Der Hauch des Todes (Tagesspiegel)
Der Hauch des Todes
Der Ex-Spion Alexander Litwinenko wollte einen Mord aufklären. Dann wurde er vergiftet – und der Verdacht fällt auf Moskau
Georgi Markow war auf dem Weg zur Arbeit. Wie jeden Morgen überquerte der Journalist die Waterloo Bridge zu Fuß und stellte sich an die Bushaltestelle, um in die Redaktion der BBC zu fahren. Plötzlich fühlte er einen kurzen, heftigen Schmerz, im Gedränge der Rushhour hatte sich eine Regenschirmspitze in sein Bein gebohrt – ein Versehen, dachte er wohl. Drei Tage später war Markow tot, vergiftet. Jahrelang hatte der bulgarische Dissident die kommunistische Tyrannei im Ostblock angeprangert, dafür wurde er schließlich vom KGB umgebracht.
Es ist eine Geschichte des Kalten Krieges. Der Regenschirm-Mord geschah am 7. September 1978. Aber seit dem Wochenende schwirren durch London Vermutungen, dass es auch 17 Jahre nach dem Zusammenbruch der alten Weltordnung noch Geheimagenten gibt, die auch im Westen auf offener Straße, am helllichten Tag morden. Streng bewacht in einem Londoner Krankenhaus ringt der ehemalige Offizier des russischen Geheimdienstes Alexander Litwinenko mit dem Tod. Der 43-Jährige war Ende der 90er Jahre vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB desertiert, floh nach Großbritannien und erhielt hier politisches Asyl. Seither ist er ein unnachgiebiger Gegner der russischen Regierung. Nun wurde auch er vergiftet. Und in seiner Umgebung beschuldigen alle den FSB.
Piccadilly Street 167, eine der edelsten Gegenden Londons. In der Nachbarschaft das Hotel Ritz, gegenüber der Diamantenhändler De Beers, in der Nähe auch die Old Bond Street mit Cartier und Chanel. Auch eine Filiale des Sushi-Schnellrestaurants Itsu liegt hier. Schwarzer Granitboden, schwarze Ledersitze, großformatige Fotos von Kirschblüten, Kokon-Lampen und Männer und Frauen in schwarzer Kleidung vor dem Kühlregal voller Pappbecher mit Miso-Suppe für vier Pfund 95. „Ist das nicht hier, wo das mit dem Russen passiert ist?“, fragt ein Mann im Anzug. „Ja, es ist hier passiert“, sagt der Filialleiter. Und dass der Russe Stammkunde war.
Wann es passiert ist und wie, darüber herrscht in London reichlich Verwirrung und Ärger in Moskau, aber dazu später. Bekannt ist nur so viel: Am 1. November traf Litwinenko hier den Italiener Mario Scaramella, einen Umweltprofessor aus Neapel, der in Geheimdienstkreisen seit vielen Jahren bekannt und offenbar gut vernetzt ist. Scaramella hatte das Treffen angeregt, um Litwinenko ein Dokument vorzulegen, das Hinweise auf die Mörder der russischen Journalistin Anna Politkowskaja enthalten sollte; über die Hintergründe des Mordes hatte Litwinenko zuletzt recherchiert. Politkowskaja ist erst kürzlich vor ihrer Haustür in Moskau erschossen worden; man vermutet, weil sie Wladimir Putins Regierung schwere Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien vorgeworfen hatte.
Das Papier, das Scaramella an Litwinenko übergab, war der Ausdruck einer E-Mail. „Mario wollte, dass ich das Dokument sofort lese“, so hat sich Litwinenko in einem Gespräch mit einem befreundeten Journalisten im Krankenhaus erinnert, bevor sein Zustand sich dramatisch verschlechterte. „Da tauchte eine Reihe von Namen auf, unter anderem auch die von FSB-Offizieren, die angeblich mit dem Tod der Journalistin in Verbindung stehen sollten“, sagte er. „Warum er mich treffen wollte, um mir das zu zeigen, weiß ich nicht. Er hätte es doch per E-Mail an mich schicken können.“
Scaramella soll nervös gewesen sein, wollte auch nichts essen. Nur Litwinenko bestellte sich eine Kleinigkeit und trank ein Glas Wasser. Nach kurzer Zeit trennten sich die beiden Männer wieder, und wenige Stunden später ging es dem Russen nicht mehr gut. Übelkeit, Kopfschmerzen, Sehstörungen, Kreislaufschwäche – zunächst deutete alles auf eine Lebensmittelvergiftung hin. Seine Frau Marina brachte ihn ins Krankenhaus nach Barnet im Norden der Stadt, wo er stationär behandelt wurde. Aber es ging ihm schlechter und schlechter. Die Nervenenden wurden immer empfindlicher, schon ein Windhauch verursachte ihm bestialische Schmerzen. Als ihm dann nach zehn Tagen sämtliche Haare ausfielen, war die Diagnose klar: „Keine Frage, hier handelt es sich um eine Vergiftung mit Thallium“, erklärt der Toxikologe Doktor John Henry vom University College Hospital, in dem Litwinenko seit letzter Woche behandelt wird. „Es ist ein klares, geruchsfreies und geschmackloses Nervengift, von dem schon eine Prise tödlich ist.“ Dass Litwinenko überhaupt noch am Leben ist, scheint dem Facharzt „absolut ungewöhnlich“.
