Würde ist dabei nicht so ganz zur Geltung gekommen.

WELT.de: Hätte er früher gehen sollen?
Polt: Das weiß ich nicht. Ich habe mir aber schon gedacht, dass es vorbei ist mit ihm, nachdem alle anderen die Posten in Berlin verteilt haben, er nein gesagt hat und wieder nach Bayern zurückgekommen ist. Das war politisch wohl ein großer Fehler. Aber der Mann ist eben ein alter Zauderer. Er war in vielen Dingen immer sehr unentschlossen.
Artikel erschienen am 20.01.2007

Wednesday, January 17, 2007

Von Popmusik bis Politik (Berliner Zeitung)

Von Popmusik bis Politik
In eigener Sache: Über die Blogs der Berliner Zeitung

Angeblich soll alles damit angefangen haben, dass ein Programmierer in den USA sich eine Notiz machte, wenn er eine interessante Webseite fand. Er machte die Notiz nicht auf einem Zettel, sondern auf seiner eigenen Webseite, das Ganze nannte er Weblog - von Web und Logbuch. Das war im Jahr 1997, vor etwa einem Internetjahrhundert also. Vielleicht ist das Ganze nur eine Legende. Es heißt aber, das von dieser Liste der Begriff Blog stammen soll.

Seit Anfang des Jahres gibt es auch auf der Internetseite der Berliner Zeitung Blogs. Fünf Autoren der Zeitung schreiben über den Politikbetrieb in der Hauptstadt und anderswo, über das Leben in Berlin oder Südafrika, über Sport und bald auch über Popmusik. Die Blogs sind so etwas wie Kolumnen im Internet - interaktive Kolumnen. Die Leser können jederzeit ihre Kommentare abgeben. Ihre Beiträge stehen dann neben denen der Autoren.

Wer bloggt was? Und warum?

Nach dem ersten Weblog von 1997 fingen immer mehr Leute an, Dinge in eigenen Blogs zu sammeln. Internetadressen, Informationen über ihr Hobby oder ihre Haustiere. Oder einfach ihre Gedanken, über die Welt und über sich selbst. Vor allem über sich selbst. Als mitlesbare Tagebücher wurden Blogs populär.

Inzwischen gibt es Blogs wie das von Mitarbeitern des Tiefkühlgemüseherstellers Frosta. Die schreiben gerade darüber, wie sie gemeinsam versuchen, abzunehmen. Mit viel Tiefkühlgemüse natürlich. Es gibt Blogs von Hertha-Fans, Hobbygärtnern, umsatzsteigerungswilligen Pharmavertretern, Frauen mit Kinderwunsch und Taxifahrern aus Paderborn.

Schneller als ein Leserbrief

Gar nicht so leicht, da den Überblick zu behalten - und zu wissen, was wahr ist und was Werbung. Oder wer eigentlich dahinter steckt. Wie sonst im Internet ist es auch bei den Blogs. Was nicht heißen soll, dass es nicht großartige, glaubwürdige Sachen gibt, die in den herkömmlichen Medien nie möglich gewesen wären. Die preisgekrönten Medienwächter von Bildblog.de sind nur ein Beispiel.

Blogs haben gegenüber einer Tageszeitung einige unschlagbare Vorteile: Man kann sie jederzeit aktualisieren, es gibt nie zu wenig Platz, und, wie schon erwähnt, die Leser können jederzeit reagieren. Eine Tageszeitung wiederum hat den Vorteil, dass die Zeitung wie die Autoren mit ihrem Namen und ihrer Erfahrung für ihre Beiträge einstehen.

Wie sich die Vorteile zusammenbringen lassen, kann man am Blog unseres politischen Korrespondenten Holger Schmale in diesen Tagen sehen: Nachdem er einen Kommentar zu Scientology und der katholischen Kirche in sein Blog stellte, widersprach ihm ein Leser. Auf den Widerspruch reagierte wiederum Schmale mit einer Ergänzung. Das ist schneller als bei jedem Leserbrief - und transparenter.
Wir laden Sie ein, sich an den Diskussionen zu beteiligen.

Berliner Zeitung, 17.01.2007

Panne beim BR (Berliner Zeitung)

Panne beim BR: Politischen Nachruf auf Stoiber gesendet
In Beitrag war Ministerpräsident zurückgetreten
AFP

Eine peinliche Panne ist dem Bayerischen Rundfunk während seiner Live-Berichterstattung zum Machtkampf von Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) und der Landtagsfraktion in Wildbad Kreuth unterlaufen. In der BR-Sendung "Rundschau Extra" in der Nacht zum Mittwoch brachte die ARD-Anstalt bereits einen politischen Nachruf auf Stoiber.

In dem Beitrag, der die Wartezeit bis zum Auftritt Stoibers vor den in Wildbad Kreuth versammelten Journalisten überbrückte, war der bayerische Landesvater bereits offiziell zurückgetreten. "Am Ende stolperte Stoiber über einen seiner Mitarbeiter," hieß es in dem Porträt im Zusammenhang mit der Spitzelaffäre um die Fürther Landrätin Gabriele Pauli. Gegen Ende des Beitrags, der Stoibers Aufstieg und Fall dokumentierte, hieß es, Stoiber sei von seinem Amt zurückgetreten. In der Telefonzentrale der Sendeanstalt in München liefen daraufhin die Drähte heiß, wie eine Mitarbeiterin sagte.
Berliner Zeitung, 17.01.2007

Die Freiheit des Garagentors (Berliner Zeitung)

Die Freiheit des Garagentors
Der einstige Spaßfußballer Sebastian Deisler beendet mit 27 Jahren frustriert seine Karriere
Boris Herrmann

BERLIN. Es gibt zwei Sebastian Deislers. Einer hat goldblonde Haare, Streichholzbeinchen, eine Stimme wie ein Kolibri und Milchzähne, die ein bisschen an Bugs Bunny erinnern. Dieser kleinwüchsige Junge ist einer der letzte Straßenfußballer Deutschlands. Seine Technik trainiert er sich an einem Garagentor in seiner Heimatstadt Lörrach an. "Fußball spielen verboten", steht darauf. Die Nachbarschaft muss darunter leiden, aber beim örtlichen Fußballverein reiben sie sich die Hände. In seiner ersten Saison beim FV Lörrach erzielt der elfjährige Pimpf 99 Tore - der Legende nach hat er sich dazu noch 99 Vorlagen gegeben. Er ist so quirlig und so voller Tatendrang, dass er vor jedem Spiel mit seinem Papa 20 Kilometer durch den Wald radelt. Einfach so, zum Spaß.

