Falsches Lob des Kommunismus (fr)
Falsches Lob des Kommunismus
Die Staatssicherheit versuchte sich auch als Politikberaterin - mit zweifelhaftem Erfolg. Meldungen aus der DDR / Von Siegfried Suckut
Wer an das Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in der früheren DDR denkt, der wird vor allem die schier endlosen Aktenregale und die Millionen von Karteikarten vor Augen haben, die dieser gigantische Repressionsapparat hinterlassen hat. Kaum ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist dagegen eine andere Funktion der von Erich Mielke geleiteten politischen Geheimpolizei der SED, die man in einem vergleichsweise überschaubaren Aktenbestand dokumentiert findet: Die Stasi als Berichterstatterin an die politische Führung über alle sicherheitsrelevanten Entwicklungen im Lande, als Meinungsforscherin, die festhielt, wie die Bevölkerung über die Herrschenden dachte, als Erfassungsstelle all dessen, wovon die gelenkten DDR-Medien so gut wie nie berichteten: Ausreiseanträge, "Havarien" in den VEB, Grenzzwischenfälle und Probleme mit den sowjetischen Soldaten im Lande.
Wer sich ein realistisches Bild von der Situation in der DDR machen will, darf sich bei der Analyse nicht auf diese Berichte beschränken, er muss auch Überlieferungen anderer Provenienz zurate ziehen und bedenken, dass nicht immer alles zutraf, was das MfS aus den Informationen seiner Zuträger herausdestillierte. Doch sind die Aufzeichnungen der Stasi eine aufschlussreiche, unverzichtbare Quelle für jeden, der versucht, der Wahrheit über die DDR nahe zu kommen.
Die Abteilung Bildung und Forschung der Behörde der Bundesbeauftragten hatte schon früh die Aufarbeitung dieser Unterlagen beschlossen, inspiriert auch von den bereits seit langem vorliegenden "Meldungen aus dem Reich", den Berichten des Sicherheitsdienstes der SS 1938-45. Nach Abschluss grundlegender Projekte zu den Strukturen und Methoden des MfS wird die Abteilung nun mit der sukzessiven Herausgabe der "Meldungen aus der DDR" beginnen und damit auch einem seit längerem geäußerten Wunsch vieler Fachkollegen entsprechen.
In einem Pilotprojekt sollen zunächst aus den einzelnen Jahrzehnten der DDR-Geschichte jeweils die Berichte eines ausgewählten Jahres ediert und analysiert werden. Begonnen wird mit dem Jahr 1976. Der vorliegende Beitrag soll am Beispiel dieses Jahrganges verdeutlichen, welche Erkenntnisse generell aus den Berichten an die Parteiführung zu gewinnen sind und wie die damit umging. Das Jahr 1976 ist herausgegriffen worden, weil es eines der ereignisreichsten der DDR-Geschichte gewesen ist, vor allem aber, weil zu diesem Zeitpunkt in der DDR die Auswirkungen der innerdeutschen Verträge wie der KSZE in vollem Umfang zu spüren waren und sich das Verhalten relevanter Teile der Gesellschaft gegenüber den Herrschenden zu verändern begann, was sich unter anderem in der wachsenden Zahl der Ausreiseanträge niederschlug. Bei der Analyse der Berichte soll insbesondere untersucht werden, inwieweit das Ministerium für Staatssicherheit erkannt hatte, dass die Folgen der innerdeutschen und europäischen Entspannungspolitik die Macht der SED im Lande untergruben und zu einer latenten Bedrohung ihrer Herrschaft führten. Eine Erwartung war, der Staatssicherheitsdienst werde gerade die Folgen der Entspannungspolitik besonders deutlich registriert, als Seismograph für schleichenden Machtverlust der SED fungiert und sie gewarnt haben.
Erteilt wurde der Informationsauftrag an die Staatssicherheit nach dem 17. Juni 1953, als der SED-Führung die Bedeutung zuverlässiger Berichte über die Lage im Lande schmerzhaft bewusst geworden war. Um aufkeimender Unzufriedenheit zukünftig umgehend begegnen zu können, wurde vom Staatssicherheitsdienst im August 1953 eine Informationsgruppe gebildet, die zunächst täglich über die Stimmungen in der Bevölkerung, "gleichgültig, ob positiv oder negativ". Es gehe darum, so präzisierte ein späterer Befehl, "die führenden Funktionäre der Partei, des Staates und der Regierung der DDR qualifiziert und objektiv über die Lage in der DDR und besonders über die Absichten und Pläne der Feinde des Friedens und des Sozialismus gegen die DDR zu unterrichten".
Die Stasi-Auswerter hielten sich offenbar daran, was dazu führte, dass SED-Chef Ulbricht schon rasch sein Interesse gerade an den Stimmungsberichten verlor und sie als Ärgernis empfand: Es handle sich inhaltlich um eine Form der "legalen Verbreitung feindlicher Hetze" monierte er 1957, was anscheinend dazu führte, dass gerade der bald darauf zum Minister ernannte Mielke die Berichtsentwürfe seiner Mitarbeiter mit besonderer Vorsicht behandelte: Die SED-Führung wollte informiert, zugleich aber in ihrer eigenen ideologiegeprägten Lagebeurteilung bestätigt werden. Ein unüberbrückbarer Widerspruch.
Vier Jahre nach dem Mauerbau wurde die mittlerweile auf 13 Mitarbeiter angewachsene, Mielke direkt unterstellte Einheit zur Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) aufgewertet und nun kontinuierlich ausgebaut. Am Ende der DDR zählte sie 423 Mitarbeiter.
Ihre Hauptaufgabe war es, Erkenntnisse anderer MfS-Gliederungen auszuwerten und das Wichtigste in "Informationen" für die Partei- und Staatsführung zusammenzufassen. Sie gingen als Entwurf mit Angabe des vorgesehenen Verteilers zunächst an Mielke, der Veränderungen vornehmen konnte und über die Weitergabe an die Parteiführung entschied. Bedacht wurden in den siebziger Jahren bis zu 10, im Schicksalsjahr 1989 mitunter mehr als 20 Adressaten. Häufiger fanden Informationsentwürfe offenbar nicht das Plazet des Ministers und wurden, ohne Angabe von Gründen, nicht herausgegeben. Im Jahre 1976 betraf das fast jeden zehnten der Inlandsberichte.
Obwohl auch sonstige MfS-Erkenntnisse in Einzelfällen an den SED-Generalsekretär weitergeleitet wurden, waren die ZAIG-Informationen die wichtigste Form schriftlicher Kommunikation zwischen dem MfS und der Partei- und Staatsführung. Daneben verfügte Mielke über einen direkten persönlichen Kontakt zu Honecker: Nach den Politbüro-Sitzungen trafen beide zu vertraulichen Gesprächen zusammen. Was jeweils besprochen wurde, ist nicht dokumentiert, so dass auch kein abschließendes Urteil über Mielkes Verhalten Honecker gegenüber möglich ist, doch vermittelt die von ihm getroffene Auswahl von ZAIG-Informationen immerhin einen guten Eindruck davon, worüber er ihn unterrichten wollte und worüber nicht.
