Vertreibung aus dem Park (Berliner Zeitung)
Vertreibung aus dem Park
San Francisco will keine Obdachlosen mehr sehen, die die Grünanlagen verschandeln - und bietet Wohnungen an
Gunda Wöbken-Ekert
SAN FRANCISCO. Man könnte Jim Robinson den Chef der Obdachlosen im Golden Gate Park nennen. Zumindest ist der weißbärtige Hüne derjenige unter ihnen, der sich schon am längsten hier aufhält, und er wird entsprechend respektiert. Dreizehn Jahre hat Robinson nun in den Grünanlagen verbracht, die sich vom Herzen der Stadt bis an den Pazifik erstrecken, und er sieht überhaupt keinen Grund dafür, nicht auch das nächste Jahrzehnt hier zu leben.
Also ist er sauer heute, nachdem ihn Behördenmitarbeiter am Vormittag schon zum zweiten Mal aufgefordert haben, den Park zu verlassen und mitgeteilt haben, es sei von nun an ein Vergehen, sich über Nacht hier aufzuhalten. "Warum soll ich plötzlich kriminell sein?", fragt Robinson, "ich tue nichts Ungesetzliches. Ich entsorge meinen Abfall, sehe zu, dass ich auch sonst keinen Dreck hinterlasse. Und nun wollen sie mich in eine Unterkunft stecken, in die ich nicht mal meinen Hund mitbringen darf?"
Zielstrebiger Bürgermeister
Robinson und den geschätzten 200 anderen Menschen, die es sich zwischen den Büschen unter hohen Zypressen gemütlich gemacht haben, wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als ihre Rucksäcke zu packen. Und die Hoffnung, die viele von ihnen haben, sich in einigen Wochen wieder unbemerkt zurückschleichen zu können, wird sich wohl kaum erfüllen. Zumindest dann nicht, wenn San Franciscos Bürgermeister Gavin Newsom seinen Kurs fortsetzt. Es sieht nicht aus, als habe er vor, ihn zu ändern.
Bei seiner Vereidigung hatte Newsom es als eine seiner wichtigsten Aufgaben bezeichnet, die Obdachlosigkeit in der Stadt zu bekämpfen, die hier schlimmer war als in allen anderen Städten Amerikas. Allein in der wirtschaftlichen Krisenzeit zwischen 2000 und 2002 wuchs die Zahl der Menschen ohne Wohnung um ein Drittel auf mehr als 8 600 - etwa so viele wie in New York, das aber zehnmal so viele Einwohner wie San Francisco hat.
Newsom, seit 1992 Stadt- und Bezirksrat, beschäftigte sich von Beginn an mit Überlegungen, wie man die Menschen von den Straßen holen, ihnen Unterkunft und Versorgung anbieten und ihnen helfen könnte, irgendwann in das Leben der sogenannten normalen Gesellschaft zurückzukehren. Von der Politik der damaligen Stadtregierung hielt er nicht viel. Man war froh, wenn es möglichst wenig Ärger mit den Stadtstreichern gab. Und zahlte denen, die Anspruch darauf hatten - das war ein Drittel - jeden Monat über 400 Dollar aus, bar auf die Hand. Ansonsten ließ man sie tun, was sie wollten.
"Das soll sozial sein?" fragte Newsom. Der unabhängige Demokrat, der vor seiner politischen Karriere ein Vermögen als Geschäftsmann gemacht hatte, fand die Methode, sich des Problems durch Geld zu entledigen, höchst unsozial und belegte das mit Zahlen: Die Ignoranz kostete Leben. Jedes Jahr starben fast 200 Menschen auf der Straße, unbemerkt und unbetrauert. Schon im Kampf um das Bürgermeisteramt setzte er das Thema ganz oben auf die Liste. Obdachlosigkeit sei die Schande der Stadt, befand Newsom. Sie gehöre ein für allemal abgeschafft.
Die Bürger San Franciscos sahen das offensichtlich genauso. Im Januar 2004 wurde der damals 37-Jährige als 42. Bürgermeister der Stadt vereidigt. Der Politikwissenschaftler, dem man auch eine Karriere auf Bundesebene für die Demokraten zutraut, setzte als Bürgermeister seine Pläne zügig um. Bei der letzten Zählung Anfang 2005 wurden nur noch 6 248 Wohnungslose registriert, ein Rückgang um fast ein Drittel. Die Zahl derer, die tatsächlich auf der Straße lebten, hatte sich auf 2 655 reduziert, war also im Vergleich zu 2002 um über 40 Prozent gesunken.