Der andere Sebastian Deisler sitzt im vollgequetschten Presseraum des FC Bayern. Er ist ungefähr zwei Mal so groß und spricht fünf Mal so leise. Er murmelt: "Wenn Fußball zur Qual wird, und das war es in letzter Zeit, dann ist es besser aufzuhören." In diesem Moment hält nur die vordere Zahnreihe die Vermutung aufrecht, dass diese beiden Deislers ein und die selbe Person sind. Und das ist wohl die eigentliche Ironie dieser Sportlerkarriere: Sie hat, wie keine andere, mit absoluter Spielfreude begonnen und ist nun, wie keine andere, mit absolutem Frust zu Ende gegangen.

Das falsche Tor zur falschen Zeit

Zwischen dem Deisler, der fröhlich gegen das Garagentor kickt und jenem, der zum Abschied im Presseraum flüchtig die Hand hebt, liegen zwar gut fünfzehn Jahre. Die Metamorphose - und das war immer Deislers Problem - hat sich jedoch binnen weniger Monate vollzogen. Es waren jene Monate, als er sich, wie er einmal sagte, beim Wachsen zuschauen konnte, und als sein außergewöhnliches Talent für ihn vom Segen zum Fluch wurde. Es war im Sommer 1999, als er von Borussia Mönchengladbach zu Hertha BSC kam und, ehe er sich versah, Basti-Fantasti hieß.
Wenn Deisler über diesen entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben spricht, zitiert er einen Satz aus einem Zeitungsartikel von damals: "Als er in Berlin ankam, war sein Image schon da." Es war nicht irgendein Image. Deisler wurde, wie man im Werbedeutsch sagt, als Messias des deutschen Fußballs positioniert. Mit allem, was dazu gehört. "Da habe ich morgens in der Zeitung gelesen, welches meine Lieblingsjeans sind. Und ich wollte einfach ein ganz normaler Junge sein", beschreibt er dieses Los.

Wenn man so will, hat Sebastian Deisler einfach zur falschen Zeit am falschen Ort das falsche Tor geschossen. Ein Jahr zuvor, bei der WM 1998 in Frankreich, hatte sich die deutsche Nationalmannschaft bis auf die Knochen blamiert. Es schien damals weit und breit keinen zu geben, der als Retter in Frage kam. Und genau dann kam Sebastian Deisler. In seinem elften Bundesligaspiel erzielte er nach einem Alleingang über sechzig Meter sein erstes Bundesligator - so wie er es beim FV Lörrach gewohnt war. Viele sahen in ihm von diesem Tag an mindestens einen zweiten Beckenbauer am deutschen Fußball-Horizont. Er ist dann doch nur ein zweiter Lars Ricken geworden.

Sebastian Deisler hat acht Jahre in der Bundesliga gespielt, und alle acht sind vorübergegangen, ehe er seine Form gefunden hat. Deshalb klingt es nur logisch, wenn er jetzt über seinen Abgang sagt: "Es war keine Entscheidung von heute auf morgen. Sie ist in mir gereift." Stilprägend für dieses Karriere war ja gerade, dass sie seit ihrem fulminanten Beginn stets vom Ende bedroht war. Wer Liebe fürs Detail aufbringt, kann sie unterteilen in vier Jahre Hoffnung und vier Jahre Mitleid. Ansonsten wiederholte sich in der Profi-Laufbahn von Sebastian Deisler immer wieder die selbe Geschichte: Ein Mann kämpft gegen überzogene Erwartungen - und verliert. Immer wenn es so schien, als habe er das Niveau erreicht, das alle von ihm erwarteten, kam etwas dazwischen: ein verspannter Muskel, eine Depression, Mehmet Scholl, das Saisonende.

Stattlicher Stundenlohn

Man kann die Bilanz von Sebastian Deisler natürlich auch positiv sehen. Es gibt kaum einen Fußballer auf dieser Welt, der für einen höheren Stundenlohn gearbeitet hat. Im Jahr 2001 wechselte er zum FC Bayern München und hat dafür neben einer Anzahlung von 20 Millionen D-Mark einen der höchstdotierten Verträge der Bundesligageschichte bekommen. Dem gegenüber stehen 62 Bundesligaeinsätze für die Münchner und 36 Länderspiele. Einer, der aus Spaß Fußballprofi wurde, musste damit wohl zwangsläufig unglücklich werden. Deislers angeborener Übereifer hat diese Situation noch einmal verschärft. Seine Berater nannten ihn beratungsresistent, seine Fans geldgierig und seine Trainer übereifrig.

Unter dem Erwartungsdruck an der Säbener Straße hat neben Deislers Psyche vor allem sein rechtes Knie zunehmend gelitten. Er hat zwei Weltmeisterschaften und eine Europameisterschaft verpasst. Er sollte und wollte eigentlich eine neue Ära beim deutschen Rekordmeister prägen - stattdessen wird in der Erinnerung wohl nur jenes Bild zurückbleiben, wie er auf die Schulter eines Physiotherapeuten gestützt in wechselnden Einstellungen vom Spielfeld humpelt.

So traurig dieser Abschied im ersten Moment erscheinen mag, es ist eine längst überfällige Entscheidung. Der FC Bayern hat nun, da sich auch Hasan Silihamizic zu Juventus Turin verabschiedet, gleich zwei Karteileichen weniger im Mittelfeld. Und damit auch die endgültige Gewissheit, dass sich Manager Uli Hoeneß mit seinem Festgeldkonto unterm Arm auf dem Spielermarkt umsehen muss.

Und Sebastian Deisler hat endlich ein Stück seiner alten Garagentor-Freiheit wieder gewonnen, die sie ihm damals in Berlin ungefragt genommen haben. Er hat es nie geschafft, ein ganz normaler Fußballspieler zu werden. Nun ist ihm zu wünschen, dass er auf seinem Weg zum ganz normalen Menschen mehr Erfolg hat.