Die durchweg als "streng geheim" eingestuften Papiere mussten von den Empfängern nach Kenntnisnahme wieder zurückgegeben und durften nicht weitergeleitet werden. Selbst Honecker scheint sich daran gehalten zu haben. Dem Minister für Staatssicherheit ermöglichte dieses Verfahren, zu entscheiden, wer wovon in Kenntnis gesetzt wurde und den einen oder anderen gezielt auszuschließen. Die einzelnen "Informationen" hatten im Jahr 1976 einen Umfang von vier bis fünf Seiten, in den wenigen Fällen, in denen Anlagen beigefügt waren, auch wesentlich mehr. Täglich verfasste das MfS 2-3 solcher Berichte, im Jahr 1976 insgesamt 897.
Zwei Drittel, 604, stammen von der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) und beziehen sich nicht auf die Lage in der DDR, sondern auf die in der Bundesrepublik und anderen nichtsozialistischen Staaten. Sie handeln unter anderem von der Elektronik des neuesten Bundeswehr-Panzers, der algerischen Politik in der Westsahara und aktuellen Entwicklungen in der West-Berliner SPD. Während die Inlandsberichte im Wortlaut vorliegen, sind von denen der HV A häufig nur die Themen überliefert. Interessant waren die HV A-Meldungen vor allem für die Verantwortlichen der West- und Militärpolitik. Immerhin hielt Mielke 102 für so bedeutend, dass er sie auch Honecker zustellte. Der erhielt erstaunlicherweise im Jahre 1976 von seinen "Tschekisten" mehr HV A-Berichte als solche zur Lage in der DDR, denn nur 84 der 294 Inlands-Informationen waren auch an ihn adressiert.
Das lässt bereits erkennen, dass aus der Sicht der Stasi die Sicherheit im Lande nicht akut gefährdet schien. Die DDR sei "gefestigter denn je", hatte Mielke schon im Januar verkündet und sie stets zu den zehn führenden Industriestaaten gerechnet. Der "Imperialismus" dagegen habe seine "einstmals beherrschende Stellung in der Welt für immer und endgültig verloren." Diese Weltsicht prägte auch die Informationspolitik des MfS. Den Genossen an der Spitze von Staat und Partei sollte offenbar suggeriert werden, nicht zuletzt dank der Spionageerfolge befinde sich die DDR gegenüber der Bundesrepublik in der Offensive.
Von den 294 Inlandsberichten war die größte Gruppe eher buchhalterischer Art und listete auf, wie viele DDR-Besucher und Transitreisende es in der jeweils zurückliegenden Woche gegeben und welche Deviseneinnahmen die DDR dadurch erzielt hatte. Berichtsschwerpunkte waren zudem größere Betriebsunfälle, Flucht und Ausreise, Entwicklungen in den Kirchen und politisch oppositionelles Verhalten.
Keine der Informationen im Jahr 1976 ist als umfassender Bericht über die politische Stimmung innerhalb der Bevölkerung einzustufen. Dreizehn von ihnen geben immerhin wieder, wie einzelne Gruppen auf bestimmte Entscheidungen der politischen Führung reagiert hatten, etwa Schriftsteller auf den Ausschluss Reiner Kunzes aus ihrem Verband oder die Anhänger und Freunde Wolf Biermanns auf dessen Ausbürgerung. Dabei hatten die Diensteinheiten des MfS eine Vielzahl von Stimmungsberichten verfasst, die etwa die Reaktionen der Bevölkerung auf die Beschlüsse des IX. Parteitages, die Konferenz der Kommunistischen Parteien in Ost-Berlin, die Selbstverbrennung von Pfarrer Brüsewitz oder die Volkskammerwahlen im Oktober betrafen. Sie ähnelten inhaltlich den Berichten der SED-Bezirkschefs und der Blockparteien, blieben aber MfS-internes Arbeitsmaterial. Offenbar wirkte die Ulbricht-Kritik aus den fünfziger Jahren nach.
Fast alle HV A-Berichte, aber nur 25 der Inlandsinformationen leitete Mielke auch an den KGB weiter. Dabei ging es vor allem um Besuche von Angehörigen der Westalliierten in Ost-Berlin, Grenzzwischenfälle und Probleme mit Rotarmisten in der DDR.
Auffällig im Vergleich zu den Berichten des SD der SS ist das Fehlen analytischer Verdichtung und zusammenfassender Auswertung für längere Zeitabschnitte. Halbjahresberichte zur Lage in der DDR etwa sucht man vergeblich. Das MfS konzentrierte sich auf isoliert wirkende Einzelinformationen, bevorzugt zu Entwicklungen, die über die West-Medien der eigenen Bevölkerung wie der Parteiführung bekannt werden konnten bzw. bekannt waren. Dazu gehörten Grenzzwischenfälle, der Vorwurf der Zwangsadoption von Kindern politisch Missliebiger, die Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz und das Konzert Wolf Biermanns in Köln, seine Ausbürgerung und die Reaktionen im In- und Ausland.
Die Auswahl der Themen und die Art der Berichterstattung lässt ein defensives Verhalten der MfS-Führung gegenüber der Parteispitze erkennen. Berichtet wird häufig, um möglicher Kritik an den Sicherheitsorganen zuvorzukommen: Mielke warb um die Wertschätzung des SED-Generalsekretärs. So reichte er, nachdem der italienische Lastwagenfahrer und KPI-Anhänger Corghi von DDR-Grenzposten am Kontrollpunkt Hirschberg erschossen worden war, einen Bericht unter der ganz undramatisch klingenden Überschrift ein: "Information über eine unter Anwendung der Schusswaffe am 05. 08. 1976 erfolgte Festnahme eines Grenzverletzers an der Staatsgrenze zur BRD" und erwähnte erst an nachgeordneter Stelle, dass Corghi an den Folgen seiner Schussverletzungen verstorben sei. Auch Nebensächlichkeiten, die für das MfS entlastend wirken könnten, wurden ausführlich erwähnt.
Dieser Zwischenfall war der letzte in einer Kette von Fällen, in denen die DDR - "Grenzorgane" im Jahre 1976 rücksichtslos von der Waffe Gebrauch gemacht hatten. Eine Rüge Honeckers ist nicht überliefert, doch scheint er für ein weniger martialisches Grenzregime gesorgt zu haben, denn schon einen Tag später berichtete das MfS über einen Westdeutschen, der sich bereits 100 Meter auf DDR-Gebiet befunden habe. Er sei "ohne Anwendung der Schusswaffe", festgenommen und "nach eindringlicher Belehrung" in die Bundesrepublik "zurückgeführt" worden. Ein weiterer Bericht über umsichtiges Verhalten der Grenzposten trägt den handschriftlichen Vermerk, der Minister habe ihn mit Honecker persönlich "ausgewertet". Einer der ganz wenigen Fälle, in denen erkennbar wird, was Mielke im Gespräch mit dem SED-Chef beraten hat.
Hauptberichtsthema war 1976 die Ausbürgerung Biermanns und ihre Folgen. Allein in 16 Informationen ging die ZAIG darauf ein. Die meisten hatte Mielke auch an Honecker adressiert: Das Vorgehen gegen Biermann war Chefsache. Unzufriedener noch als mit dem zeitweiligen Grenzregime dürfte der Generalsekretär mit der Rolle des MfS bei der Ausbürgerung gewesen sein. Klarer als gemeinhin aus den Akten zu entnehmen, hatte Mielke darauf gedrängt, Biermann nicht wieder einreisen zu lassen, dabei aber die politischen Konsequenzen für die SED deutlich unterschätzt. "Im nachhinein möchte ich sagen, hätte man vielleicht eine andere Entscheidung treffen können", räumte Honecker nach dem Ende der DDR ein.
