Kaputtes System (fr)
Kaputtes System
VON DIETMAR OSTERMANN (WASHINGTON)
Im Auge des Sturms ist es noch ruhig. Ein prachtvoller Indian Summer hat Washington erreicht, das Herbstlaub leuchtet, als habe jemand einen Farbkasten ausgekippt. Hinter den Marmorfassaden am Potomac herrscht hektische Nervosität, oft aber auch gähnende Leere. Die Abgeordneten sind in ihren Wahlbezirken, das Kapitol ist verwaist. Selbst der Präsident ist meist irgendwo im Land unterwegs. Oft reist er erstaunlich tief in den Süden oder weit in den Westen. Republikanische Hochburgen, die zweite Verteidigungslinie bei der Kongresswahl nächsten Dienstag. In den moderaten "Swing"-Bezirken kämpft seine Partei lieber ohne George W. Bush.
In Washington schaut man in die Glaskugel. Eine Zitterpartie. Ein Erdrutsch. Varianten werden durchgespielt. Medien, Diplomaten, Lobbyisten - jeder will wissen, wie es weitergeht. "Die Anspannung ist unglaublich", sagt ein Beamter der EU, "es ist nur eine Zwischenwahl. Aber alle haben das Gefühl, dass etwas mächtig in Bewegung geraten könnte. Keiner weiß genau wohin." Deshalb trifft sich die Stadt in den Think Tanks, den Tempeln der Weisheit, wo Washingtons graue Eminenzen den Kaffeesatz erklären.
In den Think Tanks
Thomas Mann und Norm Ornstein sind zwei der erfahrendsten und klügsten Beobachter. Beide kamen im Herbst 1969 hierher, mitten im Vietnam-Tumult. Bald darauf folgte Watergate. "Schlimmer geht's nicht", dachte Ornstein damals. Lügen, Machtmissbrauch, Intrigen - Amerikas politisches System war unter Richard Nixon zerbrochen. Heute arbeitet Ornstein beim konservativen American Enterprise Institute, Mann bei der zentristischen Denkfabrik Brookings. Gemeinsam haben sie ein Buch geschrieben: "The Broken Branch - How Congress is failing America". Das System, sagt Ornstein betrübt, sei heute "viel kaputter" als in den kaputten 70ern.
Das Duo, weder als besonders schrill noch parteiisch bekannt, soll bei Brookings die Wahlaussichten diskutieren. Stattdessen beklagen sie eine fundamentale Unwucht. "Diese Administration hat auf beispiellose Weise Macht angehäuft", sagt Mann, "das ist okay. Dafür haben die Gründerväter ja den Kongress als Gegengewicht entworfen. Aber diese Institution hat versagt. Das ist die Katastrophe." Sie reden sich in Rage. Arrogant, korrupt, untätig sei der Kongress - man ahnt, warum nur 16 Prozent der Amerikaner mit der Parlamentsarbeit zufrieden sind. Gerade 65 Tage hat das Repräsentantenhaus dieses Jahr gearbeitet. Viel mehr als ein Zaun für die mexikanische Grenze kam nicht heraus. Die republikanische Führung halte die Zügel nach zwölfjähriger Herrschaft im Kapitol straff. Debatten fänden kaum statt. Abgeordnete könnten Gesetze vor der Verabschiedung oft nicht mal lesen. Dann wieder werde drei Stunden und 57 Minuten lang abgestimmt - bis endlich eine Mehrheit steht."
Die Regeln werden routinemäßig gebrochen", klagt Thomas Mann. Als die Ethikkommission einstimmig den republikanischen Fraktionschef abmahnt, werden deren Mitglieder gefeuert. Wie kann, wer so gegängelt wird, die Regierung kontrollieren? "Der Kongress war in Sachen Irak nicht zu sehen. Die Republikaner hätten sich selbst geholfen, hätten sie härtere Fragen gestellt", schimpft Mann. Nicht, dass die Demokraten früher nicht auch dem Rausch der Macht erlegen wären oder sich in der Opposition mit Ruhm bekleckert hätten. Jetzt aber helfe nur ein Mehrheitswechsel, um die zerbrochene zweite Gewalt zu reparieren: "Es wird nicht leicht, es wird nicht schnell gehen, aber es ist ein notwendiger Anfang."