Berliner Zeitung, 17.01.2007

Alles wiki oder was? (Tagesspiegel)

Alles wiki oder was?
Wikipedia feiert sechsten Geburtstag.
Doch das freie Online-Lexikon muss auch Kritik einstecken
Von Bas Kast

Stell dir vor: ein Online-Lexikon, an dem jeder mitschreiben darf – sei er oder sie nun eine Uni-Assistentin, ein zwölfjähriger Computerfreak oder ein pensionierter Staubsaugervertreter. Was dabei herauskommt? Nichts als Schrott? Nein. Die größte, aktuellste Enzyklopädie, die es jemals gegeben hat: Wikipedia.

Vor sechs Jahren ging es an den Start. Vor zwei Jahren war es den meisten noch unbekannt. Inzwischen ist es vielen nicht nur ein Begriff, sondern zur unersetzlichen Nachschlagequelle geworden: Wikipedia, das Lexikon der Laien.

Laut dem Internet-Ranking-Service alexa.com, das die populärsten Webseiten der Welt auflistet, steht Wikipedia in Deutschland bereits auf Platz 4. „Wir hatten in den letzten 18 Monaten eine mehr als Verzwanzigfachung der Zugriffszahlen“, sagt Nina Gerlach vom Vorsitz der deutschen Wikimedia, einem Verein für die Förderung freien Wissens. Wikipedia erscheint in 250 Sprachen und Dialekten. Die englische Wikipedia-Ausgabe ist mit über 1,5 Millionen Einträgen die größte, die deutsche belegt mit gut 527 000 Stichwörtern Platz 2. Zum Vergleich: Der neueste Brockhaus in 30 Bänden zählt rund 300 000 Stichwörter – und kostet 2500 Euro.

Dafür, so der übliche Einwand, kann man sich auf ein traditionelles Lexikon verlassen, während man bei Wikipedia nie sicher ist. „Aus Brockhaus können Wissenschaftler jederzeit zuverlässig zitieren, bei Wikipedia geht das nicht“, sagt Brockhaus-Sprecher Klaus Holoch. Wirklich? Vor gut einem Jahr machte das Forschungsmagazin „Nature“ die Probe aufs Exempel: Das Fachblatt ließ eine Stichprobe von 42 Wiki-Artikeln zu wissenschaftlichen Themen prüfen und mit den Artikeln aus der „Encyclopedia Britannica“ vergleichen. Das Resultat: Wikipedia, die Enzyklopädie der Amateure, schnitt mit vier Fehlern pro Artikel fast so gut ab wie die professionelle „Britannica“ mit drei Fehlern pro Artikel.

Grund zum Feiern also für die Wiki-Gemeinde: Wikipedia, hieß es von nun an, kann man ernst nehmen. Es ist fast so verlässlich wie ein Standardlexikon – und noch dazu kostenlos und brandaktuell.

Und doch, ganz ungebrochen ist die Freude nicht. In letzter Zeit mehren sich die kritischen Stimmen, die auf Wikipedias Schwachstellen hinweisen. So griff der US-Computervisionär Jaron Lanier kürzlich den „digitalen Maoismus“ Wikipedias an. In einem Pamphlet auf der Webseite edge.org des New Yorker Literaturagenten John Brockman, wo nach Brockmans eigenen bescheidenen Angaben die „führenden Denker der Welt“ ihre neuesten Ideen verkünden, kritisierte Lanier die „Wikifizierung unserer Gesellschaft“: Es zähle nicht mehr die individuelle Intelligenz, sondern nur noch die „Intelligenz der Masse“ – aus allem werde heutzutage ein Durchschnittswert geschaffen, der als wertvoller und weiser gilt als der kreative Beitrag des Einzelnen. Der Computerexperte vergleicht Wikipedia sogar mit totalitären Systemen wie dem Kommunismus oder dem Nazi-Regime. „Sei vorsichtig mit dem Online-Kollektiv“, warnt er. Laniers zentraler Kritikpunkt: In Wikipedia gehe es nicht um die Wahrheit, sondern darum, eine möglichst große Gruppe von der Wahrheit zu überzeugen, was manchmal aufs Gleiche hinausläuft. Aber eben nur manchmal.

Ist Laniers Kritik überzogen? Fürchtet sich hier ein führender Denker der Welt, seine Autorität könnte schwinden, wenn fortan alle eine Stimme haben und mitreden? Oder hat der Mann recht?

Vielleicht beides. Einerseits demokratisiert Wikipedia das Wissen. Hinaus aus dem Elfenbeinturm, hinein ins Netz: „Das ist eine äußerst begrüßenswerte Sache“, urteilt Jürgen Renn vom Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. „Nicht jeder kann sich einen Brockhaus für 2500 Euro leisten.“ Aber es gehe um weit mehr als das. „Auch die Interaktivität ist einmalig: Bei Wikipedia wird der Leser zum Autor.“

Gerade das wird gelegentlich zum Problem. In der Wikiwelt, meint der Computerwissenschaftler Lanier, sei es vor allem der Hartnäckigste, der die „Wahrheit“ bestimmt: Es wimmele nur so von verbissenen Freaks, die nächtelang Einträge in ihrem Sinne verändern oder verfälschen, um so wie anonyme, gesichtslose Graffiti-Schmierer der Welt ihren Stempel aufzudrücken.

Dabei könne es auch um gezielten Rufmord gehen. So kursierte vor einiger Zeit in der Wikiwelt monatelang die – falsche – Aussage, der US-Journalist John Seigenthaler hätte einst im Verdacht gestanden, an der Ermordung der beiden Kennedy- Brüder John F. und Robert F. beteiligt gewesen zu sein. Dabei war der arme Kerl in Wahrheit nur eine Zeit lang Assistent von Robert Kennedy.

Das falsche Wissen kann sich schnell vervielfältigen: Andere Webseiten kopieren die Einträge Wikipedias, Journalisten greifen in ihrer Eile zu Wikipedia-Artikeln und heben die „Fakten“ teilweise eins zu eins vom Netz ins Blatt, weil für eine Prüfung keine Zeit mehr ist – so verbreitet sich das Wikiwissen in Windeseile und wird zum Allgemeinwissen.