Zwei Tage nach Biermanns Auftritt in Köln und einen Tag vor der Beratung des Politbüros darüber gab das MfS am 15. November eine Information über Reaktionen auf den gerade erfolgten Ausschluss Reiner Kunzes aus dem DDR-Schriftstellerverband. Erste Adressaten waren, neben Honecker, die Politbüromitglieder Hager und Lamberz. Der Tenor des Berichts klang beruhigend. Der Ausschluss sei "vom überwiegenden Teil der Schriftsteller" akzeptiert worden. Als "progressiv und parteiverbunden" Einzuschätzende befürworteten ihn sogar und verbänden damit die Hoffnung, "dass diesem Schritt weitere staatliche Maßnahmen gegen Kunze und ähnliche feindlich eingestellte Kulturschaffende folgen werden". Herbert Otto, der Potsdamer Bezirksvorsitzende des Schriftstellerverbandes, habe explizit gefordert: "jetzt müsse aber in der DDR das Problem Biermann gleichfalls gelöst werden; es dürfe auf keinen Fall wegen Kunze in den Hintergrund treten". Nur einige, für ihr "negatives Auftreten" bereits Bekannte, seien nicht einverstanden gewesen.
Ebenfalls mit Datum vom 15. November und mit gleichem Verteiler gab Mielke eine erste, 82 Seiten umfassende Information über Biermanns Kölner Auftritt heraus, die auf dem Mitschnitt der westlichen Rundfunkübertragung basierte und auch die Liedtexte wiedergab. Laut handschriftlichem Vermerk wurde sie den Adressaten am 16. November, vermutlich unmittelbar vor der Politbürositzung, durch den Minister persönlich ausgehändigt. Vor jedem Lied habe Biermann "hetzerische und die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung verleumdende" Einführungen gegeben, unter anderem "diskriminierte er in übelster Weise das Ministerium für Staatssicherheit". Aus dem viereinhalbstündigen Konzert vor siebentausend Zuhörern habe der WDR in seinem II. Rundfunkprogramm von 19.05 bis 21.00 Uhr übertragen, ein Sender, der in der DDR nicht zu empfangen war.
Die Tagesordnung der Politbürositzung am 16. November war kurzfristig von 13 auf 17 Punkte erweitert worden. Hinzugefügt wurde unter anderem als Punkt 4 die "Aberkennung der Staatsbürgerschaft für Wolf Biermann". Berichterstatter war allein Erich Honecker. Der Beschluss dazu lautete knapp: "Wolf Biermann wird die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt. Die Pressemitteilung wird bestätigt. Die Veröffentlichung erfolgt am 16. November 1976, abends". Weitere Informationen zum Verlauf der Sitzung wurden, wie üblich, im Protokoll nicht gegeben. Mit einer Dauer von 10-14 Uhr war dies ein ungewöhnlich langes Zusammentreffen der Parteispitze. Gleichwohl hatte sie sich auch an diesem Tag nur wenige Minuten für die Erörterung der einzelnen Tagesordnungspunkte genommen.
Mielke zeigte sich mit dem Beschluss sehr zufrieden. Was das MfS schon seit längerem angestrebt und offensichtlich auch mit der Akzentuierung seiner Berichterstattung bezweckt hatte, war eingetreten. Auf einer Versammlung von SED-Funktionären am Tag darauf kündigte er mit triumphierendem Unterton an: "Mit gleicher Konsequenz werden wir gegen alle vorgehen, die glauben, ungestraft mit feindlich negativen Aktivitäten gegen uns wirksam werden zu können, die unter dem Eindruck der Entspannung Morgenluft wittern und frech zu werden versuchen." Die Mielke-typische Rhetorik.
Zwei Tage nach der Politbürositzung trat ein, womit offenbar weder Mielke noch Honecker gerechnet hatte: Der WDR sendete am 19. November eine ungekürzte Aufzeichnung des Biermann-Konzerts bis weit nach Mitternacht im Ersten Programm der ARD. Das aber war fast überall in der DDR zu empfangen. Provozierend musste für die SED-Führung die Begründung für die nachträgliche Ausstrahlung klingen: Es gehe darum, "›Bürgern der DDR die Möglichkeit zu geben, sich davon zu überzeugen, dass sie von ihrer Regierung belogen worden seien‹". Das sei politische Einmischung und eigentlich ein Grund, "das Büro der ARD in der DDR sofort zu schließen", befand ein dem Politbüro vorliegendes Gutachten. Eine solche Reaktion könne aber die Regierungsbildung in Bonn und die Fortsetzung der Entspannungspolitik erschweren und sollte besser unterbleiben.
Gerade die authentische Information durch die ARD-Übertragung war für viele in der DDR das auslösende Moment, die Ausbürgerung zu verurteilen. Die Stasi hatte Mühe, die Vielzahl der offenen und heimlichen Protestaktionen und Solidaritätsbekundungen zu erfassen. Die Lage war ähnlich gespannt wie nach dem Einmarsch in die CSSR 1968. Nachdenklich musste es die SED-Führung machen, dass sich viele Systemloyale und selbst Parteimitglieder dem Protest angeschlossen, ihn in Einzelfällen initiiert hatten. Selbst die großen westeuropäischen Kommunistischen Parteien verurteilten den Ausbürgerungsbeschluss, der unwillkürlich an NS-Praktiken erinnerte.
Durch Einsatz ihrer machtpolitischen Mittel, insbesondere jahrelanges Auftrittsverbot, hatte es die SED-Führung bis dahin geschafft, Biermann zu einem in der DDR-Bevölkerung kaum bekannten Sänger werden zu lassen, dessen Name, so das Kalkül, mit der Ausbürgerung vollends in Vergessenheit geraten sollte. Die Fernsehübertragung und ihre Folgen hatten eindrucksvoll die gesellschaftliche Relevanz einer SED-unabhängigen Gegenöffentlichkeit gezeigt. Biermann wurde gleichsam über Nacht zum bekanntesten Liedermacher in der DDR.: Grenzen vermeintlich totaler Herrschaft.
Welche Resonanz ihre Entscheidungen in der Bundesrepublik auslösen könnten, wurde von der SED-Führung in der Regel mitbedacht, denn die elektronischen West-Medien wurden in der DDR breit rezipiert. So ist einer MfS-Information zu entnehmen, dass im September 76 eine Familie umgehend ihren Ausreiseantrag genehmigt bekam, weil Westverwandte schriftlich damit gedroht hatten, im Falle einer Ablehnung vor der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn eine Mauer mit Stacheldraht zu errichten, was naturgemäß über Funk und Fernsehen in der DDR bekannt geworden und breit diskutiert worden wäre.
Gerade die innerdeutschen Vereinbarungen zur Arbeit von Journalisten hatten die Funktion der West-Medien als Kontrapart zum SED-kontrollierten Verlautbarungsjournalismus wesentlich aufgewertet. Was im Lande geschah, darüber informierten nun auch die West-Korrespondenten direkt vor Ort. Zudem waren sie eine beliebte Anlaufstelle für Oppositionelle, die Manuskripte unkontrolliert über die Grenze schaffen wollten oder für zur Ausreise Entschlossene, die Beratung und Schutz suchten. Aus der Sicht der Stasi ein stetes Ärgernis über das sie immer wieder die politische Führung informierte und eine Art legaler Agententätigkeit, die sie von ihrer Spionageabwehr überwachen ließ, aber ein wichtiger Teil der innerdeutschen und KSZE-Vereinbarungen, die die DDR mit unterzeichnet hatte. So hielt die politische Kultur des Westens schrittweise Einzug in den Osten.