Auch Andrew Sullivan zählt zum Camp der Verbitterten und Enttäuschten. Der eingebürgerte Brite ist einer der erfolgreichsten Politblogger in der Hauptstadt, ein libertärer Querdenker und Vertreter dessen, was man in den USA den "Neuen Konservatismus" nennt. Will man seinen Blutdruck in die Höhe treiben, fragt man Sullivan nach Bush. Das kantige Kinn beginnt dann unruhig zu mahlen, der spöttische Mund spuckt Sätze wie: "Es ist die Pflicht eines jeden Konservativen, dieses Mal die Demokraten zu wählen." Nichts, aber auch gar nichts an dieser Regierung ist für Sullivan konservativ. Ein möglichst kleiner Staat, der vor allem individuelle Rechte garantiert und persönliche Verantwortung einfordert, das ist Sullivans konservatives Ideal. Und Bush? Hat nach immer mehr Macht gegriffen, Ausgaben raufgefahren, Bürokratie ausgebaut. Dann die Scheuklappen im Irak, das Leugnen der desaströsen Lage. "Das ist zutiefst unkonservativ", stöhnt Sullivan: "Ich glaube, dieser Präsident ist der größte Feind des Konservatismus seit langem."
Enttäuschte Konservative
Linke glauben daran, der Staat könne das Leben der Menschen verbessern. Konservative sind skeptisch. "Für uns ist jede staatliche Lösung nur ein neues Problem", sagt Sullivan. Konservativ sei es, Macht einzuhegen. Wie kann man da für Geheimgefängnisse, für Folter sein? Wer Sullivan zuhört, ahnt, wie sehr es im republikanischen Kessel brodelt. Der Beau von Washingtons neu-rechter Intelligenzija ist im konservativen Lager längst nicht der Einzige, der gegen Bush Front macht. Könnte eine Wahlniederlage am 7. November die republikanische Koalition zerreißen? "Es geht los", prophezeit Sullivan die innere Revolte. Enttäuscht sind unter dem Zelt der Grand Old Party längst viele, außer dem Unternehmerflügel und unerschütterliche Bush-Anbeter. Genau die sind für Sullivan das Problem: "Der Konservatismus muss sich von den Rockschößen der christlichen Fundamentalisten befreien."
Wie sehr sich die Zeiten gewandelt haben, erlebt auch Thomas Schaller. Nach der Wahlniederlage der Demokraten vor zwei Jahren ist der liberale Professor der Universität Maryland durchs Land gereist und hat politische Stimmungen studiert. Jetzt hat er ein Buch geschrieben, das seiner Partei den Weg aus der Opposition weisen soll. "Die Demokraten sind in Auflösung", lautet druckfrisch der erste Satz. Derzeit freilich wirken eher die Republikaner wie das Kaninchen vor der Urne. Die Demokraten können vor Kraft kaum laufen. "Der Irak-Effekt", sagt Schaller. Er merkt das an den Verkaufszahlen und den Gesprächen auf Cocktailpartys. Keiner will mehr etwas hören über die strukturellen Probleme der Opposition. Dabei sind die Demokraten nicht nur in der Irak-Frage zerstritten: "Eine Mehrheit der Amerikaner weiß nicht, wofür die Partei steht."
Der Professor empfiehlt, das Land wie einen Apfelbaum zu ernten. Die höchsten Früchte, den Süden, müsse man zunächst einfach abschreiben. Weder Al Gore noch John Kerry konnten bei den letzten Präsidentschaftswahlen in Old Dixie auch nur einen einzigen Bundesstaat gewinnen. Kulturell fremdartig sei die Region, gesellschaftlich rückständig. Konservativer, religiöser, militaristischer als der Rest des Landes. Statt sich dort anzubiedern, sollten die Demokraten ihr liberales Profil schärfen und anderswo nach Mehrheiten suchen.
"Go West!" rät Schaller. Im Industriegürtel rings um die Großen Seen, im boomenden Südwesten, selbst in den Cowboystaaten der Prärie seien kulturelle Hürden für Demokraten niedriger. Einzig das Waffenthema dürfe man dort nicht anrühren. Seine These sieht er durch Umfragen bestätigt: "Drei Viertel der möglichen Zugewinne der Demokraten sind außerhalb des Südens." Was ihm Bauchschmerzen bereitet, ist die sich ausbreitende Selbstzufriedenheit. Einen etwaigen Wahlsieg nächste Woche verdankten die Demokraten ja maßgeblich dem Sonderfaktor Kriegsfrust. Wenn sie ihre Hausaufgaben nicht erledigten, dann, warnt der Professor, "verlieren sie in zwei Jahren wieder die Präsidentschaftswahl".
