Die Genialität des Ferenc Puskas (Welt)
Fussball
Die Genialität des Ferenc Puskas
Der Fußballer bescherte den Ungarn Hoffnung und Glücksmomente. Puskás war eins mit dem Ball, ein Wirbelwind - und kein Mann des Friedens. Der ungarische Schriftsteller Peter Esterhazy würdigt den am Freitag gestorbenen Nationalhelden.
Von Peter Esterhazy
Als ich mich kürzlich im Friedhof von Friedenau anstellte, um an der Urne des Lyrikers Oskar Pastior Abschied zu nehmen, fühlte ich keine Trauer, ich dachte vielmehr mit der an ihm beobachteten (von ihm erlernten?) Heiterkeit an seine Bücher, an die Vollständigkeit, die er hinterlassen hat, an sein feines, leises und konsequentes Lachen. Knapp vor mir trat W. an die Urne, er verharrte, nahm vom Sand, um ihn hinzustreuen, und da verzerrte auf einmal schmerzhaftes, hoffnungsloses Entsetzen sein Gesicht, bis zum Verkrampfen seiner Gesichtsmuskeln, so dass auch ich bestürzt erkannte, wo ich überhaupt war, was hier eigentlich ablief.
So geht es mir jetzt auch mit Puskas. Ich wusste, dass er seit langem schwer krank war, und die Spitalsberichte der letzten Tage deuteten klar auf das hin, was jetzt eingetreten ist. Das große und vollständige Leben eines großen Menschen ist zu Ende gegangen. Auch sein Leiden hat ein Ende. Die Ungarn betrachten sich gern als ewige Verlierer, als Opfer, als die Leidtragenden der Geschichte; einmal überfallen die Türken unser verwaistes Land, ein anderes Mal die Kommunisten, und wieder ein anderes Mal lässt uns der Westen im Stich. Im Grunde genommen gibt es nur zwei Ausnahmen, König Mathias Corvinus (15. Jahrhundert) und Ferenc Puskas. Er war für uns Ungarn wie der Garant einer Parallelwelt, in der Gerechtigkeit herrscht, wo bei Abseits gepfiffen wird und uns alle offensichtlichen Elfmeter gegeben werden; er war wie der jüngste Königssohn im Märchen, dem - an unserer Statt - alles gelingt. (Fast alles, dieses "fast" aber, wie er sich aus der unergründlichen Tiefe des Entscheidungsspiels 1954 wieder in höchste Höhen erhob, das macht diese Größe nicht nur größer, sondern auch wahrhaftiger.)
Dadurch, dass man in Ungarn nach 1956 kaum von ihm sprechen durfte (ein wenig in der Art, wie man auch von der 1956-er Revolution nicht sprechen durfte), dadurch war er uns zugleich sehr nahe und sehr fern. Wie es eben einer Legende geziemt. Schon im Leben hatte er etwas Wundersames an sich, etwas Überirdisches, wie gesagt, eine märchenhafte Größe, der in wundersamer Weise wir alle und das ganze Land teilhaftig wurden. So konnte er mehr sein als ein ausgezeichneter Fußballspieler, so konnte er ein Symbol werden. Auch deshalb schrieb ich oft über ihn, oft und gern, und den Moment, in dem ich ihn persönlich kennen lernen durfte, zähle ich ohne jegliche literarische oder anekdotische Übertreibung zu den großen Momenten meines Lebens. Gleichwohl würde ich diesen Augenblick kaum wahrhaftig nennen.
Puskas ist also der, mit dem etwas aus der Welt schwindet, anders wird, sich verändert, nicht mehr so ist wie vordem, und auch nie wieder so sein wird. Wird dieses Jahrhundert nicht überhaupt vom Verlust der Unschuld gekennzeichnet? Und vom Verwerfen sämtlicher Schranken bei gleichzeitiger Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Existenz? Ich spreche zugleich (ich weiß, ich weiß, ich "spreche" nur) von den Naturwissenschaften, die die Natur besiegen, jedenfalls aber voll und ganz erkennen wollen, von Gödel, der auf die theoretischen Schranken der Mathematik hinweist, vom totalen Krieg und von Heisenbergs Unschärfe-Relation, von Auschwitz, vom Loch in der Geschichte, das einen unvermeidlichen Teil der Geschichte darstellt, und von der Lichtgeschwindigkeit, von der es sich erwiesen hat, von der wir bewiesen haben, daß wir sie niemals erreichen können. Armer Puskas.
Die Genialität des Ferenc Puskas (2)
Puskas teilte Heisenbergs Ansicht nicht, er wusste stets Bescheid über den Ort, wo sich der Ball befand, ja, auch über seine Geschwindigkeit (allerdings findet Fußball in der Welt Euklids statt, in der die Summe der Torstangenwinkel immer 180 Grad beträgt).