"Care not Cash", heißt eine von Newsoms Devisen, "sich kümmern, statt zu zahlen". Den vollen Bargeldbetrag von 412 Dollar bekommen heute nur noch 350 Betroffene, den anderen werden 60 Dollar ausbezahlt. Damit müssen sie hinkommen. Doch im Gegenzug hat die Stadt seit 2004 für 1 600 von ihnen eine feste Unterkunft beschafft, in der sie versorgt werden, nicht nur mit Lebensmitteln, sondern mit jeder Art praktischer Hilfe. "Wir reden hier nicht von Unterkünften, in denen Obdachlose vorübergehend bleiben können. Die gibt es nach wie vor. Dort lebt der Rest von denen, die wir von der Straße geholt haben", sagt Jim Buick, Vizechef des Sozialdienstes in San Francisco, der für das Programm verantwortlich ist. "Hier reden wir von Appartements, in denen diese Leute unabhängig wohnen und versuchen, ins Leben zurückzukehren." Die meisten Zimmer hat die Stadt in Hotels in Bezirken angemietet, in denen sich die Obdachlosen nach wie vor am häufigsten aufhalten, in den Randgegenden um die Innenstadt und das Finanzviertel herum.
Bis Ende dieses Jahres, sagt Buick, wolle man über 2 000 Wohnungen anmieten. Finanziert wird das unter anderem mit dem Geld, das man bei den Barauszahlungen einspart. Praktische Hilfe bekommt Newsom nicht nur von Professionellen. Sein Projekt "Homeless Connect" spannt Freiwillige ein, die einen Tag im Monat mit einem Obdachlosen zum Arzt gehen, einkaufen oder ihm sonst helfen. Bisher haben fast 14 000 Bürger mitgearbeitet, 31 weitere amerikanische Städte haben das Programm jetzt übernommen.
Newsom hat eine Umfrage unter den Bewohnern San Franciscos gemacht, als er das Care not Cash-Programm entwickelte: "Die absolute Mehrheit hat mein Vorhaben unterstützt", sagt er, "die meisten haben aber gesagt, veröffentlichen Sie bloß nicht meinen Namen. Ihnen war es peinlich, die Obdachlosen durch finanziellen oder anderen Druck zu zwingen, in Wohnungen zu gehen."
Wahrscheinlich gibt es nicht wenige unter den Freiwilligen, die mit ihrem Dienst an den Stadtstreichern auch ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollen. San Francisco gilt als liberalste Stadt der USA, zumindest sehen das die Bürger selbst gern so. Leben und leben lassen, heißt das Motto, und dazu passt Zwang absolut nicht. Doch wahrscheinlich hat Newsom eine günstige Zeit erwischt. "Die Leute hatten es einfach satt, ständig über Obdachlose zu stolpern", sagt Buick. Die Toleranz ging soweit, dass sie brav weiträumig um Schlafsäcke herummarschierten, wenn der Besitzer das Territorium mit einem Pappschild als "Privatgrundstück" gekennzeichnet hatte und nur noch genervt wegsahen, wenn einer in die Büsche urinierte.
"In zehn Jahren wollen wir das Problem gelöst haben. Und wir sind offensichtlich auf einem guten Weg. Immer noch bekommen wir Anrufe von Leuten, die uns sagen, wie gut sie finden, was wir tun", sagt Buick. Doch es gibt auch Kritiker. Sie könne es nur lächerlich finden, dass eine der reichsten Städte der Welt es nötig habe, Obdachlosen das Einkommen wegzunehmen, um damit feste Unterkünfte zu finanzieren, sagt Jennifer Friedenbach von der Koalition für Obdachlose. "Das Grundproblem ist ein ganz anderes", sagt sie, "wir haben nicht genug Wohnungen, die von den Menschen bezahlt werden können. Und das liegt daran, dass die Regierung in Washington die staatliche Unterstützung für solche Wohnungen abgeschafft hat."
Gut sei, dass mit Newsom endlich jemand über das Problem rede, gesteht sie zu. Doch ehe man nicht die Gründe für die Obdachlosigkeit beseitige, werde es immer wieder Menschen ohne Wohnung geben.