Eine willkommene Gelegenheit, sich unter den Genossen der Staats- und Parteiführung Respekt zu verschaffen, boten die Berichte des MfS aus der Wirtschaft. Gab es irgendwo folgenreiche Betriebsunfälle, so war die Stasi schnell mit Untersuchungsergebnissen zur Stelle und nannte die Schuldigen wie die Ursachen. Fast immer ging es um Leitungsdefizite oder menschliches Versagen. Mielke kostete es augenscheinlich aus, durch die zahlreichen IM in den Betrieben, vom MfS neutral als "Fachexperten" zitiert, oft besser informiert zu sein als die Verantwortlichen in der Regierung. Ähnlich einer Aufsichtsbehörde über den gesamten Staats- und Wirtschaftsapparat nervte Mielke in den Berichten unter anderen den Minister für Verkehr mit dem wiederholten Monitum, der Einsatz der Güterwagen bei der Deutschen Reichsbahn sei schlecht organisiert, in großem Umfang komme es zu Fehlleitungen leerer wie beladener Waggons. Was in den fünfziger Jahren in seltenen Fällen Folge von gezielten Sabotageakten der von West-Berlin aus operierenden "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" gewesen sein soll, war Mitte der siebziger, so lernt man aus den Berichten, offenbar ein alltägliches Problem. Das MfS machte in solchen Fällen oft Lösungsvorschläge, die im Ton eher wie Anweisungen daherkamen. Durchaus verständlich, dass einer der Hauptadressaten, Politbüromitglied Günter Mittag, sich in seinen Memoiren im Beschwerdeton über solches Wirken der Stasi äußerte. Dem historisch Interessierten heute aber geben die kritischen Berichte oft einen informativen Einblick in den Betriebsalltag und veranschaulichen, wie DDR-Wirtschaft funktionierte und worunter sie litt.
Auffällig oft macht die Stasi auf Probleme des Umweltschutzes aufmerksam. So waren nach einer "Havarie" im Motorradwerk große Mengen Kupfer-Cyanid in die Tschopau geflossen, so dass in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) z. T. Tankwagen zur Trinkwasserversorgung eingesetzt werden mussten. Das hatte wohl selbst Honecker nicht gewusst. Er setzte den Zwischenfall auf die Agenda der tags darauf stattfindenden Politbüro-Sitzung.
Im Atomkraftwerk Lubmin bei Greifswald hatte das MfS allein vom 1. Januar bis 31. Juli 1976 192 "betriebsgefährdende Vorkommnisse" registriert und war offenbar besser informiert als die offiziellen Inspektoren. In einem anderen Fall griff die politische Geheimpolizei selbst ins Betriebsgeschehen ein und bewahrte die DDR vor außenpolitischen Peinlichkeiten. Die SED hatte mit Vietnam vereinbart, kurzfristig dessen neue Währung zu drucken. Als Maschinenausfälle die Zusage gefährdeten, stellte das MfS eigene Arbeitskräfte zur Verfügung, beschaffte Maschinen und Ersatzteile in der Bundesrepublik und rettete so die Lieferung.
Hilfsleistungen wie diese entsprachen dem praktizierten Selbstverständnis des MfS als Staatsorgan, das für alles zuständig sei, was für das Funktionieren des Staates wichtig schien. Zudem hatten solche Berichte wohl auch den Zweck, den Genossen an der Spitze von Staat und Partei deutlich zu machen, dass die Stasi selbst in der Wirtschaft ein wichtiger Systemstabilisator sei.
Hätte die Stasi versucht, aufgrund ihrer vielen Informationen aus den Betrieben eine zusammenfassende Analyse der grundlegenden Missstände vorzulegen, ihr Urteil hätte ähnlich wie das von Rudolf Bahro lauten müssen, der in diesen Monaten damit befasst war, seine eigenen Erfahrungen zu Papier zu bringen und später von "organisierter Verantwortungslosigkeit" sprach. Das MfS aber suchte, absolut parteitreu, nicht nach systembedingten Ursachen und beschränkte sich auf die isolierte Analyse von Einzelfällen.
In einem für die Zukunft des Staates besonders wichtigen Fall machten die ZAIG-Offiziere im Sommer 1976 den Versuch gründlicher Ursachenforschung und erarbeiteten den mit 85 Seiten umfangreichsten Bericht dieses Jahres. Es ging darum, Wirksames dagegen zu unternehmen, dass seit der KSZE die Zahl der Ausreiseanträge stark anstieg. Untersucht wurden die Gründe, warum sich auffallend häufig Angehörige medizinischer Berufe entschieden, das Land für immer zu verlassen. Was die Stasi an Erkenntnissen zur Lage im Gesundheitswesen zusammengetragen hatte, liest sich wie die sachliche, aber drastische Schilderung eines katastrophalen Zustandes. Wer das las, musste eigentlich Verständnis haben für die Antragsteller.
Mielke aber gab den Bericht nicht weiter. Das hatte er bereits bei zwei früheren ZAIG-Informationen zur Ausreisebewegung so entschieden. Vermutlich wusste er, dass Honecker sich nicht mit dieser Problematik befassen wollte. Unter den 719 allein von ihm bestimmten Tagesordnungspunkten des Politbüros in diesem Jahr taucht sie nicht ein einziges Mal auf. Nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft sagte Honecker, er habe die Stasi-Berichte nicht zur Kenntnis genommen, weil sie inhaltlich denen der Westmedien über die DDR geähnelt hätten. Hätte er es getan, er hätte lernen können, dass gerade gut qualifizierte, junge Leute ausreisen wollten, selbst bisher Systemloyale und "gesellschaftlich" Engagierte. Auf wen konnte sich die SED da noch verlassen?
Als Seismograph für schleichenden Machtverlust der Partei hätte das MfS spätestens jetzt vor den gefährlichen Auswirkungen der Entspannungspolitik auf die DDR warnen müssen. Mielke aber blieb bei der von Honecker bekräftigten Wertung, sie sei eine vom Osten eingeleitete Politik der Stärke, die den Westen unter Anpassungsdruck setze. Gern zitierte Mielke den CSU-Vorsitzenden Strauß mit seinem Verdikt, wenn der Westen die Entspannungspolitik fortsetze, habe er den Dritten Weltkrieg bereits verloren, bevor er begonnen habe.
Mielke lag politische Eigeninitiative fern. Das Wichtigste blieb für ihn, die Politik der SED ohne jede Einschränkung aktiv zu unterstützen. Die Berichte an Honecker trugen affirmativen Charakter. Beratung aber hätte bedeutet, sich vom Vorhandenen ein Stück weit zu distanzieren und nach (noch) "Besserem" zu suchen. Das aber hätte Mielke offenbar bereits als einen Mangel an Loyalität empfunden. Dass die Macht im Staate gefährdet sei, hätte das MfS vermutlich erst gemeldet, wenn die SED-Führung dies als Ergebnis eigener Lageanalyse verkündet hätte. Die aber äußerte sich bis in den Oktober 1989 zuversichtlich, sie bewahren zu können. Zudem vertraute Mielke lange darauf, dass die bisherigen Mechanismen des Machterhalts zuverlässig funktionieren würden und letztlich auf die Unterstützung der Sowjetunion Verlass sei. Noch Ende Mai 1989 meldete er an Honecker, die oppositionellen Gruppen seien überschaubar und stünden "unter staatlicher und gesellschaftlicher Kontrolle". Kein Grund zur Beunruhigung also für den Parteichef.
