Boll gewinnt die German Open (FAZ)
Boll gewinnt die German Open
Die gefährlichen Schnittwechsel des Abwehrspielers Hou Yingchao
Von Peter Hess, Bayreuth
Glücklicher 4:3-Sieg im Endspiel: Timo Boll13. November 2006 Bisher kämpfte Timo Boll gegen drei Chinesen um die Führung in der Weltrangliste. Wang Liqin, Ma Lin und Wang Hao bilden seit gut zwei Jahren die Troika, die eine Stufe über dem Kollektiv der etwa 50 Spieler umfassenden Nationalmannschaft der Tischtennis-Großmacht regiert. Sie werden in die Matches geschickt, wenn es ernst wird in den Teamwettbewerben bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften, sie werden in den Weltranglistenturnieren der Pro Tour strategisch so eingesetzt, daß es Boll möglichst schwerfällt, wieder die publicityträchtige Position eins zu übernehmen.
Seit ein paar Wochen muß der Weltranglistendritte aus Deutschland einen vierten Athleten aus dem Reich der Mitte beachten: Hou Yingchao. Am Sonntag spürte Boll im Finale der German Open in Bayreuth sieben Sätze lang, wie gefährlich ihm und dem Rest der Weltspitze der 24 Jahre alte Chinese werden kann. Dann hatte der 25 Jahre alte Hesse das Endspiel glücklich 4:3 gewonnen. Und seine spontane Reaktion nach dem Matchball signalisierte, wie schwer ihm der Sieg gefallen war: Boll ließ sich auf den Rücken fallen. Blieb einige Sekunden liegen und sprang dann noch mal hoch in die Luft, begleitet von den stehenden Ovationen des Bayreuther Publikums, das zahlreiche spektakuläre Ballwechsel miterlebt hatte. „Das war eines der besten Spiele meines Lebens“, sagte Boll später.
Variantenreiches Spiel
Schon vor dreieinhalb Jahren schien Hou auf dem Weg zur Weltspitze. Bis auf Rang 27 kletterte der Rechtshänder in der Tischtennis-Hierarchie. Aber dann verschwand er plötzlich. Aus disziplinarischen Gründen, hieß es. Er sagt dazu nur, er habe in dieser Zeit keine Chance bekommen: „Es gibt eben sehr viele starke Tischtennisspieler in China.“ Wie dem auch sei: Hou ist zurück und besser denn je, mit dem Talent von einst nicht mehr vergleichbar. Der Abwehrspieler hat sein Repertoire dermaßen erweitert, daß er zu den unangenehmsten Gegnern im Tischtennis-Zirkus zählt. Hou quält nicht das große Manko der meisten Verteidigungsstrategen, nur auf den Angreifer reagieren zu können. Die Hauptwaffe der konservativen Abwehrspieler ist der Schnittwechsel. Damit werden die Angreifer verleitet, den Ball mal ins Netz oder über die Tischkante hinauszuschlagen.
Aber es gilt: Je länger ein Match dauert und - erst recht - je häufiger ein Angreifer auf den Verteidiger trifft, desto besser kann er sich auf ihn einstellen, desto besser vermag er, dessen Schnittvarianten anhand der Bewegungsmuster zu „lesen“. Hou zieht sein Spiel so variantenreich auf, daß der Schnittwechsel nur eine Taktik darstellt - allerdings eine besonders schmerzvolle für die Widersacher. Im Moment kann kein anderer in der Weltspitze den Bällen mit der Rückhand so viel Unterschnitt mitgeben wie Hou. „Zoltan hat die Bälle reihenweise ins Netz geschlagen“, berichtete der deutsche Nationalspieler Torben Wosik von seinen Erfahrungen im Doppel mit Zoltan Fejer-Konnerth gegen Hou. „Und Hou hat den perfekten Hebel für Topspin“, fügte Wosik an.
Sichelförmige Bewegungen
Boll staunt über die "Zauberei" seines Gegners
„Es geht nur über die Vorhand“, gab Aleksandar Karakasevic seinem guten Bekannten Timo Boll als Ratschlag für das Finale mit. Hous Schnittbälle mit der Rückhand seien zu gefährlich, um die Initiative an sich reißen zu können. „Ich bin der einzige Spieler auf der Welt, der mit einem Belag mit kurzen Noppen diesen Unterschnitt fabriziert“, sagte Hou stolz. Eigentlich spricht die Eigenschaft dieses Belages dagegen, so viel Rückwärts-Rotation zu entwickeln. Wie er es schaffe, wurde der Chinese gefragt. „Jahrelanges Üben“, antwortete Hou mit einem Grinsen. „Zauberei“, widersprach ihm Boll.