Berliner Zeitung, 15.11.2006
San Francisco will keine Obdachlosen mehr sehen, die die Grünanlagen verschandeln - und bietet Wohnungen an
Gunda Wöbken-Ekert
SAN FRANCISCO. Man könnte Jim Robinson den Chef der Obdachlosen im Golden Gate Park nennen. Zumindest ist der weißbärtige Hüne derjenige unter ihnen, der sich schon am längsten hier aufhält, und er wird entsprechend respektiert. Dreizehn Jahre hat Robinson nun in den Grünanlagen verbracht, die sich vom Herzen der Stadt bis an den Pazifik erstrecken, und er sieht überhaupt keinen Grund dafür, nicht auch das nächste Jahrzehnt hier zu leben.
Also ist er sauer heute, nachdem ihn Behördenmitarbeiter am Vormittag schon zum zweiten Mal aufgefordert haben, den Park zu verlassen und mitgeteilt haben, es sei von nun an ein Vergehen, sich über Nacht hier aufzuhalten. "Warum soll ich plötzlich kriminell sein?", fragt Robinson, "ich tue nichts Ungesetzliches. Ich entsorge meinen Abfall, sehe zu, dass ich auch sonst keinen Dreck hinterlasse. Und nun wollen sie mich in eine Unterkunft stecken, in die ich nicht mal meinen Hund mitbringen darf?"
Zielstrebiger Bürgermeister
Robinson und den geschätzten 200 anderen Menschen, die es sich zwischen den Büschen unter hohen Zypressen gemütlich gemacht haben, wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als ihre Rucksäcke zu packen. Und die Hoffnung, die viele von ihnen haben, sich in einigen Wochen wieder unbemerkt zurückschleichen zu können, wird sich wohl kaum erfüllen. Zumindest dann nicht, wenn San Franciscos Bürgermeister Gavin Newsom seinen Kurs fortsetzt. Es sieht nicht aus, als habe er vor, ihn zu ändern.
Bei seiner Vereidigung hatte Newsom es als eine seiner wichtigsten Aufgaben bezeichnet, die Obdachlosigkeit in der Stadt zu bekämpfen, die hier schlimmer war als in allen anderen Städten Amerikas. Allein in der wirtschaftlichen Krisenzeit zwischen 2000 und 2002 wuchs die Zahl der Menschen ohne Wohnung um ein Drittel auf mehr als 8 600 - etwa so viele wie in New York, das aber zehnmal so viele Einwohner wie San Francisco hat.
Newsom, seit 1992 Stadt- und Bezirksrat, beschäftigte sich von Beginn an mit Überlegungen, wie man die Menschen von den Straßen holen, ihnen Unterkunft und Versorgung anbieten und ihnen helfen könnte, irgendwann in das Leben der sogenannten normalen Gesellschaft zurückzukehren. Von der Politik der damaligen Stadtregierung hielt er nicht viel. Man war froh, wenn es möglichst wenig Ärger mit den Stadtstreichern gab. Und zahlte denen, die Anspruch darauf hatten - das war ein Drittel - jeden Monat über 400 Dollar aus, bar auf die Hand. Ansonsten ließ man sie tun, was sie wollten.
"Das soll sozial sein?" fragte Newsom. Der unabhängige Demokrat, der vor seiner politischen Karriere ein Vermögen als Geschäftsmann gemacht hatte, fand die Methode, sich des Problems durch Geld zu entledigen, höchst unsozial und belegte das mit Zahlen: Die Ignoranz kostete Leben. Jedes Jahr starben fast 200 Menschen auf der Straße, unbemerkt und unbetrauert. Schon im Kampf um das Bürgermeisteramt setzte er das Thema ganz oben auf die Liste. Obdachlosigkeit sei die Schande der Stadt, befand Newsom. Sie gehöre ein für allemal abgeschafft.
Die Bürger San Franciscos sahen das offensichtlich genauso. Im Januar 2004 wurde der damals 37-Jährige als 42. Bürgermeister der Stadt vereidigt. Der Politikwissenschaftler, dem man auch eine Karriere auf Bundesebene für die Demokraten zutraut, setzte als Bürgermeister seine Pläne zügig um. Bei der letzten Zählung Anfang 2005 wurden nur noch 6 248 Wohnungslose registriert, ein Rückgang um fast ein Drittel. Die Zahl derer, die tatsächlich auf der Straße lebten, hatte sich auf 2 655 reduziert, war also im Vergleich zu 2002 um über 40 Prozent gesunken.