Die Staatssicherheit versuchte sich auch als Politikberaterin - mit zweifelhaftem Erfolg. Meldungen aus der DDR / Von Siegfried Suckut
Wer an das Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in der früheren DDR denkt, der wird vor allem die schier endlosen Aktenregale und die Millionen von Karteikarten vor Augen haben, die dieser gigantische Repressionsapparat hinterlassen hat. Kaum ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist dagegen eine andere Funktion der von Erich Mielke geleiteten politischen Geheimpolizei der SED, die man in einem vergleichsweise überschaubaren Aktenbestand dokumentiert findet: Die Stasi als Berichterstatterin an die politische Führung über alle sicherheitsrelevanten Entwicklungen im Lande, als Meinungsforscherin, die festhielt, wie die Bevölkerung über die Herrschenden dachte, als Erfassungsstelle all dessen, wovon die gelenkten DDR-Medien so gut wie nie berichteten: Ausreiseanträge, "Havarien" in den VEB, Grenzzwischenfälle und Probleme mit den sowjetischen Soldaten im Lande.
Wer sich ein realistisches Bild von der Situation in der DDR machen will, darf sich bei der Analyse nicht auf diese Berichte beschränken, er muss auch Überlieferungen anderer Provenienz zurate ziehen und bedenken, dass nicht immer alles zutraf, was das MfS aus den Informationen seiner Zuträger herausdestillierte. Doch sind die Aufzeichnungen der Stasi eine aufschlussreiche, unverzichtbare Quelle für jeden, der versucht, der Wahrheit über die DDR nahe zu kommen.
Die Abteilung Bildung und Forschung der Behörde der Bundesbeauftragten hatte schon früh die Aufarbeitung dieser Unterlagen beschlossen, inspiriert auch von den bereits seit langem vorliegenden "Meldungen aus dem Reich", den Berichten des Sicherheitsdienstes der SS 1938-45. Nach Abschluss grundlegender Projekte zu den Strukturen und Methoden des MfS wird die Abteilung nun mit der sukzessiven Herausgabe der "Meldungen aus der DDR" beginnen und damit auch einem seit längerem geäußerten Wunsch vieler Fachkollegen entsprechen.
In einem Pilotprojekt sollen zunächst aus den einzelnen Jahrzehnten der DDR-Geschichte jeweils die Berichte eines ausgewählten Jahres ediert und analysiert werden. Begonnen wird mit dem Jahr 1976. Der vorliegende Beitrag soll am Beispiel dieses Jahrganges verdeutlichen, welche Erkenntnisse generell aus den Berichten an die Parteiführung zu gewinnen sind und wie die damit umging. Das Jahr 1976 ist herausgegriffen worden, weil es eines der ereignisreichsten der DDR-Geschichte gewesen ist, vor allem aber, weil zu diesem Zeitpunkt in der DDR die Auswirkungen der innerdeutschen Verträge wie der KSZE in vollem Umfang zu spüren waren und sich das Verhalten relevanter Teile der Gesellschaft gegenüber den Herrschenden zu verändern begann, was sich unter anderem in der wachsenden Zahl der Ausreiseanträge niederschlug. Bei der Analyse der Berichte soll insbesondere untersucht werden, inwieweit das Ministerium für Staatssicherheit erkannt hatte, dass die Folgen der innerdeutschen und europäischen Entspannungspolitik die Macht der SED im Lande untergruben und zu einer latenten Bedrohung ihrer Herrschaft führten. Eine Erwartung war, der Staatssicherheitsdienst werde gerade die Folgen der Entspannungspolitik besonders deutlich registriert, als Seismograph für schleichenden Machtverlust der SED fungiert und sie gewarnt haben.
Erteilt wurde der Informationsauftrag an die Staatssicherheit nach dem 17. Juni 1953, als der SED-Führung die Bedeutung zuverlässiger Berichte über die Lage im Lande schmerzhaft bewusst geworden war. Um aufkeimender Unzufriedenheit zukünftig umgehend begegnen zu können, wurde vom Staatssicherheitsdienst im August 1953 eine Informationsgruppe gebildet, die zunächst täglich über die Stimmungen in der Bevölkerung, "gleichgültig, ob positiv oder negativ". Es gehe darum, so präzisierte ein späterer Befehl, "die führenden Funktionäre der Partei, des Staates und der Regierung der DDR qualifiziert und objektiv über die Lage in der DDR und besonders über die Absichten und Pläne der Feinde des Friedens und des Sozialismus gegen die DDR zu unterrichten".
Die Stasi-Auswerter hielten sich offenbar daran, was dazu führte, dass SED-Chef Ulbricht schon rasch sein Interesse gerade an den Stimmungsberichten verlor und sie als Ärgernis empfand: Es handle sich inhaltlich um eine Form der "legalen Verbreitung feindlicher Hetze" monierte er 1957, was anscheinend dazu führte, dass gerade der bald darauf zum Minister ernannte Mielke die Berichtsentwürfe seiner Mitarbeiter mit besonderer Vorsicht behandelte: Die SED-Führung wollte informiert, zugleich aber in ihrer eigenen ideologiegeprägten Lagebeurteilung bestätigt werden. Ein unüberbrückbarer Widerspruch.
Vier Jahre nach dem Mauerbau wurde die mittlerweile auf 13 Mitarbeiter angewachsene, Mielke direkt unterstellte Einheit zur Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) aufgewertet und nun kontinuierlich ausgebaut. Am Ende der DDR zählte sie 423 Mitarbeiter.
Ihre Hauptaufgabe war es, Erkenntnisse anderer MfS-Gliederungen auszuwerten und das Wichtigste in "Informationen" für die Partei- und Staatsführung zusammenzufassen. Sie gingen als Entwurf mit Angabe des vorgesehenen Verteilers zunächst an Mielke, der Veränderungen vornehmen konnte und über die Weitergabe an die Parteiführung entschied. Bedacht wurden in den siebziger Jahren bis zu 10, im Schicksalsjahr 1989 mitunter mehr als 20 Adressaten. Häufiger fanden Informationsentwürfe offenbar nicht das Plazet des Ministers und wurden, ohne Angabe von Gründen, nicht herausgegeben. Im Jahre 1976 betraf das fast jeden zehnten der Inlandsberichte.
Obwohl auch sonstige MfS-Erkenntnisse in Einzelfällen an den SED-Generalsekretär weitergeleitet wurden, waren die ZAIG-Informationen die wichtigste Form schriftlicher Kommunikation zwischen dem MfS und der Partei- und Staatsführung. Daneben verfügte Mielke über einen direkten persönlichen Kontakt zu Honecker: Nach den Politbüro-Sitzungen trafen beide zu vertraulichen Gesprächen zusammen. Was jeweils besprochen wurde, ist nicht dokumentiert, so dass auch kein abschließendes Urteil über Mielkes Verhalten Honecker gegenüber möglich ist, doch vermittelt die von ihm getroffene Auswahl von ZAIG-Informationen immerhin einen guten Eindruck davon, worüber er ihn unterrichten wollte und worüber nicht.
Die durchweg als "streng geheim" eingestuften Papiere mussten von den Empfängern nach Kenntnisnahme wieder zurückgegeben und durften nicht weitergeleitet werden. Selbst Honecker scheint sich daran gehalten zu haben. Dem Minister für Staatssicherheit ermöglichte dieses Verfahren, zu entscheiden, wer wovon in Kenntnis gesetzt wurde und den einen oder anderen gezielt auszuschließen. Die einzelnen "Informationen" hatten im Jahr 1976 einen Umfang von vier bis fünf Seiten, in den wenigen Fällen, in denen Anlagen beigefügt waren, auch wesentlich mehr. Täglich verfasste das MfS 2-3 solcher Berichte, im Jahr 1976 insgesamt 897.