Ein Freund von Litwinenko erklärt es damit, dass der ehemalige Agent „extrem fit“ war. „Er ist jeden Tag fünf Meilen gejoggt und hatte eine Kondition wie ein Stier“, sagt Alex Goldfarb. „Jetzt sieht er aus wie ein alter Mann, der mehrere Chemotherapien hinter sich hat.“ Das Gift hat die Nieren lahmgelegt und alle anderen Organe geschädigt. Zudem ist das Rückenmark zerstört. „Der Patient hat keine weißen Blutkörperchen mehr, das bedeutet, dass sein Immunsystem vollkommen außer Gefecht gesetzt wurde“, berichtet Doktor Henry. „Seine Überlebenschancen liegen bei 50 Prozent.“ Ob eine Rückenmarktransplantation ihn retten kann, ist nicht gewiss.
Wer aber hat Litwinenko vergiftet? Scaramella ist offenbar unschuldig. Nach allem, was über die Zusammenkunft im Sushi-Restaurant bekannt ist, hätte er gar keine Möglichkeit gehabt, das Thallium in Litwinenkos Sushi oder sein Wasser zu tun. Und die Tatsache, dass das Treffen innerhalb von wenigen Stunden arrangiert wurde, schließt wohl auch aus, dass ein Mitarbeiter des Restaurants Litwinenkos Essen vergiftet hat. Außerdem hat Scaramella selbst letzte Woche Kontakt mit Geheimdienstlern an der britischen Botschaft in Rom aufgenommen, um seine Seite des Falls zu schildern. Er selbst fürchte nun um sein Leben, hieß es am Montag in der britischen Zeitung „Daily Mail“ unter Berufung auf nicht genannte italienische Quellen.
Wahrscheinlicher scheint derzeit dagegen die These, dass Litwinenko am Morgen desselben Tages vergiftet wurde. „Vor der Verabredung mit Scaramella traf er sich in einem Hotel in der Innenstadt mit einem russischen Kontaktmann zum Tee“, sagt Marina Litwinenko.
Über diese morgendliche Teestunde ist nichts bekannt. Aber es ertönen Stimmen, die den russischen Geheimdienst direkt verantwortlich machen. „Dieser versuchte Mord geht auf das Konto der Russen, und die Anordnung kam von ganz oben“, sagte Oleg Gordijewsky der „Times“; Gordijewsky ist ebenfalls ein ehemaliger FSB-Offizier. Lange Zeit hat er als Doppelagent für die Russen und den britischen Geheimdienst MI6 gearbeitet, bis er vor einiger Zeit ganz auf die britische Seite gewechselt ist. Beim FSB nimmt man seine „Auslassungen“ allerdings „mit Verwunderung“ zur Kenntnis. Der Sprecher des FSB dementierte alle Verdächtigungen gestern mit dem Kommentar, schon „seit der Ermordung eines ukrainischen Rebellenchefs 1958 hätten KGB und dessen Nachfolgeorganisationen niemanden mehr physisch liquidiert“. Und der des Auslandsgeheimdienstes SWR, Sergej Iwanow, steuerte in London die Bemerkung bei, die Geheimdienste griffen „nicht mehr auf Mittel wie Vergiftung oder andere Mordformen zurück“.
Alexander Litwinenkos Opposition zur russischen Regierung begann Ende der 90er Jahre, als er seine Vorgesetzten in den russischen Medien beschuldigte, einen Mord am Oligarchen Boris Beresowski zu planen, der sich als Wladimir Putins Gegner aufgestellt hatte. Die Reaktion kam prompt: Ein Militärgericht verurteilte ihn zu dreieinhalb Jahren Haft – angeblich, weil er einen Verdächtigen während einer Routinebefragung zusammengeschlagen hatte. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Es sollte ein Warnschuss sein, aber Litwinenko hörte nicht hin.