Ich konnte ihn nicht mehr spielen sehen, nur einmal, im Jahr 1981, sozusagen post festa, als er das erste Mal nach 1956 wieder ungarischen Boden betrat und man für ihn im Nepstadion ein Galamatch veranstaltet hatte. Das "System" hat ihm sozusagen verziehen, dass sein großer Sohn ihm 1956 den Rücken kehrte, es freute sich, dass es von Puskás legitimiert wurde, ich erinnere mich an etliche verkommene kadaristische Sätze, die, der Beschaffenheit des Systems entsprechend, etwas und zugleich nichts aussagten.
Puskas war damals schon 54, mit einem ungeheueren Bauch, eigentlich die Parodie seines Selbst, man könnte sagen, auf diese übergewichtige Art zeitgemäß, was, das Parodistische nämlich, von der Nostalgie der 100.000 Menschen auch gar nicht verhüllt wurde, denn es handelte sich bereits um die nüchterne oder ironische Nostalgie der achtziger Jahre, eine Mischung aus Bewunderung und Spöttelei.
Als aber Puskas einmal mit seinem gewissen legendären Linken den Außenstürmer in einer Weise losschickte, dass dabei der Ball nach einer Flugbahn von 40 Metern die Frisur des Verteidigers streifend hinter diesem aufkam, und zwar so, dass der Stürmer gerade in dem Moment einlief, sich mit diesem Laufschritt bereits den uneinholbaren Vorsprung sicherte, da hielten 100.000 müde Menschen den Atem an: die menschliche Genialität offenbarte sich vor ihren Augen wie ein Engel. (Diese langen Pässe können erfolgreich trainiert werden, je öfter, umso besser beherrscht man sie. Ich, der talentierte Kleinfußballer, habe das an Ort und Stelle erfasst, ich würde ungefähr 357 Jahre Übung brauchen, um das zu können.)
Genialität ist nicht identisch mit herausragenden Fähigkeiten. Czibor dribbelte unergründlicher, Kocsis köpfelte besser als sonst jemand auf der Welt, der ebenfalls geniale Bozsik war verlässlicher, Budai schneller, Lorant positionsgemäß härter, überhaupt, der rechte Fuß Puskas' war ausschließlich vom menschlichen Gesichtspunkt aus bewertbar, vom fachlichen her nicht. Sein Genius lag in seiner Fähigkeit, sich mit dem Spiel zu identifizieren, er war eins damit, das heißt, er bestimmte die Welt (ich spreche vom Rechteck des Platzes), an sich der moderne Traum, nicht wahr?, und wählte nicht aus den von der Welt vorgegebenen, vorbestimmten Möglichkeiten das Beste aus. Das ist das Zeitlose an ihm. Puskas schuf die Einheit der Person und der Gemeinschaft, ohne die er, die Person, nicht hätte existieren können. Nicht als ob er eine angenehme Persönlichkeit gewesen wäre, er zankte, stritt und dirigierte fortwährend. Ein Wichtigtuer, kein Mann des Friedens. Ein Wirbelwind, sagten seine Zeitgenossen über ihn.
Aber: er musste nicht bedient werden, er diente und lenkte zugleich. Er unterwarf sich dem, was er geschaffen hatte. Er war eins mit dem Ball. Darüber gibt es zahlreiche Anekdoten. Als bei einem Training ein Kind den vom Platz gerollten Ball mit der Hand zurückwarf, brach er angeblich in Tränen aus. Er schluchzte: "Mit der Hand! Habt ihr das gesehen, er hat den Ball mit der Hand angefasst!"
Fussball
Die Genialität des Ferenc Puskas (3)
Heute Vormittag läutete mein Telefon, ein ehemaliger Fußballergefährte rief mich an, mit dem ich vor etwa 35 Jahren in jener legendär gemachten vierten Klasse gespielt hatte, ich sah ihn seitdem vielleicht ein einziges Mal. Er ist gestorben, sagte er, und es war klar, an wen er gedacht hatte. Seiner Stimme war anzumerken, dass er am Rand des Weinens stand. Ich hörte ihm gereizt zu, mir waren gerade so schöne Gedanken in den Sinn gekommen. So ist also nichts mehr geblieben, sagte er und brach tatsächlich in Weinen aus, als hätte jemand den Ball mit der Hand angefasst. Ich traute mich nicht, auch nur irgend etwas zu sagen, ich dachte an W’s Gesicht im Friedhof von Friedenau.
Legenden sterben nicht, dieser Gemeinplatz fiel mir ein, als Trost. Wir, die anderen, wir sterben.