Zwei Drittel, 604, stammen von der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) und beziehen sich nicht auf die Lage in der DDR, sondern auf die in der Bundesrepublik und anderen nichtsozialistischen Staaten. Sie handeln unter anderem von der Elektronik des neuesten Bundeswehr-Panzers, der algerischen Politik in der Westsahara und aktuellen Entwicklungen in der West-Berliner SPD. Während die Inlandsberichte im Wortlaut vorliegen, sind von denen der HV A häufig nur die Themen überliefert. Interessant waren die HV A-Meldungen vor allem für die Verantwortlichen der West- und Militärpolitik. Immerhin hielt Mielke 102 für so bedeutend, dass er sie auch Honecker zustellte. Der erhielt erstaunlicherweise im Jahre 1976 von seinen "Tschekisten" mehr HV A-Berichte als solche zur Lage in der DDR, denn nur 84 der 294 Inlands-Informationen waren auch an ihn adressiert.
Das lässt bereits erkennen, dass aus der Sicht der Stasi die Sicherheit im Lande nicht akut gefährdet schien. Die DDR sei "gefestigter denn je", hatte Mielke schon im Januar verkündet und sie stets zu den zehn führenden Industriestaaten gerechnet. Der "Imperialismus" dagegen habe seine "einstmals beherrschende Stellung in der Welt für immer und endgültig verloren." Diese Weltsicht prägte auch die Informationspolitik des MfS. Den Genossen an der Spitze von Staat und Partei sollte offenbar suggeriert werden, nicht zuletzt dank der Spionageerfolge befinde sich die DDR gegenüber der Bundesrepublik in der Offensive.
Von den 294 Inlandsberichten war die größte Gruppe eher buchhalterischer Art und listete auf, wie viele DDR-Besucher und Transitreisende es in der jeweils zurückliegenden Woche gegeben und welche Deviseneinnahmen die DDR dadurch erzielt hatte. Berichtsschwerpunkte waren zudem größere Betriebsunfälle, Flucht und Ausreise, Entwicklungen in den Kirchen und politisch oppositionelles Verhalten.
Keine der Informationen im Jahr 1976 ist als umfassender Bericht über die politische Stimmung innerhalb der Bevölkerung einzustufen. Dreizehn von ihnen geben immerhin wieder, wie einzelne Gruppen auf bestimmte Entscheidungen der politischen Führung reagiert hatten, etwa Schriftsteller auf den Ausschluss Reiner Kunzes aus ihrem Verband oder die Anhänger und Freunde Wolf Biermanns auf dessen Ausbürgerung. Dabei hatten die Diensteinheiten des MfS eine Vielzahl von Stimmungsberichten verfasst, die etwa die Reaktionen der Bevölkerung auf die Beschlüsse des IX. Parteitages, die Konferenz der Kommunistischen Parteien in Ost-Berlin, die Selbstverbrennung von Pfarrer Brüsewitz oder die Volkskammerwahlen im Oktober betrafen. Sie ähnelten inhaltlich den Berichten der SED-Bezirkschefs und der Blockparteien, blieben aber MfS-internes Arbeitsmaterial. Offenbar wirkte die Ulbricht-Kritik aus den fünfziger Jahren nach.
Fast alle HV A-Berichte, aber nur 25 der Inlandsinformationen leitete Mielke auch an den KGB weiter. Dabei ging es vor allem um Besuche von Angehörigen der Westalliierten in Ost-Berlin, Grenzzwischenfälle und Probleme mit Rotarmisten in der DDR.
Auffällig im Vergleich zu den Berichten des SD der SS ist das Fehlen analytischer Verdichtung und zusammenfassender Auswertung für längere Zeitabschnitte. Halbjahresberichte zur Lage in der DDR etwa sucht man vergeblich. Das MfS konzentrierte sich auf isoliert wirkende Einzelinformationen, bevorzugt zu Entwicklungen, die über die West-Medien der eigenen Bevölkerung wie der Parteiführung bekannt werden konnten bzw. bekannt waren. Dazu gehörten Grenzzwischenfälle, der Vorwurf der Zwangsadoption von Kindern politisch Missliebiger, die Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz und das Konzert Wolf Biermanns in Köln, seine Ausbürgerung und die Reaktionen im In- und Ausland.
Die Auswahl der Themen und die Art der Berichterstattung lässt ein defensives Verhalten der MfS-Führung gegenüber der Parteispitze erkennen. Berichtet wird häufig, um möglicher Kritik an den Sicherheitsorganen zuvorzukommen: Mielke warb um die Wertschätzung des SED-Generalsekretärs. So reichte er, nachdem der italienische Lastwagenfahrer und KPI-Anhänger Corghi von DDR-Grenzposten am Kontrollpunkt Hirschberg erschossen worden war, einen Bericht unter der ganz undramatisch klingenden Überschrift ein: "Information über eine unter Anwendung der Schusswaffe am 05. 08. 1976 erfolgte Festnahme eines Grenzverletzers an der Staatsgrenze zur BRD" und erwähnte erst an nachgeordneter Stelle, dass Corghi an den Folgen seiner Schussverletzungen verstorben sei. Auch Nebensächlichkeiten, die für das MfS entlastend wirken könnten, wurden ausführlich erwähnt.
Dieser Zwischenfall war der letzte in einer Kette von Fällen, in denen die DDR - "Grenzorgane" im Jahre 1976 rücksichtslos von der Waffe Gebrauch gemacht hatten. Eine Rüge Honeckers ist nicht überliefert, doch scheint er für ein weniger martialisches Grenzregime gesorgt zu haben, denn schon einen Tag später berichtete das MfS über einen Westdeutschen, der sich bereits 100 Meter auf DDR-Gebiet befunden habe. Er sei "ohne Anwendung der Schusswaffe", festgenommen und "nach eindringlicher Belehrung" in die Bundesrepublik "zurückgeführt" worden. Ein weiterer Bericht über umsichtiges Verhalten der Grenzposten trägt den handschriftlichen Vermerk, der Minister habe ihn mit Honecker persönlich "ausgewertet". Einer der ganz wenigen Fälle, in denen erkennbar wird, was Mielke im Gespräch mit dem SED-Chef beraten hat.
Hauptberichtsthema war 1976 die Ausbürgerung Biermanns und ihre Folgen. Allein in 16 Informationen ging die ZAIG darauf ein. Die meisten hatte Mielke auch an Honecker adressiert: Das Vorgehen gegen Biermann war Chefsache. Unzufriedener noch als mit dem zeitweiligen Grenzregime dürfte der Generalsekretär mit der Rolle des MfS bei der Ausbürgerung gewesen sein. Klarer als gemeinhin aus den Akten zu entnehmen, hatte Mielke darauf gedrängt, Biermann nicht wieder einreisen zu lassen, dabei aber die politischen Konsequenzen für die SED deutlich unterschätzt. "Im nachhinein möchte ich sagen, hätte man vielleicht eine andere Entscheidung treffen können", räumte Honecker nach dem Ende der DDR ein.