Gerade Wikipedias Schnelligkeit („wikiwiki“ ist das hawaiianische Wort für schnell) wird der freien Enzyklopädie öfter zum Verhängnis: Als Nachrichtenagenturen letztes Jahr den Tod des ehemaligen Enron-Managers Kenneth Lay verkündeten, mutierte dessen angebliche Todesursache im Wikipedia-Eintrag innerhalb einer halben Stunde diverse Male zwischen „offenbar Selbstmord“ und „Herzinfarkt oder Selbstmord“, was sich noch in der gleichen Minute zur Aussage änderte, die Ursache müsse noch gefunden werden, was etwas später wiederum zum Kommentar ausartete, „so viele Leben ruiniert zu haben, führte schließlich zum Selbstmord“. Dabei will Wikipedia ein Nachschlagewerk sein – was ja heißt: eine zuverlässige Quelle für Hintergrundinformationen – und keine Nachrichtenagentur oder Zeitung.

Ein anderes Problem: Viele nutzen Wikipedias Freiheit als Forum, um sich selbst darzustellen oder besser darzustellen. Wie jene Mitarbeiter der Siemens- Pressestelle, die letztes Jahr den Artikel über ihren Konzernchef Klaus Kleinfeld verschönerten: Sie löschten die Stelle zur misslungenen Sanierung des Handy-Geschäfts und hoben stattdessen seine Verdienste hervor.

Die Gegenmaßnahmen von Wikipedia: Administratoren können einzelne Artikel – etwa „Angela Merkel“ – sperren und nur noch einen kleinen Kreis angemeldeter, bewährter Mitglieder heranlassen. Künftig sollen bewährte Mitglieder darüber hinaus einzelne Artikel als „nicht-vandalierte Versionen“ kennzeichnen, die alle nicht-angemeldeten Benutzer dann stets als Erstes zu sehen bekommen. „Außerdem wollen wir weiter versuchen, neue qualifizierte Autoren an den Hochschulen zu gewinnen und dadurch die Qualität der Artikel noch steigern“, sagt Nina Gerlach von Wikimedia.

Dem ehemaligen Mitbegründer Wikipedias Larry Sanger reicht das noch nicht. „Bei Wikipedia setzt sich im besten Fall der Konsens der Massen durch, im schlechtesten Fall der fanatischste Nutzer“, sagt auch er und arbeitet derzeit an einer Weiterentwicklung von Wikipedia: „Citizendium“.

Citizendium soll ebenfalls ein offenes Lexikon werden, die Artikel jedoch sollen in erster Linie von Experten kommen: von Wissenschaftlern, Dozenten oder Journalisten – aber auch von Laien, die sich mit ihrem Namen und einer gültigen E-Mail-Adresse anmelden. Citizendium soll noch dieses Jahr an den Start gehen. Das Ziel? Ist doch klar: Wikipedia zu schlagen.

Tacitus was no elitist (The Guardian)

Tuesday January 16, 2007 The Guardian Comment:
Tacitus was no elitist (Mary Beard)
It is the sheer difficulty of learning the Latin language that makes it a great social leveller


Imagine an evening at the theatre listening to words like this. "Thine arms were gyved! Nay, no gyve, no touch, was laid on me. 'Twas there I mocked him, in his gyves..." It's hardly a thrilling prospect. But if the study of Greek and Latin in this country had been quietly stopped after the first world war (as nearly happened), this is how we would now all be experiencing Greek tragedy, for that was a quote from Gilbert Murray's translation of Euripides's Bacchae, published in 1904. It's the leader of the chorus talking to the god Dionysus, who's just escaped from prison - a "gyve" is apparently an old-fashioned word for a chain. In a Greek-less world, that would be about as close to Euripides as we could get.

There are many good reasons for fostering the study of classical languages. Will Hutton recently wrote powerfully in the Observer about how important Roman history is to our own political culture. And what would be lost if we lost our direct links to ancient literature in the original tongue?

Over the past few decades, classical drama has been one of the jewels in the crown of British theatre, from Diana Rigg's wonderful Medea to Tony Harrison's Oresteia. This has been possible precisely because we still have that link to the original words. Tony Harrison knows Greek. Even Diana Rigg would have failed to move an audience with Gilbert Murray's translation.

Murray was not a dud. In the early 20th century his translations seemed up to the minute, and they were politically influential. His translation of Euripides's Trojan Women (a devastating exposure of the after-effects of armed conflict) was performed in Chicago in 1915 as part of the campaign to keep the United States out of the war. If it now seems hopelessly archaic, that's because every generation rediscovers and retranslates the classics for themselves, re-engaging with the original texts.

If we do decide to keep the classics, there's still the issue of who should learn the languages, and how. For centuries Greek has been an exotic minority option. This debate centres on Latin and on the question of whether it is too difficult. In particular, should its GCSE be made easier so that more children, across the ability range can enjoy it?

This is to miss the point. Learning Latin properly is very hard. That is part of the pleasure and the challenge, and it does no one a good turn to pretend otherwise. It's not that the Romans were cleverer than us, but the writing they left behind (which is why, after all, most of us want to study them) is difficult, complex and highly literary. Reading the Roman historian Tacitus is probably best compared to getting to grips with Joyce's Finnegans Wake.

We should not be confusing social exclusivity with an intellectually elitist subject. All bright children, no matter how wealthy or privileged they are, should have the opportunity to learn classical languages. One of the biggest crimes of the national curriculum is having eased Latin out of the maintained sector (though not entirely, I'm pleased to report). But it is no more sensible to put Latin on the curriculum of the less academically able than it is to put Mandarin Chinese or quantum physics there.

In fact, paradoxically, it is the sheer difficulty of Latin that makes it something of a social leveller, and a route to intellectual upward mobility. Questioning my colleagues who teach classics at Cambridge (a university in which roughly 40% of undergraduates across the board still come from the private sector), I found that only about 20% had attended independent schools.

The good news is that, whatever its posh image, Latin is a hard subject in which the academically able thrive. It's rather like maths: money alone can't make you good at it.

Mary Beard teaches classics at Cambridge and is a fellow of Newnham College

Monday, January 15, 2007

Wie Fremde gemacht werden (Der Tagesspiegel)

Wie Fremde gemacht werden
Das Gerede von der Parallelgesellschaft ist nicht nur falsch. Es ist als Argumentationsmuster sogar gefährlich
Von Wolfgang Kaschuba

Eigentlich klingt es ganz plausibel. Wir haben zwar ein Problem, dafür aber auch gleich eine Diagnose. Das Problem heißt Migration, und die Diagnose lautet: mangelnde Integrationsbereitschaft. Konkreter: Wer nach Deutschland einwandert (offenbar nur noch Menschen aus der Türkei oder aus arabischen Ländern), der wandert gar nicht wirklich in die deutsche Gesellschaft ein. Stattdessen sucht er sich seinen Platz in migrantischen Parallelgesellschaften. Und die sind vor allem eines: bewusst nichtdeutsch.