"Care not Cash", heißt eine von Newsoms Devisen, "sich kümmern, statt zu zahlen". Den vollen Bargeldbetrag von 412 Dollar bekommen heute nur noch 350 Betroffene, den anderen werden 60 Dollar ausbezahlt. Damit müssen sie hinkommen. Doch im Gegenzug hat die Stadt seit 2004 für 1 600 von ihnen eine feste Unterkunft beschafft, in der sie versorgt werden, nicht nur mit Lebensmitteln, sondern mit jeder Art praktischer Hilfe. "Wir reden hier nicht von Unterkünften, in denen Obdachlose vorübergehend bleiben können. Die gibt es nach wie vor. Dort lebt der Rest von denen, die wir von der Straße geholt haben", sagt Jim Buick, Vizechef des Sozialdienstes in San Francisco, der für das Programm verantwortlich ist. "Hier reden wir von Appartements, in denen diese Leute unabhängig wohnen und versuchen, ins Leben zurückzukehren." Die meisten Zimmer hat die Stadt in Hotels in Bezirken angemietet, in denen sich die Obdachlosen nach wie vor am häufigsten aufhalten, in den Randgegenden um die Innenstadt und das Finanzviertel herum.
Bis Ende dieses Jahres, sagt Buick, wolle man über 2 000 Wohnungen anmieten. Finanziert wird das unter anderem mit dem Geld, das man bei den Barauszahlungen einspart. Praktische Hilfe bekommt Newsom nicht nur von Professionellen. Sein Projekt "Homeless Connect" spannt Freiwillige ein, die einen Tag im Monat mit einem Obdachlosen zum Arzt gehen, einkaufen oder ihm sonst helfen. Bisher haben fast 14 000 Bürger mitgearbeitet, 31 weitere amerikanische Städte haben das Programm jetzt übernommen.
Newsom hat eine Umfrage unter den Bewohnern San Franciscos gemacht, als er das Care not Cash-Programm entwickelte: "Die absolute Mehrheit hat mein Vorhaben unterstützt", sagt er, "die meisten haben aber gesagt, veröffentlichen Sie bloß nicht meinen Namen. Ihnen war es peinlich, die Obdachlosen durch finanziellen oder anderen Druck zu zwingen, in Wohnungen zu gehen."
Wahrscheinlich gibt es nicht wenige unter den Freiwilligen, die mit ihrem Dienst an den Stadtstreichern auch ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollen. San Francisco gilt als liberalste Stadt der USA, zumindest sehen das die Bürger selbst gern so. Leben und leben lassen, heißt das Motto, und dazu passt Zwang absolut nicht. Doch wahrscheinlich hat Newsom eine günstige Zeit erwischt. "Die Leute hatten es einfach satt, ständig über Obdachlose zu stolpern", sagt Buick. Die Toleranz ging soweit, dass sie brav weiträumig um Schlafsäcke herummarschierten, wenn der Besitzer das Territorium mit einem Pappschild als "Privatgrundstück" gekennzeichnet hatte und nur noch genervt wegsahen, wenn einer in die Büsche urinierte.
"In zehn Jahren wollen wir das Problem gelöst haben. Und wir sind offensichtlich auf einem guten Weg. Immer noch bekommen wir Anrufe von Leuten, die uns sagen, wie gut sie finden, was wir tun", sagt Buick. Doch es gibt auch Kritiker. Sie könne es nur lächerlich finden, dass eine der reichsten Städte der Welt es nötig habe, Obdachlosen das Einkommen wegzunehmen, um damit feste Unterkünfte zu finanzieren, sagt Jennifer Friedenbach von der Koalition für Obdachlose. "Das Grundproblem ist ein ganz anderes", sagt sie, "wir haben nicht genug Wohnungen, die von den Menschen bezahlt werden können. Und das liegt daran, dass die Regierung in Washington die staatliche Unterstützung für solche Wohnungen abgeschafft hat."
Gut sei, dass mit Newsom endlich jemand über das Problem rede, gesteht sie zu. Doch ehe man nicht die Gründe für die Obdachlosigkeit beseitige, werde es immer wieder Menschen ohne Wohnung geben.
Berliner Zeitung, 15.11.2006
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