Zwei Tage nach Biermanns Auftritt in Köln und einen Tag vor der Beratung des Politbüros darüber gab das MfS am 15. November eine Information über Reaktionen auf den gerade erfolgten Ausschluss Reiner Kunzes aus dem DDR-Schriftstellerverband. Erste Adressaten waren, neben Honecker, die Politbüromitglieder Hager und Lamberz. Der Tenor des Berichts klang beruhigend. Der Ausschluss sei "vom überwiegenden Teil der Schriftsteller" akzeptiert worden. Als "progressiv und parteiverbunden" Einzuschätzende befürworteten ihn sogar und verbänden damit die Hoffnung, "dass diesem Schritt weitere staatliche Maßnahmen gegen Kunze und ähnliche feindlich eingestellte Kulturschaffende folgen werden". Herbert Otto, der Potsdamer Bezirksvorsitzende des Schriftstellerverbandes, habe explizit gefordert: "jetzt müsse aber in der DDR das Problem Biermann gleichfalls gelöst werden; es dürfe auf keinen Fall wegen Kunze in den Hintergrund treten". Nur einige, für ihr "negatives Auftreten" bereits Bekannte, seien nicht einverstanden gewesen.
Ebenfalls mit Datum vom 15. November und mit gleichem Verteiler gab Mielke eine erste, 82 Seiten umfassende Information über Biermanns Kölner Auftritt heraus, die auf dem Mitschnitt der westlichen Rundfunkübertragung basierte und auch die Liedtexte wiedergab. Laut handschriftlichem Vermerk wurde sie den Adressaten am 16. November, vermutlich unmittelbar vor der Politbürositzung, durch den Minister persönlich ausgehändigt. Vor jedem Lied habe Biermann "hetzerische und die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung verleumdende" Einführungen gegeben, unter anderem "diskriminierte er in übelster Weise das Ministerium für Staatssicherheit". Aus dem viereinhalbstündigen Konzert vor siebentausend Zuhörern habe der WDR in seinem II. Rundfunkprogramm von 19.05 bis 21.00 Uhr übertragen, ein Sender, der in der DDR nicht zu empfangen war.
Die Tagesordnung der Politbürositzung am 16. November war kurzfristig von 13 auf 17 Punkte erweitert worden. Hinzugefügt wurde unter anderem als Punkt 4 die "Aberkennung der Staatsbürgerschaft für Wolf Biermann". Berichterstatter war allein Erich Honecker. Der Beschluss dazu lautete knapp: "Wolf Biermann wird die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt. Die Pressemitteilung wird bestätigt. Die Veröffentlichung erfolgt am 16. November 1976, abends". Weitere Informationen zum Verlauf der Sitzung wurden, wie üblich, im Protokoll nicht gegeben. Mit einer Dauer von 10-14 Uhr war dies ein ungewöhnlich langes Zusammentreffen der Parteispitze. Gleichwohl hatte sie sich auch an diesem Tag nur wenige Minuten für die Erörterung der einzelnen Tagesordnungspunkte genommen.
Mielke zeigte sich mit dem Beschluss sehr zufrieden. Was das MfS schon seit längerem angestrebt und offensichtlich auch mit der Akzentuierung seiner Berichterstattung bezweckt hatte, war eingetreten. Auf einer Versammlung von SED-Funktionären am Tag darauf kündigte er mit triumphierendem Unterton an: "Mit gleicher Konsequenz werden wir gegen alle vorgehen, die glauben, ungestraft mit feindlich negativen Aktivitäten gegen uns wirksam werden zu können, die unter dem Eindruck der Entspannung Morgenluft wittern und frech zu werden versuchen." Die Mielke-typische Rhetorik.
Zwei Tage nach der Politbürositzung trat ein, womit offenbar weder Mielke noch Honecker gerechnet hatte: Der WDR sendete am 19. November eine ungekürzte Aufzeichnung des Biermann-Konzerts bis weit nach Mitternacht im Ersten Programm der ARD. Das aber war fast überall in der DDR zu empfangen. Provozierend musste für die SED-Führung die Begründung für die nachträgliche Ausstrahlung klingen: Es gehe darum, "›Bürgern der DDR die Möglichkeit zu geben, sich davon zu überzeugen, dass sie von ihrer Regierung belogen worden seien‹". Das sei politische Einmischung und eigentlich ein Grund, "das Büro der ARD in der DDR sofort zu schließen", befand ein dem Politbüro vorliegendes Gutachten. Eine solche Reaktion könne aber die Regierungsbildung in Bonn und die Fortsetzung der Entspannungspolitik erschweren und sollte besser unterbleiben.
Gerade die authentische Information durch die ARD-Übertragung war für viele in der DDR das auslösende Moment, die Ausbürgerung zu verurteilen. Die Stasi hatte Mühe, die Vielzahl der offenen und heimlichen Protestaktionen und Solidaritätsbekundungen zu erfassen. Die Lage war ähnlich gespannt wie nach dem Einmarsch in die CSSR 1968. Nachdenklich musste es die SED-Führung machen, dass sich viele Systemloyale und selbst Parteimitglieder dem Protest angeschlossen, ihn in Einzelfällen initiiert hatten. Selbst die großen westeuropäischen Kommunistischen Parteien verurteilten den Ausbürgerungsbeschluss, der unwillkürlich an NS-Praktiken erinnerte.
Durch Einsatz ihrer machtpolitischen Mittel, insbesondere jahrelanges Auftrittsverbot, hatte es die SED-Führung bis dahin geschafft, Biermann zu einem in der DDR-Bevölkerung kaum bekannten Sänger werden zu lassen, dessen Name, so das Kalkül, mit der Ausbürgerung vollends in Vergessenheit geraten sollte. Die Fernsehübertragung und ihre Folgen hatten eindrucksvoll die gesellschaftliche Relevanz einer SED-unabhängigen Gegenöffentlichkeit gezeigt. Biermann wurde gleichsam über Nacht zum bekanntesten Liedermacher in der DDR.: Grenzen vermeintlich totaler Herrschaft.
Welche Resonanz ihre Entscheidungen in der Bundesrepublik auslösen könnten, wurde von der SED-Führung in der Regel mitbedacht, denn die elektronischen West-Medien wurden in der DDR breit rezipiert. So ist einer MfS-Information zu entnehmen, dass im September 76 eine Familie umgehend ihren Ausreiseantrag genehmigt bekam, weil Westverwandte schriftlich damit gedroht hatten, im Falle einer Ablehnung vor der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn eine Mauer mit Stacheldraht zu errichten, was naturgemäß über Funk und Fernsehen in der DDR bekannt geworden und breit diskutiert worden wäre.
Gerade die innerdeutschen Vereinbarungen zur Arbeit von Journalisten hatten die Funktion der West-Medien als Kontrapart zum SED-kontrollierten Verlautbarungsjournalismus wesentlich aufgewertet. Was im Lande geschah, darüber informierten nun auch die West-Korrespondenten direkt vor Ort. Zudem waren sie eine beliebte Anlaufstelle für Oppositionelle, die Manuskripte unkontrolliert über die Grenze schaffen wollten oder für zur Ausreise Entschlossene, die Beratung und Schutz suchten. Aus der Sicht der Stasi ein stetes Ärgernis über das sie immer wieder die politische Führung informierte und eine Art legaler Agententätigkeit, die sie von ihrer Spionageabwehr überwachen ließ, aber ein wichtiger Teil der innerdeutschen und KSZE-Vereinbarungen, die die DDR mit unterzeichnet hatte. So hielt die politische Kultur des Westens schrittweise Einzug in den Osten.