Übersetzung aus dem Ungarischen: György Buda
Artikel erschienen am 17.11.2006
Die Genialität des Ferenc Puskas
Der Fußballer bescherte den Ungarn Hoffnung und Glücksmomente. Puskás war eins mit dem Ball, ein Wirbelwind - und kein Mann des Friedens. Der ungarische Schriftsteller Peter Esterhazy würdigt den am Freitag gestorbenen Nationalhelden.
Von Peter Esterhazy
Als ich mich kürzlich im Friedhof von Friedenau anstellte, um an der Urne des Lyrikers Oskar Pastior Abschied zu nehmen, fühlte ich keine Trauer, ich dachte vielmehr mit der an ihm beobachteten (von ihm erlernten?) Heiterkeit an seine Bücher, an die Vollständigkeit, die er hinterlassen hat, an sein feines, leises und konsequentes Lachen. Knapp vor mir trat W. an die Urne, er verharrte, nahm vom Sand, um ihn hinzustreuen, und da verzerrte auf einmal schmerzhaftes, hoffnungsloses Entsetzen sein Gesicht, bis zum Verkrampfen seiner Gesichtsmuskeln, so dass auch ich bestürzt erkannte, wo ich überhaupt war, was hier eigentlich ablief.
So geht es mir jetzt auch mit Puskas. Ich wusste, dass er seit langem schwer krank war, und die Spitalsberichte der letzten Tage deuteten klar auf das hin, was jetzt eingetreten ist. Das große und vollständige Leben eines großen Menschen ist zu Ende gegangen. Auch sein Leiden hat ein Ende. Die Ungarn betrachten sich gern als ewige Verlierer, als Opfer, als die Leidtragenden der Geschichte; einmal überfallen die Türken unser verwaistes Land, ein anderes Mal die Kommunisten, und wieder ein anderes Mal lässt uns der Westen im Stich. Im Grunde genommen gibt es nur zwei Ausnahmen, König Mathias Corvinus (15. Jahrhundert) und Ferenc Puskas. Er war für uns Ungarn wie der Garant einer Parallelwelt, in der Gerechtigkeit herrscht, wo bei Abseits gepfiffen wird und uns alle offensichtlichen Elfmeter gegeben werden; er war wie der jüngste Königssohn im Märchen, dem - an unserer Statt - alles gelingt. (Fast alles, dieses "fast" aber, wie er sich aus der unergründlichen Tiefe des Entscheidungsspiels 1954 wieder in höchste Höhen erhob, das macht diese Größe nicht nur größer, sondern auch wahrhaftiger.)
Dadurch, dass man in Ungarn nach 1956 kaum von ihm sprechen durfte (ein wenig in der Art, wie man auch von der 1956-er Revolution nicht sprechen durfte), dadurch war er uns zugleich sehr nahe und sehr fern. Wie es eben einer Legende geziemt. Schon im Leben hatte er etwas Wundersames an sich, etwas Überirdisches, wie gesagt, eine märchenhafte Größe, der in wundersamer Weise wir alle und das ganze Land teilhaftig wurden. So konnte er mehr sein als ein ausgezeichneter Fußballspieler, so konnte er ein Symbol werden. Auch deshalb schrieb ich oft über ihn, oft und gern, und den Moment, in dem ich ihn persönlich kennen lernen durfte, zähle ich ohne jegliche literarische oder anekdotische Übertreibung zu den großen Momenten meines Lebens. Gleichwohl würde ich diesen Augenblick kaum wahrhaftig nennen.
Puskas ist also der, mit dem etwas aus der Welt schwindet, anders wird, sich verändert, nicht mehr so ist wie vordem, und auch nie wieder so sein wird. Wird dieses Jahrhundert nicht überhaupt vom Verlust der Unschuld gekennzeichnet? Und vom Verwerfen sämtlicher Schranken bei gleichzeitiger Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Existenz? Ich spreche zugleich (ich weiß, ich weiß, ich "spreche" nur) von den Naturwissenschaften, die die Natur besiegen, jedenfalls aber voll und ganz erkennen wollen, von Gödel, der auf die theoretischen Schranken der Mathematik hinweist, vom totalen Krieg und von Heisenbergs Unschärfe-Relation, von Auschwitz, vom Loch in der Geschichte, das einen unvermeidlichen Teil der Geschichte darstellt, und von der Lichtgeschwindigkeit, von der es sich erwiesen hat, von der wir bewiesen haben, daß wir sie niemals erreichen können. Armer Puskas.
Die Genialität des Ferenc Puskas (2)
Puskas teilte Heisenbergs Ansicht nicht, er wusste stets Bescheid über den Ort, wo sich der Ball befand, ja, auch über seine Geschwindigkeit (allerdings findet Fußball in der Welt Euklids statt, in der die Summe der Torstangenwinkel immer 180 Grad beträgt).
