Knaller an der Zeitungsfront

Wednesday, January 17, 2007

Alles wiki oder was? (Tagesspiegel)

Alles wiki oder was?
Wikipedia feiert sechsten Geburtstag.
Doch das freie Online-Lexikon muss auch Kritik einstecken
Von Bas Kast

Stell dir vor: ein Online-Lexikon, an dem jeder mitschreiben darf – sei er oder sie nun eine Uni-Assistentin, ein zwölfjähriger Computerfreak oder ein pensionierter Staubsaugervertreter. Was dabei herauskommt? Nichts als Schrott? Nein. Die größte, aktuellste Enzyklopädie, die es jemals gegeben hat: Wikipedia.

Vor sechs Jahren ging es an den Start. Vor zwei Jahren war es den meisten noch unbekannt. Inzwischen ist es vielen nicht nur ein Begriff, sondern zur unersetzlichen Nachschlagequelle geworden: Wikipedia, das Lexikon der Laien.

Laut dem Internet-Ranking-Service alexa.com, das die populärsten Webseiten der Welt auflistet, steht Wikipedia in Deutschland bereits auf Platz 4. „Wir hatten in den letzten 18 Monaten eine mehr als Verzwanzigfachung der Zugriffszahlen“, sagt Nina Gerlach vom Vorsitz der deutschen Wikimedia, einem Verein für die Förderung freien Wissens. Wikipedia erscheint in 250 Sprachen und Dialekten. Die englische Wikipedia-Ausgabe ist mit über 1,5 Millionen Einträgen die größte, die deutsche belegt mit gut 527 000 Stichwörtern Platz 2. Zum Vergleich: Der neueste Brockhaus in 30 Bänden zählt rund 300 000 Stichwörter – und kostet 2500 Euro.

Dafür, so der übliche Einwand, kann man sich auf ein traditionelles Lexikon verlassen, während man bei Wikipedia nie sicher ist. „Aus Brockhaus können Wissenschaftler jederzeit zuverlässig zitieren, bei Wikipedia geht das nicht“, sagt Brockhaus-Sprecher Klaus Holoch. Wirklich? Vor gut einem Jahr machte das Forschungsmagazin „Nature“ die Probe aufs Exempel: Das Fachblatt ließ eine Stichprobe von 42 Wiki-Artikeln zu wissenschaftlichen Themen prüfen und mit den Artikeln aus der „Encyclopedia Britannica“ vergleichen. Das Resultat: Wikipedia, die Enzyklopädie der Amateure, schnitt mit vier Fehlern pro Artikel fast so gut ab wie die professionelle „Britannica“ mit drei Fehlern pro Artikel.

Grund zum Feiern also für die Wiki-Gemeinde: Wikipedia, hieß es von nun an, kann man ernst nehmen. Es ist fast so verlässlich wie ein Standardlexikon – und noch dazu kostenlos und brandaktuell.

Und doch, ganz ungebrochen ist die Freude nicht. In letzter Zeit mehren sich die kritischen Stimmen, die auf Wikipedias Schwachstellen hinweisen. So griff der US-Computervisionär Jaron Lanier kürzlich den „digitalen Maoismus“ Wikipedias an. In einem Pamphlet auf der Webseite edge.org des New Yorker Literaturagenten John Brockman, wo nach Brockmans eigenen bescheidenen Angaben die „führenden Denker der Welt“ ihre neuesten Ideen verkünden, kritisierte Lanier die „Wikifizierung unserer Gesellschaft“: Es zähle nicht mehr die individuelle Intelligenz, sondern nur noch die „Intelligenz der Masse“ – aus allem werde heutzutage ein Durchschnittswert geschaffen, der als wertvoller und weiser gilt als der kreative Beitrag des Einzelnen. Der Computerexperte vergleicht Wikipedia sogar mit totalitären Systemen wie dem Kommunismus oder dem Nazi-Regime. „Sei vorsichtig mit dem Online-Kollektiv“, warnt er. Laniers zentraler Kritikpunkt: In Wikipedia gehe es nicht um die Wahrheit, sondern darum, eine möglichst große Gruppe von der Wahrheit zu überzeugen, was manchmal aufs Gleiche hinausläuft. Aber eben nur manchmal.

Ist Laniers Kritik überzogen? Fürchtet sich hier ein führender Denker der Welt, seine Autorität könnte schwinden, wenn fortan alle eine Stimme haben und mitreden? Oder hat der Mann recht?