Bald erhob er Korruptionsvorwürfe gegen den FSB und fügte hinzu, die Korruption reiche bis in die Spitzen der Regierung. Wieder stand er vor Gericht, diesmal wegen „Missbrauch des Amtes“, und saß neun Monate im Gefängnis. Nach seiner vorzeitigen Entlassung war ihm klar, dass er in Moskau nun um sein Leben fürchten musste. „Die sind hinter dir her“, warnten Freunde.
Litwinenko ließ sich nicht einschüchtern. Nachdem er seine Frau und sich in London in Sicherheit gebracht hatte, deckte er weiter auf, was er über den Kreml wusste. Er schrieb ein Buch, in dem er immer ungeheuerlichere Vorwürfe gegen den FSB erhob. Die Bombenangriffe auf Moskauer Appartementblocks 1999, bei denen 300 Menschen ums Leben kamen, seien nicht von tschetschenischen Rebellen ausgeführt worden, sondern vom FSB selbst. Denn der habe einen Vorwand gebraucht, um erneut gegen die Kaukasusrepublik in den Krieg zu ziehen. Im September 2004, zwei Wochen nachdem das Buch erschienen war, landete eine Brandbombe im Wohnzimmer der Litwinenkos und zerstörte das halbe Haus. Aber wie vertrauenswürdig waren seine Enthüllungen? Viele vertrauen ihm, manche nicht, sogar in seinem Heimatland.
Moskau, Montagmorgen. „Litwinenko?“ Roman Schleinow zieht kurz die Augenbrauen hoch: „Der Mann interessiert mich nicht.“ Schleinow, Anfang dreißig, sanfte Augen, rundes Gesicht, ist Enthüllungsjournalist und arbeitet für die „Nowaja Gaseta“, zu deren Stars auch Anna Politkowskaja gehörte. Schleinow sagt, Litwinenko mache mit dem Giftanschlag Werbung in eigener Sache.
Litwinenko, sagt Schleinow und hantiert gleichzeitig mit zwei Mobiltelefonen, während er sein Auto durch den Morgenstau in Moskau steuert, habe schon enttäuscht, als es damals um angebliche Beweise für die Beteiligung des FSB bei den Sprengstoffanschlägen in Moskau ging. „Warum ihm jetzt glauben?“ Die Aufregung um Litwinenko könne er daher „nicht nachvollziehen“.
Und die Ängste, mit denen hiesige Journalisten seit dem Mord an Politkowskaja und der Londoner Giftattacke kämpfen? Schließlich steht auch Schleinow auf der Liste der „100 größten Feinde des russischen Volkes“, die ein Abgeordneter der nationalistischen Schirinowski-Partei auf seiner Internetseite platziert hat. „Tja“, sagt Schleinow und späht nach einer Lücke in der Autoschlange vor ihm. Das sei schon heftig, die Gefahren jedoch sehr ungleich verteilt. „Am meisten Angst müssen die Kollegen haben, die in den Provinzen irgendwelche lokalen Schweinereien aufgedeckt haben. Nach einem erschossenen oder krankenhausreif geprügelten Provinzschreiber kräht kein Hahn. Schon gar nicht im Ausland.“
Die Ampeln stehen auf Rot, Putin fährt zur Arbeit in den Kreml. „So paradox es klingen mag“, sagt Roman Schleinow, „Journalisten überregionaler Medien sind in Russland nicht allzu sehr gefährdet. Die Machthaber jaulen kurz auf, wenn sie angezählt werden. Angesichts der Informationsfülle interessiert sich am Tag danach aber niemand mehr für die Artikel von gestern.“
Ganz anders dagegen liegt aus seiner Sicht der Fall bei international bekannten Stars der Branche wie Anna Politkowskaja, die „den Dreck aus der Hütte nach außen tragen“. Das sei „kreuzgefährlich“. Denn die Mächtigen im Kreml könnten bei Treffen mit ausländischen Politikern darauf angesprochen werden und sich rechtfertigen müssen. Rache sei gewiss. Was man tun kann, wie sich schützen? Roman Schleinow zuckt mit den Schultern. „Den Aufstieg in diese Kaste habe ich noch nicht geschafft.“
Mitarbeit: David Byers und Claudia Keller
Der Ex-Spion Alexander Litwinenko wollte einen Mord aufklären. Dann wurde er vergiftet – und der Verdacht fällt auf Moskau
Georgi Markow war auf dem Weg zur Arbeit. Wie jeden Morgen überquerte der Journalist die Waterloo Bridge zu Fuß und stellte sich an die Bushaltestelle, um in die Redaktion der BBC zu fahren. Plötzlich fühlte er einen kurzen, heftigen Schmerz, im Gedränge der Rushhour hatte sich eine Regenschirmspitze in sein Bein gebohrt – ein Versehen, dachte er wohl. Drei Tage später war Markow tot, vergiftet. Jahrelang hatte der bulgarische Dissident die kommunistische Tyrannei im Ostblock angeprangert, dafür wurde er schließlich vom KGB umgebracht.