Eine willkommene Gelegenheit, sich unter den Genossen der Staats- und Parteiführung Respekt zu verschaffen, boten die Berichte des MfS aus der Wirtschaft. Gab es irgendwo folgenreiche Betriebsunfälle, so war die Stasi schnell mit Untersuchungsergebnissen zur Stelle und nannte die Schuldigen wie die Ursachen. Fast immer ging es um Leitungsdefizite oder menschliches Versagen. Mielke kostete es augenscheinlich aus, durch die zahlreichen IM in den Betrieben, vom MfS neutral als "Fachexperten" zitiert, oft besser informiert zu sein als die Verantwortlichen in der Regierung. Ähnlich einer Aufsichtsbehörde über den gesamten Staats- und Wirtschaftsapparat nervte Mielke in den Berichten unter anderen den Minister für Verkehr mit dem wiederholten Monitum, der Einsatz der Güterwagen bei der Deutschen Reichsbahn sei schlecht organisiert, in großem Umfang komme es zu Fehlleitungen leerer wie beladener Waggons. Was in den fünfziger Jahren in seltenen Fällen Folge von gezielten Sabotageakten der von West-Berlin aus operierenden "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" gewesen sein soll, war Mitte der siebziger, so lernt man aus den Berichten, offenbar ein alltägliches Problem. Das MfS machte in solchen Fällen oft Lösungsvorschläge, die im Ton eher wie Anweisungen daherkamen. Durchaus verständlich, dass einer der Hauptadressaten, Politbüromitglied Günter Mittag, sich in seinen Memoiren im Beschwerdeton über solches Wirken der Stasi äußerte. Dem historisch Interessierten heute aber geben die kritischen Berichte oft einen informativen Einblick in den Betriebsalltag und veranschaulichen, wie DDR-Wirtschaft funktionierte und worunter sie litt.
Auffällig oft macht die Stasi auf Probleme des Umweltschutzes aufmerksam. So waren nach einer "Havarie" im Motorradwerk große Mengen Kupfer-Cyanid in die Tschopau geflossen, so dass in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) z. T. Tankwagen zur Trinkwasserversorgung eingesetzt werden mussten. Das hatte wohl selbst Honecker nicht gewusst. Er setzte den Zwischenfall auf die Agenda der tags darauf stattfindenden Politbüro-Sitzung.
Im Atomkraftwerk Lubmin bei Greifswald hatte das MfS allein vom 1. Januar bis 31. Juli 1976 192 "betriebsgefährdende Vorkommnisse" registriert und war offenbar besser informiert als die offiziellen Inspektoren. In einem anderen Fall griff die politische Geheimpolizei selbst ins Betriebsgeschehen ein und bewahrte die DDR vor außenpolitischen Peinlichkeiten. Die SED hatte mit Vietnam vereinbart, kurzfristig dessen neue Währung zu drucken. Als Maschinenausfälle die Zusage gefährdeten, stellte das MfS eigene Arbeitskräfte zur Verfügung, beschaffte Maschinen und Ersatzteile in der Bundesrepublik und rettete so die Lieferung.
Hilfsleistungen wie diese entsprachen dem praktizierten Selbstverständnis des MfS als Staatsorgan, das für alles zuständig sei, was für das Funktionieren des Staates wichtig schien. Zudem hatten solche Berichte wohl auch den Zweck, den Genossen an der Spitze von Staat und Partei deutlich zu machen, dass die Stasi selbst in der Wirtschaft ein wichtiger Systemstabilisator sei.
Hätte die Stasi versucht, aufgrund ihrer vielen Informationen aus den Betrieben eine zusammenfassende Analyse der grundlegenden Missstände vorzulegen, ihr Urteil hätte ähnlich wie das von Rudolf Bahro lauten müssen, der in diesen Monaten damit befasst war, seine eigenen Erfahrungen zu Papier zu bringen und später von "organisierter Verantwortungslosigkeit" sprach. Das MfS aber suchte, absolut parteitreu, nicht nach systembedingten Ursachen und beschränkte sich auf die isolierte Analyse von Einzelfällen.
In einem für die Zukunft des Staates besonders wichtigen Fall machten die ZAIG-Offiziere im Sommer 1976 den Versuch gründlicher Ursachenforschung und erarbeiteten den mit 85 Seiten umfangreichsten Bericht dieses Jahres. Es ging darum, Wirksames dagegen zu unternehmen, dass seit der KSZE die Zahl der Ausreiseanträge stark anstieg. Untersucht wurden die Gründe, warum sich auffallend häufig Angehörige medizinischer Berufe entschieden, das Land für immer zu verlassen. Was die Stasi an Erkenntnissen zur Lage im Gesundheitswesen zusammengetragen hatte, liest sich wie die sachliche, aber drastische Schilderung eines katastrophalen Zustandes. Wer das las, musste eigentlich Verständnis haben für die Antragsteller.
Mielke aber gab den Bericht nicht weiter. Das hatte er bereits bei zwei früheren ZAIG-Informationen zur Ausreisebewegung so entschieden. Vermutlich wusste er, dass Honecker sich nicht mit dieser Problematik befassen wollte. Unter den 719 allein von ihm bestimmten Tagesordnungspunkten des Politbüros in diesem Jahr taucht sie nicht ein einziges Mal auf. Nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft sagte Honecker, er habe die Stasi-Berichte nicht zur Kenntnis genommen, weil sie inhaltlich denen der Westmedien über die DDR geähnelt hätten. Hätte er es getan, er hätte lernen können, dass gerade gut qualifizierte, junge Leute ausreisen wollten, selbst bisher Systemloyale und "gesellschaftlich" Engagierte. Auf wen konnte sich die SED da noch verlassen?
Als Seismograph für schleichenden Machtverlust der Partei hätte das MfS spätestens jetzt vor den gefährlichen Auswirkungen der Entspannungspolitik auf die DDR warnen müssen. Mielke aber blieb bei der von Honecker bekräftigten Wertung, sie sei eine vom Osten eingeleitete Politik der Stärke, die den Westen unter Anpassungsdruck setze. Gern zitierte Mielke den CSU-Vorsitzenden Strauß mit seinem Verdikt, wenn der Westen die Entspannungspolitik fortsetze, habe er den Dritten Weltkrieg bereits verloren, bevor er begonnen habe.
Mielke lag politische Eigeninitiative fern. Das Wichtigste blieb für ihn, die Politik der SED ohne jede Einschränkung aktiv zu unterstützen. Die Berichte an Honecker trugen affirmativen Charakter. Beratung aber hätte bedeutet, sich vom Vorhandenen ein Stück weit zu distanzieren und nach (noch) "Besserem" zu suchen. Das aber hätte Mielke offenbar bereits als einen Mangel an Loyalität empfunden. Dass die Macht im Staate gefährdet sei, hätte das MfS vermutlich erst gemeldet, wenn die SED-Führung dies als Ergebnis eigener Lageanalyse verkündet hätte. Die aber äußerte sich bis in den Oktober 1989 zuversichtlich, sie bewahren zu können. Zudem vertraute Mielke lange darauf, dass die bisherigen Mechanismen des Machterhalts zuverlässig funktionieren würden und letztlich auf die Unterstützung der Sowjetunion Verlass sei. Noch Ende Mai 1989 meldete er an Honecker, die oppositionellen Gruppen seien überschaubar und stünden "unter staatlicher und gesellschaftlicher Kontrolle". Kein Grund zur Beunruhigung also für den Parteichef.
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