Wie Zauberei wirkt auch Hous zweite Spezialität: der Sidespin. Mit sichelförmigen Bewegungen des Unterarms verleiht er dem Ball unglaublichen seitlichen Drall. Und das ist nicht alles: Sein Vorhand-Schmetterball und sein Vorhand-Topspin sind stärker als bei den besten Angreifern, und auch mit der Rückhand vermag der Chinese zu punkten.
„Die Führung psychologisch nicht gut verkraftet“
Diese Komplettheit macht ihn zu einem dauerhaft gefährlichen Abwehrspieler. Boll gibt zu: „Das Problem wird nicht kleiner, wenn ich häufiger gegen ihn spiele.“ In Bayreuth traf der Hesse schon zum dritten Mal innerhalb von vier Monaten auf den Asiaten. In der chinesischen Superliga unterlag er knapp, bei den China Open vermochte sich der Hesse knapp durchzusetzen, in Bayreuth stand es ebenfalls Spitz auf Knopf. „Ich habe die Führung psychologisch nicht gut verkraftet“, sagte Hou, der in der Champions League wie seine Landsleute Wang Hao und Chen Weixing für den SV Niederösterreich spielt. 3:1 hatte er nach Sätzen geführt, ehe Boll noch einmal aufdrehte.
Auch den chinesischen Verband hat Hou von der Langzeitwirkung seiner Fähigkeiten überzeugt. Die Nationaltrainer bauen ihn für die Zukunft auf. Während die anderen chinesischen Spitzenspieler sich zur Zeit auf die asiatischen Meisterschaften vorbereiten, darf Hou bei den europäischen Pro-Tour-Turnieren Weltranglistenpunkte sammeln. Nach seinen Triumphen bei den Russia Open vor einer Woche und der Finalteilnahme in Bayreuth ist er an die Top 20 herangerückt, sein Einstieg in die Top 10 scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. In Zukunft wird er nicht mehr in den ersten Runden eines Weltranglistenturniers auf einen seiner prominenten Landsleute treffen. Sein weiterer Aufstieg ist programmiert. Aber Hou ist anderes wichtiger: „Die Weltrangliste kümmert mich weniger. Mein großes Ziel ist es, bei Weltmeisterschaften für mein Land zu spielen.“ Das wird ihm gelingen, wenn die Nationaltrainer nicht wieder etwas an seiner Disziplin auszusetzen haben.
Text: F.A.Z., 13.11.2006, Nr. 264 / Seite 30
Die gefährlichen Schnittwechsel des Abwehrspielers Hou Yingchao
Von Peter Hess, Bayreuth
Glücklicher 4:3-Sieg im Endspiel: Timo Boll13. November 2006 Bisher kämpfte Timo Boll gegen drei Chinesen um die Führung in der Weltrangliste. Wang Liqin, Ma Lin und Wang Hao bilden seit gut zwei Jahren die Troika, die eine Stufe über dem Kollektiv der etwa 50 Spieler umfassenden Nationalmannschaft der Tischtennis-Großmacht regiert. Sie werden in die Matches geschickt, wenn es ernst wird in den Teamwettbewerben bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften, sie werden in den Weltranglistenturnieren der Pro Tour strategisch so eingesetzt, daß es Boll möglichst schwerfällt, wieder die publicityträchtige Position eins zu übernehmen.
Seit ein paar Wochen muß der Weltranglistendritte aus Deutschland einen vierten Athleten aus dem Reich der Mitte beachten: Hou Yingchao. Am Sonntag spürte Boll im Finale der German Open in Bayreuth sieben Sätze lang, wie gefährlich ihm und dem Rest der Weltspitze der 24 Jahre alte Chinese werden kann. Dann hatte der 25 Jahre alte Hesse das Endspiel glücklich 4:3 gewonnen. Und seine spontane Reaktion nach dem Matchball signalisierte, wie schwer ihm der Sieg gefallen war: Boll ließ sich auf den Rücken fallen. Blieb einige Sekunden liegen und sprang dann noch mal hoch in die Luft, begleitet von den stehenden Ovationen des Bayreuther Publikums, das zahlreiche spektakuläre Ballwechsel miterlebt hatte. „Das war eines der besten Spiele meines Lebens“, sagte Boll später.
Variantenreiches Spiel
Schon vor dreieinhalb Jahren schien Hou auf dem Weg zur Weltspitze. Bis auf Rang 27 kletterte der Rechtshänder in der Tischtennis-Hierarchie. Aber dann verschwand er plötzlich. Aus disziplinarischen Gründen, hieß es. Er sagt dazu nur, er habe in dieser Zeit keine Chance bekommen: „Es gibt eben sehr viele starke Tischtennisspieler in China.“ Wie dem auch sei: Hou ist zurück und besser denn je, mit dem Talent von einst nicht mehr vergleichbar. Der Abwehrspieler hat sein Repertoire dermaßen erweitert, daß er zu den unangenehmsten Gegnern im Tischtennis-Zirkus zählt. Hou quält nicht das große Manko der meisten Verteidigungsstrategen, nur auf den Angreifer reagieren zu können. Die Hauptwaffe der konservativen Abwehrspieler ist der Schnittwechsel. Damit werden die Angreifer verleitet, den Ball mal ins Netz oder über die Tischkante hinauszuschlagen.