VON DIETMAR OSTERMANN (WASHINGTON)
Im Auge des Sturms ist es noch ruhig. Ein prachtvoller Indian Summer hat Washington erreicht, das Herbstlaub leuchtet, als habe jemand einen Farbkasten ausgekippt. Hinter den Marmorfassaden am Potomac herrscht hektische Nervosität, oft aber auch gähnende Leere. Die Abgeordneten sind in ihren Wahlbezirken, das Kapitol ist verwaist. Selbst der Präsident ist meist irgendwo im Land unterwegs. Oft reist er erstaunlich tief in den Süden oder weit in den Westen. Republikanische Hochburgen, die zweite Verteidigungslinie bei der Kongresswahl nächsten Dienstag. In den moderaten "Swing"-Bezirken kämpft seine Partei lieber ohne George W. Bush.
In Washington schaut man in die Glaskugel. Eine Zitterpartie. Ein Erdrutsch. Varianten werden durchgespielt. Medien, Diplomaten, Lobbyisten - jeder will wissen, wie es weitergeht. "Die Anspannung ist unglaublich", sagt ein Beamter der EU, "es ist nur eine Zwischenwahl. Aber alle haben das Gefühl, dass etwas mächtig in Bewegung geraten könnte. Keiner weiß genau wohin." Deshalb trifft sich die Stadt in den Think Tanks, den Tempeln der Weisheit, wo Washingtons graue Eminenzen den Kaffeesatz erklären.
In den Think Tanks
Thomas Mann und Norm Ornstein sind zwei der erfahrendsten und klügsten Beobachter. Beide kamen im Herbst 1969 hierher, mitten im Vietnam-Tumult. Bald darauf folgte Watergate. "Schlimmer geht's nicht", dachte Ornstein damals. Lügen, Machtmissbrauch, Intrigen - Amerikas politisches System war unter Richard Nixon zerbrochen. Heute arbeitet Ornstein beim konservativen American Enterprise Institute, Mann bei der zentristischen Denkfabrik Brookings. Gemeinsam haben sie ein Buch geschrieben: "The Broken Branch - How Congress is failing America". Das System, sagt Ornstein betrübt, sei heute "viel kaputter" als in den kaputten 70ern.
Das Duo, weder als besonders schrill noch parteiisch bekannt, soll bei Brookings die Wahlaussichten diskutieren. Stattdessen beklagen sie eine fundamentale Unwucht. "Diese Administration hat auf beispiellose Weise Macht angehäuft", sagt Mann, "das ist okay. Dafür haben die Gründerväter ja den Kongress als Gegengewicht entworfen. Aber diese Institution hat versagt. Das ist die Katastrophe." Sie reden sich in Rage. Arrogant, korrupt, untätig sei der Kongress - man ahnt, warum nur 16 Prozent der Amerikaner mit der Parlamentsarbeit zufrieden sind. Gerade 65 Tage hat das Repräsentantenhaus dieses Jahr gearbeitet. Viel mehr als ein Zaun für die mexikanische Grenze kam nicht heraus. Die republikanische Führung halte die Zügel nach zwölfjähriger Herrschaft im Kapitol straff. Debatten fänden kaum statt. Abgeordnete könnten Gesetze vor der Verabschiedung oft nicht mal lesen. Dann wieder werde drei Stunden und 57 Minuten lang abgestimmt - bis endlich eine Mehrheit steht."
Die Regeln werden routinemäßig gebrochen", klagt Thomas Mann. Als die Ethikkommission einstimmig den republikanischen Fraktionschef abmahnt, werden deren Mitglieder gefeuert. Wie kann, wer so gegängelt wird, die Regierung kontrollieren? "Der Kongress war in Sachen Irak nicht zu sehen. Die Republikaner hätten sich selbst geholfen, hätten sie härtere Fragen gestellt", schimpft Mann. Nicht, dass die Demokraten früher nicht auch dem Rausch der Macht erlegen wären oder sich in der Opposition mit Ruhm bekleckert hätten. Jetzt aber helfe nur ein Mehrheitswechsel, um die zerbrochene zweite Gewalt zu reparieren: "Es wird nicht leicht, es wird nicht schnell gehen, aber es ist ein notwendiger Anfang."