Insofern bündelt der Begriff Parallelgesellschaft, was offenkundig scheint und was von den Medien jeden Tag weiter verdichtet wird: jenes Bild migrantischer Enklaven, in denen man mit Türkisch oder Arabisch durch den Tag kommt. Von der Moschee über den Bäcker, den Gemüseladen und die Teestube bis zur Tankstelle kein Deutsch. Mehr noch, hier, mitten in unseren Städten, findet Deutschland offenbar kaum statt, sondern „fremde Welt“: aggressive Kids, kopftuchtragende Frauen, Zwangsheiraten, fundamentalistische Muslime, minarettbewehrte Moscheen.


Anfang der 1990er Jahre hatte der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer den Begriff Parallelgesellschaft in die Debatte eingebracht. Zunächst ohne großes Echo. Doch seit drei, vier Jahren ist mit dem eher flüchtig hingeworfenen Wort plötzlich eine Sprach- und Bilderlawine losgetreten. Nun sind es Politiker, die diesen Begriff als Alarmwort benutzen, um die Migrationsproblematik zu beklagen. Von „Fördern und Fordern“ ist zwar auch die Rede, vor allem aber von Überwachung und Kontrolle. Sonst drohten uns No-go- areas wie in den Pariser Vorstädten. Bayerische Politiker fangen solche Sätze gern mit der Formulierung an: „Es kann nicht sein, dass in Deutschland …“

Mein leiser Sarkasmus gilt dieser Art der Thematisierung. Er soll keinesfalls den Ernst der Situation abschwächen. Denn in vielen europäischen Gesellschaften hat sich die Diskussion über Migration tatsächlich dramatisch zugespitzt. Neue Begriffe von Fremdheit tauchen darin auf, und neue Ängste werden spürbar. Zwei Bilder vor allem sind es, die gegenwärtig die öffentliche Wahrnehmung prägen. Zum einen werden Migranten verstärkt als ethnisch Fremde identifiziert. Als Fremde, die deshalb auch nicht der Mehrheitsgesellschaft angehören. Zum andern erfahren zunehmend islamistische Gruppen öffentliche Aufmerksamkeit. Seit jenem 11. September scheinen sie den Nährboden zu bilden für einen Terrorismus, der im Namen des Dschihad auch in Europa bereits seine blutigen Spuren von London bis Madrid hinterlassen hat.

Fremdheit, Bedrohung, Terrorismus durch Einwanderung. Diese Assoziationskette lesen wir dann zwangsläufig auch aus anderen einschlägigen Nachrichten heraus. Wenn von Prügeleien auf dem Schulhof, vom Abziehen auf der Straße, von Angriffen auf die Polizei, von brutalen Ehrenmorden an jungen Frauen die Rede ist.

Oft lesen wir gewiss richtig. Es gibt Gewaltformen und Geschlechterrollen in migrantischen Milieus, die nicht „kulturell“ erklärbar, sondern schlicht inakzeptabel sind. Vieles jedoch lesen wir selbst auch in solche Nachrichten hinein. Migration wird eben auch medial dramatisiert und öffentlich diskriminiert. Längst gibt es hier neben neuem Realismus auch einen neuen Alarmismus, der fremde Bedrohung überall sieht und fremdenfeindliche Züge trägt. Dazu gehört auch die Rede von der Parallelgesellschaft.

Denn das Problem mit den Einwanderern hat zunächst eine überaus deutsche Geschichte. Deutschland sei kein Einwanderungsland, sagten die Stammtische schon immer und sagt Innenminister Schäuble immer noch. Sein schlichtes Argument: Deutschland habe nie Einwanderungspolitik betrieben. Genau dies ist das Problem. Deutschland wollte nie Einwanderungsgesellschaft sein, sondern stets „deutsche“ Abstammungsgemeinschaft bleiben – allen „völkischen“ Erfahrungen wie allen Einwanderungen in der Geschichte zum Trotz.

Besonders nach 1945 wirkte diese Absicht zunehmend grotesk, denn bereits die Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen, die damals nach Restdeutschland kamen, waren eher zweifelhafte Deutsche. Zuallererst waren sie ungebeten und unwillkommen – Migranten auch sie, Fremde.

Und das blieben sie und ihre Kinder noch lange Zeit: „Flüchtlinge“. Das Wort birgt auch für mich noch eigene Erinnerungen an ein Aufwachsen bei den Schwaben, die von uns „fremden“ Deutschen wenig wissen wollten. Obwohl ich doch hier geboren war. Unterschiedliche Dialekte, Schicksale, Traditionen, Lebensstile trennten auch noch meine Generation – allen angeblich gemeinsamen deutschen Wurzeln wie westdeutschen Alltagen zum Trotz. Schon die schnell hochgezogenen Flüchtlingsblocks am Stadtrand verkündeten ein symbolisches Draußen. Und die Konfessionsunterschiede zwischen protestantischen Schwaben und katholischen Flüchtlingen erschienen ebenso unüberbrückbar wie heutige Religionsunterschiede zwischen Christentum und Islam. „Gemischte“ Freundschaften waren dadurch schwierig, Heiraten unmöglich. So blieben die Flüchtlinge in ihren Kirchen, Sportvereinen und Geschäften ebenso unter sich wie bei ihren Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen. Eine Parallelgesellschaft? Bis dann die Gastarbeiter kamen, deren italienisches und türkisches Idiom den Schwaben noch fremder klang als unseres.

Einwanderung ist in Deutschland also nichts Neues und nichts Eindeutiges. Sie ist vielfältig und entgegen landläufiger Meinung auch kein Minderheitenproblem: Je nach Zuordnung und Rechnung verfügen heute 25 bis 40 Millionen Deutsche über einen migrantischen Hintergrund. Ich wüsste nicht, weshalb ich mich nicht dazurechnen sollte: Die Migration meiner Eltern bestimmte nachhaltig auch meinen Lebenslauf. Kaum weniger als bei den Jugendlichen, die wir heute „türkischstämmig“ nennen. Obwohl die meisten von ihnen ebenfalls hier geboren sind und vielfach die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Wohin sollen sie sonst gehören als hierher?