Aber es gilt: Je länger ein Match dauert und - erst recht - je häufiger ein Angreifer auf den Verteidiger trifft, desto besser kann er sich auf ihn einstellen, desto besser vermag er, dessen Schnittvarianten anhand der Bewegungsmuster zu „lesen“. Hou zieht sein Spiel so variantenreich auf, daß der Schnittwechsel nur eine Taktik darstellt - allerdings eine besonders schmerzvolle für die Widersacher. Im Moment kann kein anderer in der Weltspitze den Bällen mit der Rückhand so viel Unterschnitt mitgeben wie Hou. „Zoltan hat die Bälle reihenweise ins Netz geschlagen“, berichtete der deutsche Nationalspieler Torben Wosik von seinen Erfahrungen im Doppel mit Zoltan Fejer-Konnerth gegen Hou. „Und Hou hat den perfekten Hebel für Topspin“, fügte Wosik an.
Sichelförmige Bewegungen
Boll staunt über die "Zauberei" seines Gegners
„Es geht nur über die Vorhand“, gab Aleksandar Karakasevic seinem guten Bekannten Timo Boll als Ratschlag für das Finale mit. Hous Schnittbälle mit der Rückhand seien zu gefährlich, um die Initiative an sich reißen zu können. „Ich bin der einzige Spieler auf der Welt, der mit einem Belag mit kurzen Noppen diesen Unterschnitt fabriziert“, sagte Hou stolz. Eigentlich spricht die Eigenschaft dieses Belages dagegen, so viel Rückwärts-Rotation zu entwickeln. Wie er es schaffe, wurde der Chinese gefragt. „Jahrelanges Üben“, antwortete Hou mit einem Grinsen. „Zauberei“, widersprach ihm Boll.
Wie Zauberei wirkt auch Hous zweite Spezialität: der Sidespin. Mit sichelförmigen Bewegungen des Unterarms verleiht er dem Ball unglaublichen seitlichen Drall. Und das ist nicht alles: Sein Vorhand-Schmetterball und sein Vorhand-Topspin sind stärker als bei den besten Angreifern, und auch mit der Rückhand vermag der Chinese zu punkten.
„Die Führung psychologisch nicht gut verkraftet“
Diese Komplettheit macht ihn zu einem dauerhaft gefährlichen Abwehrspieler. Boll gibt zu: „Das Problem wird nicht kleiner, wenn ich häufiger gegen ihn spiele.“ In Bayreuth traf der Hesse schon zum dritten Mal innerhalb von vier Monaten auf den Asiaten. In der chinesischen Superliga unterlag er knapp, bei den China Open vermochte sich der Hesse knapp durchzusetzen, in Bayreuth stand es ebenfalls Spitz auf Knopf. „Ich habe die Führung psychologisch nicht gut verkraftet“, sagte Hou, der in der Champions League wie seine Landsleute Wang Hao und Chen Weixing für den SV Niederösterreich spielt. 3:1 hatte er nach Sätzen geführt, ehe Boll noch einmal aufdrehte.
Auch den chinesischen Verband hat Hou von der Langzeitwirkung seiner Fähigkeiten überzeugt. Die Nationaltrainer bauen ihn für die Zukunft auf. Während die anderen chinesischen Spitzenspieler sich zur Zeit auf die asiatischen Meisterschaften vorbereiten, darf Hou bei den europäischen Pro-Tour-Turnieren Weltranglistenpunkte sammeln. Nach seinen Triumphen bei den Russia Open vor einer Woche und der Finalteilnahme in Bayreuth ist er an die Top 20 herangerückt, sein Einstieg in die Top 10 scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. In Zukunft wird er nicht mehr in den ersten Runden eines Weltranglistenturniers auf einen seiner prominenten Landsleute treffen. Sein weiterer Aufstieg ist programmiert. Aber Hou ist anderes wichtiger: „Die Weltrangliste kümmert mich weniger. Mein großes Ziel ist es, bei Weltmeisterschaften für mein Land zu spielen.“ Das wird ihm gelingen, wenn die Nationaltrainer nicht wieder etwas an seiner Disziplin auszusetzen haben.
Text: F.A.Z., 13.11.2006, Nr. 264 / Seite 30
0 Comments:
Post a Comment
<< Home