Es ist eine Geschichte des Kalten Krieges. Der Regenschirm-Mord geschah am 7. September 1978. Aber seit dem Wochenende schwirren durch London Vermutungen, dass es auch 17 Jahre nach dem Zusammenbruch der alten Weltordnung noch Geheimagenten gibt, die auch im Westen auf offener Straße, am helllichten Tag morden. Streng bewacht in einem Londoner Krankenhaus ringt der ehemalige Offizier des russischen Geheimdienstes Alexander Litwinenko mit dem Tod. Der 43-Jährige war Ende der 90er Jahre vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB desertiert, floh nach Großbritannien und erhielt hier politisches Asyl. Seither ist er ein unnachgiebiger Gegner der russischen Regierung. Nun wurde auch er vergiftet. Und in seiner Umgebung beschuldigen alle den FSB.
Piccadilly Street 167, eine der edelsten Gegenden Londons. In der Nachbarschaft das Hotel Ritz, gegenüber der Diamantenhändler De Beers, in der Nähe auch die Old Bond Street mit Cartier und Chanel. Auch eine Filiale des Sushi-Schnellrestaurants Itsu liegt hier. Schwarzer Granitboden, schwarze Ledersitze, großformatige Fotos von Kirschblüten, Kokon-Lampen und Männer und Frauen in schwarzer Kleidung vor dem Kühlregal voller Pappbecher mit Miso-Suppe für vier Pfund 95. „Ist das nicht hier, wo das mit dem Russen passiert ist?“, fragt ein Mann im Anzug. „Ja, es ist hier passiert“, sagt der Filialleiter. Und dass der Russe Stammkunde war.
Wann es passiert ist und wie, darüber herrscht in London reichlich Verwirrung und Ärger in Moskau, aber dazu später. Bekannt ist nur so viel: Am 1. November traf Litwinenko hier den Italiener Mario Scaramella, einen Umweltprofessor aus Neapel, der in Geheimdienstkreisen seit vielen Jahren bekannt und offenbar gut vernetzt ist. Scaramella hatte das Treffen angeregt, um Litwinenko ein Dokument vorzulegen, das Hinweise auf die Mörder der russischen Journalistin Anna Politkowskaja enthalten sollte; über die Hintergründe des Mordes hatte Litwinenko zuletzt recherchiert. Politkowskaja ist erst kürzlich vor ihrer Haustür in Moskau erschossen worden; man vermutet, weil sie Wladimir Putins Regierung schwere Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien vorgeworfen hatte.
Das Papier, das Scaramella an Litwinenko übergab, war der Ausdruck einer E-Mail. „Mario wollte, dass ich das Dokument sofort lese“, so hat sich Litwinenko in einem Gespräch mit einem befreundeten Journalisten im Krankenhaus erinnert, bevor sein Zustand sich dramatisch verschlechterte. „Da tauchte eine Reihe von Namen auf, unter anderem auch die von FSB-Offizieren, die angeblich mit dem Tod der Journalistin in Verbindung stehen sollten“, sagte er. „Warum er mich treffen wollte, um mir das zu zeigen, weiß ich nicht. Er hätte es doch per E-Mail an mich schicken können.“
Scaramella soll nervös gewesen sein, wollte auch nichts essen. Nur Litwinenko bestellte sich eine Kleinigkeit und trank ein Glas Wasser. Nach kurzer Zeit trennten sich die beiden Männer wieder, und wenige Stunden später ging es dem Russen nicht mehr gut. Übelkeit, Kopfschmerzen, Sehstörungen, Kreislaufschwäche – zunächst deutete alles auf eine Lebensmittelvergiftung hin. Seine Frau Marina brachte ihn ins Krankenhaus nach Barnet im Norden der Stadt, wo er stationär behandelt wurde. Aber es ging ihm schlechter und schlechter. Die Nervenenden wurden immer empfindlicher, schon ein Windhauch verursachte ihm bestialische Schmerzen. Als ihm dann nach zehn Tagen sämtliche Haare ausfielen, war die Diagnose klar: „Keine Frage, hier handelt es sich um eine Vergiftung mit Thallium“, erklärt der Toxikologe Doktor John Henry vom University College Hospital, in dem Litwinenko seit letzter Woche behandelt wird. „Es ist ein klares, geruchsfreies und geschmackloses Nervengift, von dem schon eine Prise tödlich ist.“ Dass Litwinenko überhaupt noch am Leben ist, scheint dem Facharzt „absolut ungewöhnlich“.