Vielleicht beides. Einerseits demokratisiert Wikipedia das Wissen. Hinaus aus dem Elfenbeinturm, hinein ins Netz: „Das ist eine äußerst begrüßenswerte Sache“, urteilt Jürgen Renn vom Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. „Nicht jeder kann sich einen Brockhaus für 2500 Euro leisten.“ Aber es gehe um weit mehr als das. „Auch die Interaktivität ist einmalig: Bei Wikipedia wird der Leser zum Autor.“

Gerade das wird gelegentlich zum Problem. In der Wikiwelt, meint der Computerwissenschaftler Lanier, sei es vor allem der Hartnäckigste, der die „Wahrheit“ bestimmt: Es wimmele nur so von verbissenen Freaks, die nächtelang Einträge in ihrem Sinne verändern oder verfälschen, um so wie anonyme, gesichtslose Graffiti-Schmierer der Welt ihren Stempel aufzudrücken.

Dabei könne es auch um gezielten Rufmord gehen. So kursierte vor einiger Zeit in der Wikiwelt monatelang die – falsche – Aussage, der US-Journalist John Seigenthaler hätte einst im Verdacht gestanden, an der Ermordung der beiden Kennedy- Brüder John F. und Robert F. beteiligt gewesen zu sein. Dabei war der arme Kerl in Wahrheit nur eine Zeit lang Assistent von Robert Kennedy.

Das falsche Wissen kann sich schnell vervielfältigen: Andere Webseiten kopieren die Einträge Wikipedias, Journalisten greifen in ihrer Eile zu Wikipedia-Artikeln und heben die „Fakten“ teilweise eins zu eins vom Netz ins Blatt, weil für eine Prüfung keine Zeit mehr ist – so verbreitet sich das Wikiwissen in Windeseile und wird zum Allgemeinwissen.

Gerade Wikipedias Schnelligkeit („wikiwiki“ ist das hawaiianische Wort für schnell) wird der freien Enzyklopädie öfter zum Verhängnis: Als Nachrichtenagenturen letztes Jahr den Tod des ehemaligen Enron-Managers Kenneth Lay verkündeten, mutierte dessen angebliche Todesursache im Wikipedia-Eintrag innerhalb einer halben Stunde diverse Male zwischen „offenbar Selbstmord“ und „Herzinfarkt oder Selbstmord“, was sich noch in der gleichen Minute zur Aussage änderte, die Ursache müsse noch gefunden werden, was etwas später wiederum zum Kommentar ausartete, „so viele Leben ruiniert zu haben, führte schließlich zum Selbstmord“. Dabei will Wikipedia ein Nachschlagewerk sein – was ja heißt: eine zuverlässige Quelle für Hintergrundinformationen – und keine Nachrichtenagentur oder Zeitung.

Ein anderes Problem: Viele nutzen Wikipedias Freiheit als Forum, um sich selbst darzustellen oder besser darzustellen. Wie jene Mitarbeiter der Siemens- Pressestelle, die letztes Jahr den Artikel über ihren Konzernchef Klaus Kleinfeld verschönerten: Sie löschten die Stelle zur misslungenen Sanierung des Handy-Geschäfts und hoben stattdessen seine Verdienste hervor.

Die Gegenmaßnahmen von Wikipedia: Administratoren können einzelne Artikel – etwa „Angela Merkel“ – sperren und nur noch einen kleinen Kreis angemeldeter, bewährter Mitglieder heranlassen. Künftig sollen bewährte Mitglieder darüber hinaus einzelne Artikel als „nicht-vandalierte Versionen“ kennzeichnen, die alle nicht-angemeldeten Benutzer dann stets als Erstes zu sehen bekommen. „Außerdem wollen wir weiter versuchen, neue qualifizierte Autoren an den Hochschulen zu gewinnen und dadurch die Qualität der Artikel noch steigern“, sagt Nina Gerlach von Wikimedia.

Dem ehemaligen Mitbegründer Wikipedias Larry Sanger reicht das noch nicht. „Bei Wikipedia setzt sich im besten Fall der Konsens der Massen durch, im schlechtesten Fall der fanatischste Nutzer“, sagt auch er und arbeitet derzeit an einer Weiterentwicklung von Wikipedia: „Citizendium“.

Citizendium soll ebenfalls ein offenes Lexikon werden, die Artikel jedoch sollen in erster Linie von Experten kommen: von Wissenschaftlern, Dozenten oder Journalisten – aber auch von Laien, die sich mit ihrem Namen und einer gültigen E-Mail-Adresse anmelden. Citizendium soll noch dieses Jahr an den Start gehen. Das Ziel? Ist doch klar: Wikipedia zu schlagen.

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