Knaller an der Zeitungsfront

Tuesday, October 14, 2008

In den Mülleimern des Kapitalismus (FAZ)

Containerer
In den Mülleimern des Kapitalismus
Von Jochen Stahnke
DruckenVersendenSpeichernVorherige Seite


Hauke wühlt nachts in Abfalltonnen, um nach Lebensmitteln zu suchen

13. Oktober 2008 Ausgerechnet Butter zieht Hauke aus dem Müllcontainer des Famila-Supermarktes. „Das ist doch hochsymbolisch in Zeiten der Finanzkrise!“ Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist nicht überschritten, die Verpackung einwandfrei. Trotzdem liegt sie im Abfall. „Wahrscheinlich haben sie keinen Platz mehr gehabt, die einzusortieren“, vermutet der 24 Jahre alte Aktivist. Ein bis zweimal die Woche wühlt Hauke im Müll. Nicht, weil er muss, sondern aus Überzeugung. Zehn Pakete Kräuterbutter liegen schon mal in seinem Korb.
Hauke stammt aus einer Bauernfamilie. Für ihn stehen Lebensmittel noch in unmittelbarem Bezug zum Produzieren und Ernten. Ein bis zwei Mal in der Woche zieht er mit seinen Mitstreitern los, um zu „containern“, wie sie es nennen. Das Ziel: sich vollständig aus dem Müll von Supermärkten, Warenhäusern oder Baumärkten zu versorgen.

Hauke möchte alternativ leben

Bad Oldesloe ist kein sozialer Brennpunkt, hier herrscht kein Großstadtelend. „Die Metropolenkiddies“, sagt Hauke, mit denen möchte er sich nicht identifizieren. Um wohlfeilen Protest geht es ihm nicht. Er möchte alternativ leben, er möchte sich aus dem Kapitalismus ausklinken, so weit es geht. Geld benötigt er kaum. 100 bis 150 Euro verdiene er im Monat durch Referententätigkeit auf linken Veranstaltungen. „Das reicht dicke.“ Hartz IV bekommt er nicht. „Das wäre auch viel zu anstrengend, es zu beantragen.“ Ein Jahr lang hat er mal bei Greenpeace gearbeitet.

Bad Oldesloe ist eine Schlafstadt für Menschen, die im 50 Kilometer entfernten Hamburg arbeiten. FDP und Grüne haben hier 15 Prozent, die Linke ist nicht vertreten. Ideal, um in Ruhe gelassen zu werden. Aus dem Ruhrpott, aus Berlin, aus Hannover sind sie nach Bad Oldesloe gezogen. Kennengelernt haben sich die Mitglieder der Wohngemeinschaft bei gemeinsamen Aktionen wie etwa dem Protest gegen den G8-Gipfel.

Zum Thema
„Freeganer“ in Amerika: Müllbananen gegen das Kapital
Bad Oldesloe zieht die Gardinen zu
Sie gehen systematisch vor. Heute ist der äußere Ring von Bad Oldesloe dran. Das Industriegebiet und die drei großen Supermärkte Lidl, Aldi und Famila. So zwischen acht und 26 Menschen leben in der Kommune, sagt Hauke. Meist gehen sie in einer größeren Gruppe los. Heute bleiben schlussendlich zwei dabei. Die Presse ist bei den meisten unerwünscht.
Eine Höhlenlampe um die Schirmmütze, Handschuhe mit der Aufschrift der örtlichen Sparkasse, Lebensmittelkörbe und ein Fahrrad mit großem Anhänger - Hauke ist ausgerüstet. Um kurz nach zehn Uhr geht es los. Die Kunden sind längst gegangen und die Angestellten im Feierabend. Bad Oldesloe zieht die Gardinen zu und schaut fern.

Nach zehn Minuten ist der erste Korb voll

Die erste Station ist der Lidl-Supermarkt in einer gottverlassenen Gegend in der Nähe einer Schnellstraße. Vier große Container und drei kleine Mülltonnen stehen am Ende der Verladerampe. Ein Bewegungsmelder springt an. Neonlicht erhellt den tristen Hinterhof. Geübt wiegt Hauke diverse Paprika, Avocados und eine Melone in der Hand hin und her. Eine Mitstreiterin hält ihre Taschenlampe in den Container. Einiges wird zurückgeworfen, vieles wandert in den Plastikkorb im Fahrradanhänger.