Wer also ist Migrant? Das hängt vom Grad der kulturellen Fremdheit an, der Einwanderern jeweils zugeschrieben wird. Faustregel: Je „östlicher“ oder „orientalischer“ die Herkunft, desto fremder.

So wird der Einwanderungsdiskurs nach wie vor als Fremdendiskurs geführt. Deutsch ist man bekanntlich, das kann man nicht einfach werden. Diese zähe Tradition bekommen die Migranten zu spüren: kulturelle Ausgrenzung, die zwischen einem deutschen „Wir“ und einem fremden „Die“ eine scharfe Trennlinie zieht. Wer „anders“ aussieht, der spürt die misstrauischen Blicke auf der Straße, hört die abfälligen Kommentare in der U-Bahn, erduldet routinemäßig Polizeikontrollen, erleidet die Sonderbehandlung beim Boarding auf dem Flughafen – täglich und trotz deutschen Passes!

Das sind „deutsche“ Demütigungen. Dagegen hilft nur Trotz und Besinnung auf das vermeintlich Eigene. Auf den Schutz durch Familie, Verwandtschaft, Freunde. Am meisten aber hilft offenbar der Rückzug in jenen Bereich, der vielen Migranten ganz eigen ist und fast allen Deutschen ganz fremd: in die muslimische Gemeinde. Dort scheint der Entwurf einer eigenen Identität tatsächlich möglich und vor allem erreichbar. Einer Identität als respektiertes Mitglied einer Gemeinschaft, die Wärme vermittelt, die sich auf feste Traditionen und Werte beruft und sich dadurch auch selbstbewusst von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzt. Kein Wunder, dass viele Jugendliche für sich nur diesen Weg offen sehen. Er erscheint ihnen als einziger Ausweg – ja: aus Heimatlosigkeit!

Ob diese Wahl stets selbstbestimmt ist, mag man bezweifeln. Unzweifelhaft jedoch ist es weniger elterlicher Zwang als vielmehr der Zwang dieser ausweglosen Umstände, der zur Islamisierung in der zweiten und dritten Einwanderergeneration führt. Islamisierung als einziger Lebensentwurf indes bedeutet noch weniger Zugang zur Mehrheitsgesellschaft. Auch weil die sich Muslime nicht als „Deutsche“ denken mag.

Das ist für die Jugendlichen fatal. Fataler aber noch ist dies für die deutsche Gesellschaft, der damit eine wesentliche kulturelle Ressource verlorengeht: die gesellschaftliche Erfahrung im Umgang mit Einwanderung. Denn Migration verkörpert heute eine kulturelle Globalisierung „von unten“: hohe soziale Kompetenz in der Entwicklung mobiler Lebensformen und transnationaler Lebensweisen. Wichtiges Wissen also für morgen, das wir systematisch ausblenden.

Wie sehr, verraten unsere Medien. In ihnen sind wir nach wie vor eine rein „deutsche“ Gesellschaft. Weder in Vorabendserien noch in Nachrichtensendungen tragen Rollen und Moderatoren „migrantische“ Züge und Namen – wenige Vorzeige-Roberto-Blancos ausgenommen. Dies ist insofern ehrlich, als es solche Gesichter in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Polizei auch kaum gibt. Doch es ist zugleich dramatisch, weil Migranten in Deutschland damit beides fehlt: mögliche Identifikationen und Idole ebenso wie mögliche Gefühle von Normalität und Akzeptanz.

Haben wir also Parallelgesellschaften? Lebe ich sogar selbst schon wieder in einer, mitten in Kreuzberg? Gewiss nicht! Um mich herum werden jedenfalls keine parallelen „Gesellschaften“ aufgebaut. Von der Schule über die Wohnung bis zum Finanzamt leben alle sogenannten Migranten in den sozialen Strukturen und Räumen der Mehrheitsgesellschaft. Wohl aber gibt es „kulturell“ Eigenes. Eigene Familien- und Geselligkeitsformen, eigene Räume und Netzwerke. Doch ist diese kulturelle Vernetzung eine schon klassische Sozialtechnik beim Übergang aus einer Gesellschaft in eine andere. Da wirken landsmannschaftliche Bindungen, Vereine, Feste als kulturelle Schleusenkammern, die soziale Gefälle zwischen Herkunft und Zukunft ausgleichen helfen – mit manchmal langsamer, aber doch beharrlicher Schubwirkung hinein in die Gegenwart. Zugleich ist dies das allgemeine und unverwechselbare Kennzeichen urbaner Kultur: die Vielfalt wie die Differenz in der großen Stadt, in der „Heimat der Fremden“.

Was ich in Kreuzberg allerdings bemerke, ist ein verstärktes Denken und Reden in Differenzbegriffen. Die Rede von den „Ausländern“ ist auch hier auf dem Vormarsch. Und türkischstämmige Jugendliche entwickeln nun ihrerseits Strategien der aggressiven Verächtlichmachung der Mehrheitsgesellschaft. Vor allem dort, wo Deutsch zur Minderheitsposition wird. „Scheißdeutscher“ soll dem Mitschüler offenbar dasselbe Gefühl der Diskriminierung vermitteln, das der „Scheißtürke“ bereits erfahren hat. Es ist aber wohl auch ein Stück trotzige Selbstorientalisierung, mit der dabei gespielt wird, weil dieses Sich-Fremd-Machen auch ein Gefühl von Selbstachtung und Kraft vermittelt.

Andere entwickeln religiös-fundamentalistische Einstellungen, lehnen Christentum und Zivilgesellschaft radikal ab, werben im Extremfall sogar für Scharia oder Dschihad. Trotz aller Schlagzeilen betrifft dies freilich nur kleinste Gruppen. Und die dümmste Reaktion darauf ist, mehr als zweieinhalb Millionen Muslime in Deutschland deshalb unter den Generalverdacht des Fundamentalismus zu stellen.