Ein Freund von Litwinenko erklärt es damit, dass der ehemalige Agent „extrem fit“ war. „Er ist jeden Tag fünf Meilen gejoggt und hatte eine Kondition wie ein Stier“, sagt Alex Goldfarb. „Jetzt sieht er aus wie ein alter Mann, der mehrere Chemotherapien hinter sich hat.“ Das Gift hat die Nieren lahmgelegt und alle anderen Organe geschädigt. Zudem ist das Rückenmark zerstört. „Der Patient hat keine weißen Blutkörperchen mehr, das bedeutet, dass sein Immunsystem vollkommen außer Gefecht gesetzt wurde“, berichtet Doktor Henry. „Seine Überlebenschancen liegen bei 50 Prozent.“ Ob eine Rückenmarktransplantation ihn retten kann, ist nicht gewiss.
Wer aber hat Litwinenko vergiftet? Scaramella ist offenbar unschuldig. Nach allem, was über die Zusammenkunft im Sushi-Restaurant bekannt ist, hätte er gar keine Möglichkeit gehabt, das Thallium in Litwinenkos Sushi oder sein Wasser zu tun. Und die Tatsache, dass das Treffen innerhalb von wenigen Stunden arrangiert wurde, schließt wohl auch aus, dass ein Mitarbeiter des Restaurants Litwinenkos Essen vergiftet hat. Außerdem hat Scaramella selbst letzte Woche Kontakt mit Geheimdienstlern an der britischen Botschaft in Rom aufgenommen, um seine Seite des Falls zu schildern. Er selbst fürchte nun um sein Leben, hieß es am Montag in der britischen Zeitung „Daily Mail“ unter Berufung auf nicht genannte italienische Quellen.
Wahrscheinlicher scheint derzeit dagegen die These, dass Litwinenko am Morgen desselben Tages vergiftet wurde. „Vor der Verabredung mit Scaramella traf er sich in einem Hotel in der Innenstadt mit einem russischen Kontaktmann zum Tee“, sagt Marina Litwinenko.
Über diese morgendliche Teestunde ist nichts bekannt. Aber es ertönen Stimmen, die den russischen Geheimdienst direkt verantwortlich machen. „Dieser versuchte Mord geht auf das Konto der Russen, und die Anordnung kam von ganz oben“, sagte Oleg Gordijewsky der „Times“; Gordijewsky ist ebenfalls ein ehemaliger FSB-Offizier. Lange Zeit hat er als Doppelagent für die Russen und den britischen Geheimdienst MI6 gearbeitet, bis er vor einiger Zeit ganz auf die britische Seite gewechselt ist. Beim FSB nimmt man seine „Auslassungen“ allerdings „mit Verwunderung“ zur Kenntnis. Der Sprecher des FSB dementierte alle Verdächtigungen gestern mit dem Kommentar, schon „seit der Ermordung eines ukrainischen Rebellenchefs 1958 hätten KGB und dessen Nachfolgeorganisationen niemanden mehr physisch liquidiert“. Und der des Auslandsgeheimdienstes SWR, Sergej Iwanow, steuerte in London die Bemerkung bei, die Geheimdienste griffen „nicht mehr auf Mittel wie Vergiftung oder andere Mordformen zurück“.
Alexander Litwinenkos Opposition zur russischen Regierung begann Ende der 90er Jahre, als er seine Vorgesetzten in den russischen Medien beschuldigte, einen Mord am Oligarchen Boris Beresowski zu planen, der sich als Wladimir Putins Gegner aufgestellt hatte. Die Reaktion kam prompt: Ein Militärgericht verurteilte ihn zu dreieinhalb Jahren Haft – angeblich, weil er einen Verdächtigen während einer Routinebefragung zusammengeschlagen hatte. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Es sollte ein Warnschuss sein, aber Litwinenko hörte nicht hin.
