Knaller an der Zeitungsfront

Monday, November 13, 2006

Wir durften nicht schweigen (Die Welt)

DDR-Vergangenheit
Wir durften nicht schweigen
Vor 30 Jahren wurde Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert. Rolf Schneider erinnert sich an den Protest führender DDR-Intellektueller gegen die Ausbürgerung.

Biermann gibt am 13. November ein Konzert in der Kölner Sporthalle, drei Tage später war er kein DDR-Bürger mehr

Am 16. November 1976, kurz vor 18 Uhr, erhielt ich einen Telefonanruf. Ein Bekannter aus Köln, Redakteur beim WDR, wollte von mir wissen, was ich zur Ausbürgerung Wolf Biermanns zu sagen hätte. Ich wusste nichts. Ich stammelte irgendwas, legte den Hörer auf und schaltete das Radio ein. Der Nachrichtensprecher teilte mit, dem zu einem Auftritt in Westdeutschland weilenden Sänger Wolf Biermann hätten Behörden der DDR seines Verhaltens wegen die Staatsbürgerschaft entzogen.

Ich telefonierte mit meinem Kollegen Stefan Heym. Er kannte die Nachricht, schien eher gelassen und wollte mich beruhigen. Ich rief meinen anderen Kollegen Stefan Hermlin an, damals Vizepräsident des Internationalen PEN. Sein Anschluss war besetzt und blieb es über den gesamten Abend. Ich beschloss, ihn am nächsten Morgen aufzusuchen.

Am 17. November erschien das SED-Zentralblatt "Neues Deutschland" mit einem Kommentar zu Biermann, verfasst vom stellvertretenden Chefredakteur Kerzscher, einem einstigen Jung-Nazi. "Um den Grad der Unverschämtheit dieses sogenannten Liedermachers zu ermessen, muss man sich vergegenwärtigen, auf welcher Bühne sich das alles abgespielt hat", hieß es. "Er verschwindet in der dunklen Masse der antikommunistischen Krakeeler." Solche Äußerungen verstärkten meine Erbitterung.

Die Hermlins bewohnten eine etwas heruntergekommene Villa im Berliner Bezirk Niederschönhausen. Die Haustür war wie üblich unverschlossen. In der Garderobe hängte ich meinen Mantel neben das dort lehnende Jagdgewehr. Ich betrat das Wohnzimmer, in dem bereits zahlreiche Besucher saßen: das Ehepaar Gerhard und Christa Wolf, Sarah Kirsch, Volker Braun, Günter Kunert (mit Ehefrau Marianne), Heiner Müller und auch Stefan Heym, dazu noch eine mir unbekannte Dame. Sie äußerte den gesamten Vormittag über kein Wort; später sagte mir Hermlin, dies sei Katja, Ehefrau des Westberliner Verlegers Klaus Wagenbach, der, da er außer Hermlin auch Biermann gedruckt hatte, selber in die DDR nicht einreisen durfte. Heym hatte einen Text formuliert, der in zwei Sätzen gegen Biermanns Ausbürgerung protestierte und die Rücknahme der Maßnahme verlangte. Hermlin hatte auch einen Text geschrieben, der den gleichen Inhalt unterbreitete, etwas ausführlicher. Wir einigten uns auf Hermlins Fassung, zu Heyms Verdruss. Volker Braun meinte, das von Hermlin verwendete Marx-Zitat entstamme nicht dem "Kapital", sondern dem "18. Brumaire". Hermlin schlug nach. Braun hatte Recht; unvorstellbar, wir hätten uns blamiert.

Die nicht anwesenden Franz Fühmann, Erich Arendt und Jurek Becker ließen telefonisch wissen, dass sie den Protest mittrügen, in welchem Wortlaut auch immer. Hermlin wünschte, sein krank zu Bett liegender Nachbar, der Bildhauer Fritz Cremer, solle zu den Signataren gehören. Er verließ das Haus, den Fiebernden zu besuchen. Wir anderen tranken derweil Tee, wir redeten durcheinander, lautstark, es herrschte eine fast euphorische Stimmung. Hermlin kehrte zurück und sagte, Cremer stimme zu, vorausgesetzt der Text würde gemildert. So geschah es, dass der letzte Satz nun verlangte, die Biermann betreffende Maßnahme nicht "zurückzunehmen", sondern "zu überdenken".

Es bestand Einigkeit, dass der Text auch an die westliche Öffentlichkeit gelangen sollte. Hermlin verfertigte auf seiner Schreibmaschine mehrere Exemplare, eines für jeden der Anwesenden, zwei für die Presse. Sein Automobil, sagte er, sei defekt. Ich bot mich für den Transport an. So fuhren Hermlin und ich, zunächst zur Zentralredaktion des "Neuen Deutschland". Hermlin stieg aus und betrat das Gebäude. Ich wartete. Der Pförtner hinter seiner Scheibe beäugte mich. Hermlin kehrte zurück, grandseigneurales Lächeln im Antlitz, er sagte, die Chefredaktion, bei der er aufgetreten, habe sich überrascht gezeigt und den Weitertransport des Textes verheißen. Er stieg wieder ein. Wir fuhren zur Französischen Botschaft Unter den Linden.

DDR-Vergangenheit
Wir durften nicht schweigen (2)

Der 17. November war laut Kalender Buß- und Bettag, in Westdeutschland arbeitsfrei, in der DDR nicht; schon von daher wäre es unsinnig gewesen, das Büro der Nachrichtenagentur dpa zu kontaktieren. Stattdessen besuchten wir den uns gut bekannten französischen Kulturattaché in seinem Büro. Hermlin überreichte unser Papier mit den wie nebenher gemurmelten Worten: "Voilà un petit texte..." Der Attaché las und war beeindruckt. Er versprach, das Papier an AFP weiterzureichen, vereinbart war eine Sperrfrist bis 18 Uhr.