Gerade wegen solcher Entwicklungen und Beobachtungen ist die Rede von der Parallelgesellschaft also nicht nur falsch. Sie ist als Argumentationsmuster im politischen Diskurs sogar gefährlich. Denn der Begriff produziert selbst eine kulturelle Differenz, die er vorgeblich diagnostiziert. Er zieht eine innere kulturelle Grenze in die Gesellschaft ein, die „uns“ wie „die anderen“ homogenisiert und essenzialisiert. Als seien wir einheitliche Gruppen und verschworene Gemeinschaften – christliche Deutsche gegen muslimische Migranten in einem lokalen „Krieg der Kulturen“. So fundamentalisiert er seinerseits vermeintliche Unterschiede, macht uns bewusst „fremd“ und verdeckt die vielfältigen alltäglichen Nähen und Übereinstimmungen, die vor den Türen von Moscheen und Kirchen unser Allagsleben längst
auch verbinden und „transkulturell“ prägen. Vor einigen Jahren haben wir eine alte Mauer in Deutschland abgerissen. Wir sollten tunlichst keine neue bauen!

The whale's curtain call (The Guardian)

The whale's curtain call
When a whale swam into London last year, the country held its breath. It never made it back to sea. So what became of the Thames Bottlenose? Jon Ronson reports.

Saturday January 13, 2007The Guardian


It's a Wednesday just before Christmas and I'm standing in an ugly, anonymous 60s building somewhere in south London. From the outside it looks like a disused polytechnic. But here, in the basement, through air-locked doors, is an incredible secret room. I have to promise not to reveal the building's location.

The room must be bigger than a football pitch. It is home to thousands and thousands of stuffed mammals. There are herds of giraffe, a parade of elephants, an extinct subspecies of lion, a shelf of mounted zebra heads, a streak of Siberian tigers, including one that was shot by George V - you can see the bullet hole - on and on, row after row, as far as the eye can see.

This is the Natural History Museum's storeroom. And there, laid out on a table right at the far end, is the skeleton of the River Thames whale. I'm walking towards it with a man called Richard Sabin. A 1324 Act of Parliament decrees that all stranded whales, porpoise and dolphins belong to the monarch. This means, in practice, that it's Richard Sabin's job - as the museum's curator in charge of aquatic mammals - to care for the remains of this famous whale.

This was the whale that captured the hearts of the British public on January 20 and 21 last year. The Sun called her Wally, Celebrity Big Blubber, and said she was Spout on the Town. The Times called her Billy, Prince of Whales. Tens of thousands of people lined the Thames to catch a glimpse and cheer her on her way. Eventually she was winched on to a barge to be carried to safety, but it was no use. She convulsed and died, crushed by her own body weight and suffering multiple organ failure and dehydration (whales derive their water through their food, so dehydration really means starvation).

And now - a year later - she's about to be transported again. This time she's on her way to the Guardian, to our exhibition space, the Newsroom. She'll be on show for a week from January 22: the day after the anniversary of her death. It will be the public's first - and, for the foreseeable future, only - chance to see her in the flesh (well, the bones).

As we walk towards her, Richard Sabin calls her "the specimen". "The specimen's not quite ready," he says. "She is still releasing a lot of oil. That's something we're going to have to deal with when she goes to the Guardian."

"Where's the oil coming from?" I ask.

"Inside the bones," says Richard.

We walk on in silence. "Why do you call her 'the specimen'?" I ask him.

Richard gives me a look as if to say, "It's better than Wally."

Richard says he understands why there's such a desire among the public to humanise her: "She's a personality animal. This animal, this whale skeleton, has joined the ranks of Guy the gorilla and Chi-Chi the giant panda in terms of animals with a very well-documented history - although this one doesn't have a well-documented history because we only observed her for a day and a half."

It was a commuter on a train - passing over one of London's bridges - who first spotted the whale at 8.30am on Friday January 20, 2006. (The night before, the control team at the Thames Barrier reported that they believed they briefly saw one or two whales.) The commuter phoned the police. He said he thought he was hallucinating.

Richard got the call soon after. Britain's coastguards are instructed to report any strandings to his department of the Natural History Museum, which is how he came to be on the scene so early. By the time he arrived, a news crew had already filmed the whale. They showed him the footage.

"I identified her as a Northern Bottlenose," Richard says, "which of course alarmed me. I immediately thought the outlook was quite gloomy. But I didn't want to say it. Although she was still quite strong at that point."

By lunchtime, Sky News was already showing an uninterrupted live feed. Londoners took time off work to catch a glimpse. A passing plumber called Andrew Phillips told the Sun, "It's amazing. My brother went all the way to Canada for whale-watching and never saw a thing."

Some onlookers jumped in to try to guide her back into deeper waters. One - an environmental science student called Edwin Timewell - whispered to her, "Come on, boy, you don't want to die here." The Sun later nicknamed him "The Whale Whisperer".

Northern Bottlenose whales are used to the deep Arctic and North Atlantic oceans. This one had somehow ended up in the river right below the Houses of Parliament, which is, at most, five metres deep. How had this happened?

During the year since her death, scientists have reached a consensus. She probably swam too far south, to the coast of Norway, hunting for squid. (The squid have been moving south as a result of global warming.) Her migratory instinct told her to continue south and west which, unfortunately, led her to be trapped in the North Sea - from a whale's point of view, narrow, noisy and shallow.

Everything would have been unfamiliar to her - the sandy banks, the noise everywhere. She became disoriented and swam upstream in the cacophonous Thames, full of boats, with trains crossing overhead and news helicopters hovering. Finally, on the Saturday afternoon, the rescue barge arrived, carrying a team led by Mark Stevens from the British Divers Marine Life Rescue. Whales use hearing the way we use sight. Being in the Thames must have felt to her as we'd feel if someone flashed strobe lights in our eyes.

I call Mark. He sounds surprisingly hurt by the whole experience.
"I wouldn't do it again," he tells me. "If someone phoned and said there's a whale in the Thames, I wouldn't do it."
"Why not?" I ask him.
"Too much pressure," he says.
"You mean all the people lining the Thames, watching you?" I ask.
"I felt like a chimpanzee in a zoo," says Mark.

The crowds at Battersea Bridge were five deep by the time the whale was winched on to the barge. I was among them, with my family. We'd been walking in the park when someone shouted, "They're lifting the whale!" And so we ran.