Bald erhob er Korruptionsvorwürfe gegen den FSB und fügte hinzu, die Korruption reiche bis in die Spitzen der Regierung. Wieder stand er vor Gericht, diesmal wegen „Missbrauch des Amtes“, und saß neun Monate im Gefängnis. Nach seiner vorzeitigen Entlassung war ihm klar, dass er in Moskau nun um sein Leben fürchten musste. „Die sind hinter dir her“, warnten Freunde.
Litwinenko ließ sich nicht einschüchtern. Nachdem er seine Frau und sich in London in Sicherheit gebracht hatte, deckte er weiter auf, was er über den Kreml wusste. Er schrieb ein Buch, in dem er immer ungeheuerlichere Vorwürfe gegen den FSB erhob. Die Bombenangriffe auf Moskauer Appartementblocks 1999, bei denen 300 Menschen ums Leben kamen, seien nicht von tschetschenischen Rebellen ausgeführt worden, sondern vom FSB selbst. Denn der habe einen Vorwand gebraucht, um erneut gegen die Kaukasusrepublik in den Krieg zu ziehen. Im September 2004, zwei Wochen nachdem das Buch erschienen war, landete eine Brandbombe im Wohnzimmer der Litwinenkos und zerstörte das halbe Haus. Aber wie vertrauenswürdig waren seine Enthüllungen? Viele vertrauen ihm, manche nicht, sogar in seinem Heimatland.
Moskau, Montagmorgen. „Litwinenko?“ Roman Schleinow zieht kurz die Augenbrauen hoch: „Der Mann interessiert mich nicht.“ Schleinow, Anfang dreißig, sanfte Augen, rundes Gesicht, ist Enthüllungsjournalist und arbeitet für die „Nowaja Gaseta“, zu deren Stars auch Anna Politkowskaja gehörte. Schleinow sagt, Litwinenko mache mit dem Giftanschlag Werbung in eigener Sache.
Litwinenko, sagt Schleinow und hantiert gleichzeitig mit zwei Mobiltelefonen, während er sein Auto durch den Morgenstau in Moskau steuert, habe schon enttäuscht, als es damals um angebliche Beweise für die Beteiligung des FSB bei den Sprengstoffanschlägen in Moskau ging. „Warum ihm jetzt glauben?“ Die Aufregung um Litwinenko könne er daher „nicht nachvollziehen“.
Und die Ängste, mit denen hiesige Journalisten seit dem Mord an Politkowskaja und der Londoner Giftattacke kämpfen? Schließlich steht auch Schleinow auf der Liste der „100 größten Feinde des russischen Volkes“, die ein Abgeordneter der nationalistischen Schirinowski-Partei auf seiner Internetseite platziert hat. „Tja“, sagt Schleinow und späht nach einer Lücke in der Autoschlange vor ihm. Das sei schon heftig, die Gefahren jedoch sehr ungleich verteilt. „Am meisten Angst müssen die Kollegen haben, die in den Provinzen irgendwelche lokalen Schweinereien aufgedeckt haben. Nach einem erschossenen oder krankenhausreif geprügelten Provinzschreiber kräht kein Hahn. Schon gar nicht im Ausland.“
Die Ampeln stehen auf Rot, Putin fährt zur Arbeit in den Kreml. „So paradox es klingen mag“, sagt Roman Schleinow, „Journalisten überregionaler Medien sind in Russland nicht allzu sehr gefährdet. Die Machthaber jaulen kurz auf, wenn sie angezählt werden. Angesichts der Informationsfülle interessiert sich am Tag danach aber niemand mehr für die Artikel von gestern.“
Ganz anders dagegen liegt aus seiner Sicht der Fall bei international bekannten Stars der Branche wie Anna Politkowskaja, die „den Dreck aus der Hütte nach außen tragen“. Das sei „kreuzgefährlich“. Denn die Mächtigen im Kreml könnten bei Treffen mit ausländischen Politikern darauf angesprochen werden und sich rechtfertigen müssen. Rache sei gewiss. Was man tun kann, wie sich schützen? Roman Schleinow zuckt mit den Schultern. „Den Aufstieg in diese Kaste habe ich noch nicht geschafft.“
Mitarbeit: David Byers und Claudia Keller
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