Sie wurde nicht eingehalten. Gegen 17 Uhr vermeldeten Westberliner Radiosender unsere Aktion, was freilich nicht an den Franzosen lag, sondern daran, dass Stefan Heym, ohne unser Wissen, den Text der britischen Agentur Reuters zugespielt hatte. Am Abend war die Sache dann Spitzenmeldungen in der Tagesschau des westdeutschen Fernsehens.

Keiner von uns hatte das Ausmaß der Reaktionen bedacht. Sie bestanden zunächst darin, dass weitere Personen sich unserem Protest anschlossen, die Zahl schwoll täglich an, auf zuletzt um die hundert. Auch in studentischen Kreisen gab es Unterstützung. Spätestens jetzt befürchteten die DDR-Offiziellen eine drohende Massenbewegung, und so begann in den Medien des Landes eine Welle von Gegenerklärungen. Unser Protest wurde verurteilt, ohne ihn abzudrucken. Die Ausbürgerung Biermanns wurde verteidigt und gelobt. Die Formulierungen waren teils grobschlächtig, teils listig, teils voller Zynismen. Man unterstellte uns, dass wir uns beim Klassenfeind (gemeint war unser westdeutsches Publikum) anbiedern wollten. Unter denen, die sich äußerten, war Fritz Cremer, der sich so von seiner vorherigen Haltung distanzierte.

Die Motive der so genannten Erstunterzeichner (ein Papier mit Unterschriften hat nie existiert) waren unterschiedlichster Art. Die Maßnahme der DDR folgte dem unguten sowjetischen Muster des Umgangs mit Aleksander Solschenizyn. Eine von einem deutschen Staat vorgenommene Ausbürgerung war schon wegen vergleichbarer Aktionen Nazideutschlands (die auch Hermlin und Heym betroffen hatten) zusätzlich kontaminiert. Zudem galt sie hier dem Kind eines in Auschwitz ermordeten jüdischen Kommunisten. Es hatte mit Selbstachtung zu tun, dass man nicht schwieg.

Manche glaubten ernsthaft, die Petition bringe Biermann in die DDR zurück. Zudem schien das Land in einer Phase kultureller Liberalisierung befindlich, die jetzt bedroht war und verteidigt werden wollte. Heym brachte es für sich auf die Formel, das Ausbürgern dürfe sich nicht einbürgern.

Wir trafen uns noch einmal im Hause Hermlin, am 22. November. Aus Stasi-Unterlagen weiß ich, dass diesmal ein Spitzel zugegen war. Unsere ohnehin lose Gemeinschaft zerbrach dann bald, an Argwohn und an Egoismen. Einige hatten Kontakt zur Parteispitze. Einige bedauerten ihr Vorgehen halböffentlicher Form. Fast alle erlebten Repressionen. Viele Namenlose wurden inhaftiert, auch hier lag die Zahl um die hundert. Die SED-Mitglieder unter den Petenten erhielten Parteistrafen bis zum Ausschluss. Viele kehrten der DDR den Rücken und lebten fortan in der Bundesrepublik. Ein führender SED-Funktionär Berlins, Roland Müller, tat den Ausspruch: "Wir haben für jede Ratte eine Behandlung. Die eine streicheln wir, der anderen zeigen wir das Loch, aus dem sie gekommen ist." Keine Ratte bleibt unbehandelt.

DDR-Vergangenheit
Wir durften nicht schweigen (3)

Man hat die "Biermann-Affäre" den Anfang vom Ende der DDR genannt. Das greift zu hoch. "Keine DDR konnte kippen, weil sie irgendeinen Mann mit Gitarre ins deutschdeutsche Exil jagt", sagte Biermann selbst. Unser Text klang eher vorsichtig. Vergleichbares aber hatte es in der überwiegend friedhofsstillen DDR lange nicht gegeben; der Aufstand vom 17. Juni 1953 und die Intellektuellenrevolte drei Jahre später lagen weit zurück, nun bestand wieder die Gelegenheit, politischen Unmut öffentlich und massenhaft zu äußern. Doch die Ziele blieben diffus und, vor allem, beschränkt auf intellektuelle Milieus. Wenn manche der hernach vergraulten Künstler ihre Westemigration als Strafe begriffen, konnten Leute, die für sich selbst nichts dringlicher ersehnten als eine solche Übersiedlung, dies nicht nachvollziehen. Es war dieser ins Riesenhafte anschwellende Wunsch, der, neben anderem, 1989 die DDR zum Einsturz brachte.

Die DDR war von Beginn an ein Staat ohne Legitimation. Je länger sie existierte, desto mehr wurde sie auch zu einer Schädelstätte linker Illusionen, denen fast alle zwölf Erstunterzeichner der Petition, dazu Biermann, damals anhingen, irgendwie. Der Anfang vom Ende der DDR war der Anfang der DDR.

Rolf Schneider
geboren 1932 in Chemnitz. Seine Romane "Die Tage in W." (1965) und "Der Tod des Nibelungen" (1970) befassten sich mit der Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1976 schloss er sich der Resolution gegen die Biermann-Ausbürgerung an, 1979 wurde er aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen und arbeitete fortan als Dramaturg und Autor im Westen. Er lebt bei Berlin.
Artikel erschienen am 13.11.2006

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