We managed to snake our way to the front of the crowd. Annoyingly, most of the rescue operation was being done under tarpaulin, and it seemed to take for ever, so the experience was not unlike staring at a tiny building site for hours. We got cold and bored. The thousands of people around us looked cold and bored, too. It was quite silent. But we kept thinking that they were bound to lift the whale soon, and we'd be cross if we missed it, so we waited. And, finally, we were rewarded for our patience with a brief glimpse, as she was hoisted into the air and down on to the deck. She looked, from our vantage point, like some indistinct shiny black cargo.

"Look!" I said to my then seven-year-old son Joel. "Look!"
"Yeah, yeah," he said.

The barge hurried off towards Shivering Sands, Margate, where they planned to release her.
"We weren't optimistic," says Mark. "The majority of these don't have a happy ending."
"So you've done this before?" I ask.

Mark tuts. "We had a porpoise three miles up, at Putney, on the same day," he says. "Last January we had 100 dead dolphins in Cornwall. I've done loads of them. I've done a minke whale under the Queen Elizabeth Bridge in Dartford."

Actually, 36 whales have been stranded in the Thames since records began in 1913, although none was as big as this Northern Bottlenose. (In the old days Londoners would gather to hack stranded whales to death.)

"The only reason people were interested in this one," Mark says, "was because it happened in the middle of London."

It's true. That first commuter was right - it was like a surreal hallucination. And then it became an exciting "boy-gets-trapped-down-the-well" type of story. Would it survive? Stories like that can run for days.

Night fell. On the barge, Mark's medics shone floodlights on the whale and monitored her breathing rate for signs of stress. She was taking eight breaths a minute, which was the same as she had been taking in the river. So she was exactly as stressed on the barge as she had been in the Thames. News helicopters took advantage of the barge's floodlights to hover overhead and broadcast the journey live.

"Then, at 6.40pm," says Mark, "we suddenly heard a change. Her breathing rocketed up. She was going into convulsions." So they made the collective decision to put her down. The veterinary pathologist on board, Paul Jepson, produced a bottle of Large Animal Immobilon, along with the antidote in case the poison splashed (it can kill you if you get it in your eyes). "Then, as Paul drew up the stuff to put the animal down," Mark says, "she died anyway."
Mark pauses. "You put so much effort into these things. I was a burnt-out husk. We were exhausted. We'd had news crews following our every move. It was bedlam. I've a lot more sympathy for Posh and Becks than I used to have, I'll tell you that."

One of the first things Mark did after the whale died was turn off the barge's floodlights, so the news helicopters couldn't film them any more. Mark says he was just sick of being filmed.
The whale died at 7pm. She was unloaded on to the wharf-side at Gravesend, where the postmortem took place the next morning. The vet, Paul Jepson, discovered several gashes along the animal's head and underbelly - most likely caused by collisions with boats and from rubbing against the river bed. She had died of dehydration, muscle damage and failing kidneys. Northern Bottlenose whales feed on squid and cuttlefish. Later, they found a whole potato, some bits of plastic bags and algae in her stomach. She'd been trying to eat from the floor of the Thames. She was between eight and 10 years old. (Bottlenose whales usually live between 50 and 70 years.)

She lay at Gravesend until Tuesday. Then - by royal decree - Richard Sabin and his team from the Natural History Museum arrived. "We extracted and bagged up the skeletal material," Richard says. "By the end of Tuesday she was a pile of bones in bags in the back of our van."
The bones were driven here, to the south London location I'm not allowed to reveal, with the thousands of stuffed animals in the basement. She stayed here in frozen storage until St Patrick's Day, when Richard loaded her back into the van and drove her up to Edinburgh, to the Museum of Scotland, where they'd hired a bone-cleaning facility.

"What did you use to clean the bones?" I ask him.
"Warm water and Persil," Richard replies.
"Really?" I say. "Persil?"
Richard says the Persil technical department were thrilled and flattered to learn that their washing powder was being used to clean the famous whale's bones. "Anyway," says Richard, "the team did a brilliant job up in Edinburgh, picking off flesh and cleaning. And this is the result."
I look down at the immaculate but quite small skeleton before me.
"Once you lose the blubber, the muscle mass, the tail flukes, yeah, it does look quite small," says Richard.
"Why didn't you embalm her?" I ask. "The public would have loved to have seen her looking more like a whale."

Richard tuts. He says that this whale was always destined to be a research specimen, not a display animal. I think he sees this as a superior destiny - to lie on a table down here and be scrutinised by scientists. He says there's great value in comparing the DNA, locked away in the bones, with the DNA of, say, a Northern Bottlenose that was stranded 100 years ago.
"An embalmed whale is of no research value," he says. "It would have just been a whale in a case."

Plus, he adds, embalming a four-tonne whale would have cost a fortune: "It's not just a case of plopping it in formalin because that would preserve the outside but the inside would still rot. And it would eventually explode. It's much more use as a skeletal specimen."

Still, he admits they're forever getting letters that read, "We love the Natural History Museum but where's the Thames whale?" I think they feel slightly bad about keeping her locked away down here, which is why they've agreed to the Guardian's request to exhibit her. And, excitingly, she'll still be seeping oil. So far, this past year, she's oozed between five and 10 litres of oil. Right now she's lying in a small pool of it. And the seeping will continue while she's at the Guardian.

"Personally," says Richard, "I think that will just add to the display."
Richard says he still gets journalists calling him to see if he's given her a name yet. At the time, Wally the Whale had seemed appropriate for this funny story: a silly whale gets itself stuck in central London. But then the story stopped being funny - the whale died - and during the postmortem it was established that she was female. The press needed a new name and so they ask Richard, the keeper of the remains.

"I tell them they can call her whatever they want," Richard says. "She's a whale. She doesn't care. She's dead. But they want me to give her a name. I say, 'I'm not prepared to enter into that.'" He sighs. "You know what I call it?" He marches over to a tag attached to her skeleton. The tag reads, "SW2006/40".

"'SW2006/40'," says Richard. "That's her name. SW stands for 'Stranded Whale'."
"And 40?"

"It was the 40th specimen to come into the museum collection in 2006," he says. Then Richard adds something surprising. He says there's another reason why he doesn't want to name her. "It's quite a depressing job," he says, "because you're dealing with dead animals, week in, week out."

I look around at the thousands of stuffed animals that surround us: the antelopes and monkeys and wildcats and sea lions.
"I don't like to invest emotions in these things," says Richard, "because if I did I think I'd be bawling my eyes out all the time."