Auch Andrew Sullivan zählt zum Camp der Verbitterten und Enttäuschten. Der eingebürgerte Brite ist einer der erfolgreichsten Politblogger in der Hauptstadt, ein libertärer Querdenker und Vertreter dessen, was man in den USA den "Neuen Konservatismus" nennt. Will man seinen Blutdruck in die Höhe treiben, fragt man Sullivan nach Bush. Das kantige Kinn beginnt dann unruhig zu mahlen, der spöttische Mund spuckt Sätze wie: "Es ist die Pflicht eines jeden Konservativen, dieses Mal die Demokraten zu wählen." Nichts, aber auch gar nichts an dieser Regierung ist für Sullivan konservativ. Ein möglichst kleiner Staat, der vor allem individuelle Rechte garantiert und persönliche Verantwortung einfordert, das ist Sullivans konservatives Ideal. Und Bush? Hat nach immer mehr Macht gegriffen, Ausgaben raufgefahren, Bürokratie ausgebaut. Dann die Scheuklappen im Irak, das Leugnen der desaströsen Lage. "Das ist zutiefst unkonservativ", stöhnt Sullivan: "Ich glaube, dieser Präsident ist der größte Feind des Konservatismus seit langem."
Enttäuschte Konservative
Linke glauben daran, der Staat könne das Leben der Menschen verbessern. Konservative sind skeptisch. "Für uns ist jede staatliche Lösung nur ein neues Problem", sagt Sullivan. Konservativ sei es, Macht einzuhegen. Wie kann man da für Geheimgefängnisse, für Folter sein? Wer Sullivan zuhört, ahnt, wie sehr es im republikanischen Kessel brodelt. Der Beau von Washingtons neu-rechter Intelligenzija ist im konservativen Lager längst nicht der Einzige, der gegen Bush Front macht. Könnte eine Wahlniederlage am 7. November die republikanische Koalition zerreißen? "Es geht los", prophezeit Sullivan die innere Revolte. Enttäuscht sind unter dem Zelt der Grand Old Party längst viele, außer dem Unternehmerflügel und unerschütterliche Bush-Anbeter. Genau die sind für Sullivan das Problem: "Der Konservatismus muss sich von den Rockschößen der christlichen Fundamentalisten befreien."
Wie sehr sich die Zeiten gewandelt haben, erlebt auch Thomas Schaller. Nach der Wahlniederlage der Demokraten vor zwei Jahren ist der liberale Professor der Universität Maryland durchs Land gereist und hat politische Stimmungen studiert. Jetzt hat er ein Buch geschrieben, das seiner Partei den Weg aus der Opposition weisen soll. "Die Demokraten sind in Auflösung", lautet druckfrisch der erste Satz. Derzeit freilich wirken eher die Republikaner wie das Kaninchen vor der Urne. Die Demokraten können vor Kraft kaum laufen. "Der Irak-Effekt", sagt Schaller. Er merkt das an den Verkaufszahlen und den Gesprächen auf Cocktailpartys. Keiner will mehr etwas hören über die strukturellen Probleme der Opposition. Dabei sind die Demokraten nicht nur in der Irak-Frage zerstritten: "Eine Mehrheit der Amerikaner weiß nicht, wofür die Partei steht."
Der Professor empfiehlt, das Land wie einen Apfelbaum zu ernten. Die höchsten Früchte, den Süden, müsse man zunächst einfach abschreiben. Weder Al Gore noch John Kerry konnten bei den letzten Präsidentschaftswahlen in Old Dixie auch nur einen einzigen Bundesstaat gewinnen. Kulturell fremdartig sei die Region, gesellschaftlich rückständig. Konservativer, religiöser, militaristischer als der Rest des Landes. Statt sich dort anzubiedern, sollten die Demokraten ihr liberales Profil schärfen und anderswo nach Mehrheiten suchen.
"Go West!" rät Schaller. Im Industriegürtel rings um die Großen Seen, im boomenden Südwesten, selbst in den Cowboystaaten der Prärie seien kulturelle Hürden für Demokraten niedriger. Einzig das Waffenthema dürfe man dort nicht anrühren. Seine These sieht er durch Umfragen bestätigt: "Drei Viertel der möglichen Zugewinne der Demokraten sind außerhalb des Südens." Was ihm Bauchschmerzen bereitet, ist die sich ausbreitende Selbstzufriedenheit. Einen etwaigen Wahlsieg nächste Woche verdankten die Demokraten ja maßgeblich dem Sonderfaktor Kriegsfrust. Wenn sie ihre Hausaufgaben nicht erledigten, dann, warnt der Professor, "verlieren sie in zwei Jahren wieder die Präsidentschaftswahl".
0 Comments:
Post a Comment
<< Home