Ich konnte ihn nicht mehr spielen sehen, nur einmal, im Jahr 1981, sozusagen post festa, als er das erste Mal nach 1956 wieder ungarischen Boden betrat und man für ihn im Nepstadion ein Galamatch veranstaltet hatte. Das "System" hat ihm sozusagen verziehen, dass sein großer Sohn ihm 1956 den Rücken kehrte, es freute sich, dass es von Puskás legitimiert wurde, ich erinnere mich an etliche verkommene kadaristische Sätze, die, der Beschaffenheit des Systems entsprechend, etwas und zugleich nichts aussagten.
Puskas war damals schon 54, mit einem ungeheueren Bauch, eigentlich die Parodie seines Selbst, man könnte sagen, auf diese übergewichtige Art zeitgemäß, was, das Parodistische nämlich, von der Nostalgie der 100.000 Menschen auch gar nicht verhüllt wurde, denn es handelte sich bereits um die nüchterne oder ironische Nostalgie der achtziger Jahre, eine Mischung aus Bewunderung und Spöttelei.
Als aber Puskas einmal mit seinem gewissen legendären Linken den Außenstürmer in einer Weise losschickte, dass dabei der Ball nach einer Flugbahn von 40 Metern die Frisur des Verteidigers streifend hinter diesem aufkam, und zwar so, dass der Stürmer gerade in dem Moment einlief, sich mit diesem Laufschritt bereits den uneinholbaren Vorsprung sicherte, da hielten 100.000 müde Menschen den Atem an: die menschliche Genialität offenbarte sich vor ihren Augen wie ein Engel. (Diese langen Pässe können erfolgreich trainiert werden, je öfter, umso besser beherrscht man sie. Ich, der talentierte Kleinfußballer, habe das an Ort und Stelle erfasst, ich würde ungefähr 357 Jahre Übung brauchen, um das zu können.)
Genialität ist nicht identisch mit herausragenden Fähigkeiten. Czibor dribbelte unergründlicher, Kocsis köpfelte besser als sonst jemand auf der Welt, der ebenfalls geniale Bozsik war verlässlicher, Budai schneller, Lorant positionsgemäß härter, überhaupt, der rechte Fuß Puskas' war ausschließlich vom menschlichen Gesichtspunkt aus bewertbar, vom fachlichen her nicht. Sein Genius lag in seiner Fähigkeit, sich mit dem Spiel zu identifizieren, er war eins damit, das heißt, er bestimmte die Welt (ich spreche vom Rechteck des Platzes), an sich der moderne Traum, nicht wahr?, und wählte nicht aus den von der Welt vorgegebenen, vorbestimmten Möglichkeiten das Beste aus. Das ist das Zeitlose an ihm. Puskas schuf die Einheit der Person und der Gemeinschaft, ohne die er, die Person, nicht hätte existieren können. Nicht als ob er eine angenehme Persönlichkeit gewesen wäre, er zankte, stritt und dirigierte fortwährend. Ein Wichtigtuer, kein Mann des Friedens. Ein Wirbelwind, sagten seine Zeitgenossen über ihn.
Aber: er musste nicht bedient werden, er diente und lenkte zugleich. Er unterwarf sich dem, was er geschaffen hatte. Er war eins mit dem Ball. Darüber gibt es zahlreiche Anekdoten. Als bei einem Training ein Kind den vom Platz gerollten Ball mit der Hand zurückwarf, brach er angeblich in Tränen aus. Er schluchzte: "Mit der Hand! Habt ihr das gesehen, er hat den Ball mit der Hand angefasst!"
Fussball
Die Genialität des Ferenc Puskas (3)
Heute Vormittag läutete mein Telefon, ein ehemaliger Fußballergefährte rief mich an, mit dem ich vor etwa 35 Jahren in jener legendär gemachten vierten Klasse gespielt hatte, ich sah ihn seitdem vielleicht ein einziges Mal. Er ist gestorben, sagte er, und es war klar, an wen er gedacht hatte. Seiner Stimme war anzumerken, dass er am Rand des Weinens stand. Ich hörte ihm gereizt zu, mir waren gerade so schöne Gedanken in den Sinn gekommen. So ist also nichts mehr geblieben, sagte er und brach tatsächlich in Weinen aus, als hätte jemand den Ball mit der Hand angefasst. Ich traute mich nicht, auch nur irgend etwas zu sagen, ich dachte an W’s Gesicht im Friedhof von Friedenau.
Legenden sterben nicht, dieser Gemeinplatz fiel mir ein, als Trost. Wir, die anderen, wir sterben.
Übersetzung aus dem Ungarischen: György Buda
Artikel erschienen am 17.11.2006
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