Nach kaum zehn Minuten ist der erste Korb voll. Das Gemüse im Korb sieht aus wie gerade eingekauft. „Es ist doch so“, erklärt Hauke, „nur weil auf irgendwelchen Plantagen Arbeiter ausgebeutet werden, lohnt es sich, das hier wegzuschmeißen.“ Manchmal, sagt Hauke, gehen sie auch in Supermärkte und zeigen alten Frauen, die mutmaßlich schon zu Kriegszeiten gelebt haben, Kohlköpfe, die sie im Abfall gefunden haben. „Da geht manch eine Frau zum Marktleiter und macht den dann zur Sau.“

Auch Kaviar lässt sich finden
Den Unterschied zwischen Warenwert und Nutzwert erklärt Hauke anhand einer Flasche Malzbier. So, wie sie dort mit abgerissener Hülle liegt, habe sie keinen Warenwert mehr. Der Nutzwert allerdings sei der gleiche. Trotzdem werde das Malzbier aus dem Wirtschaftskreislauf genommen.

Je edler der Lebensmittelhändler, desto schmackhafter der Abfall. Bei Famila lässt sich ab und an Kaviar finden - im vergangenen Jahr allein sechs Paletten zu je 10 Gläsern. Das Mindesthaltbarkeitsdatum lief bald ab. „Aber bei eingelegter Ware ist das doch lächerlich!“

Das Entwenden von Abfall ist Diebstahl

Heute riecht der Container, in dem der Schatz gefunden wurde, nach gammeligem Fleisch. Es stinkt bestialisch. Zu sehen sind Kleider und eine ausgebeulte Sporttasche. „Hier mal ein Baby zu finden, das ist mein größter Albtraum“, murmelt Hauke. Wie er es sagt, hält er kurz inne, zieht die Tasche dann aber routiniert aus dem Müllcontainer. Gebügelte T-Shirts und Pullover kommen zum Vorschein. Und Briefe, darunter ein Strafbescheid wegen Fahrerflucht.
Plötzlich ein Mann mit Hund, möglicherweise Wachpersonal. Jetzt heißt es ruhig bleiben und nicht den Eindruck erwecken, man sei ein Einbrecher. Denn auch das Entwenden von Abfall ist Diebstahl. In Köln wurde dafür 2004 eine Aktivisitin angeklagt und gegen Ableistung von Sozialstunden freigesprochen. Doch der Mann ist allein und will wohl nicht eingreifen. Er tut, als sei er nicht da und schleicht leise von dannen.

Einige treibt die Not zum Containern

Etwa 3000 Menschen containern in Deutschland, vermutet Hauke, der gut vernetzt ist in der Szene. Einige treibt auch die Not zum Containern. Selbst in einer Stadt wie Bad Oldesloe. Ein alter Mann containert zwei Mal die Woche für sich und seinen Hund, nachts, damit niemand den Hartz-IV-Empfänger auf seinem Mofa sieht. Es ist ihm peinlich. Mit Hauke und seinen Kumpels möchte er nichts zu tun haben. Und mit den Tafeln, die Bedürftige versorgen, auch nicht.
„Wir unterstützen das absolut nicht“, sagt Anke Assig vom Bundesverband der Tafeln in Deutschland. „Containern ist hochgradig gesundheitsschädlich.“ Niemand müsse in Deutschland hungern. Mittlerweile gibt es fast 800 Tafeln, die gegen einen symbolischen Obolus Nahrung an Bedürftige verteilen. Vor drei Jahren hat der Verband eine Schätzung durchführen lassen. So haben die deutschen Supermärkte etwa 100.000 Tonnen Lebensmittel gespendet. Bloß Aldi Nord, sagt Assig, beteilige sich daran nicht.

Gemüse im Müll

„Bei Aldi gibt es Gemüse im Müll“, sagt Hauke, „das ist genau so gut wie im Laden selbst.“ Lebensmittel habe er seit einem Jahr nicht mehr eingekauft. Jede bloß rudimentär eingedellte Paprika, jede kaum eingerissene Käsepackung im Mülleimer - für Hauke ein Fanal wider Verschwendung und Kapitalismus.

Heute liegt auch ein Produzent für Krankenhausbedarf auf dem Weg. Eine Mitstreiterin öffnet einen großen Container, fast fällt eine Matratze hinaus. Niemand hat dafür Bedarf, Hauke schläft bereits auf zwei Matratzen übereinander. Sie finden noch ein Sauerstoffzelt und nehmen es mit. Die Ausbeute ist heute durchschnittlich: Obst und Gemüse für alle, Kräuterbutter für den Rest des Jahres, 30 Törtchen, zehn haltbare Schachteln mit Grillkartoffeln. Nur keine Schokolade. Kurz nach Weihnachten wird es wieder soweit sein. Wenn zum 1. Januar wieder tonnenweise Weihnachtsmänner aus den Regalen genommen werden, dann hat das System keinen Schaden genommen.
Text: F.A.Z.Bildmaterial: Jesco Denzel

0 Comments:

Post a Comment

<< Home