Knaller an der Zeitungsfront

Saturday, September 29, 2007

Anwohner bringen Ämter in Not (Berliner Zeitung)

Anwohner bringen Ämter in Not
Wagenburgen statt Büropaläste: Bürgerbegehren von "Mediaspree versenken" wird zugelassen
Karin Schmidl

FRIEDRICHSHAIN-KREUZBERG. Freiräume sind das Lieblingsthema von Carsten Joost. Der 42-jährige Friedrichshainer, der sich als Alternativ-Planer bezeichnet, befasst sich seit dem Architekturstudium in Frankfurt am Main damit, möglichst viele freie Flächen zwischen Neubauten zu erhalten. Städte dürfen nicht zuwachsen, sagt er, denn das führe zum Kollaps.
Mit diesem Credo will Joost - gemeinsam mit zwei Dutzend Mitstreitern aus dem Umfeld der Bethanien-Besetzer - eines der größten Berliner Stadtumbauprojekte namens Mediaspree kippen. Mit einem Bürgerbegehren, das voraussichtlich am Dienstag vom Bezirksamt zugelassen wird. Die Initiative, die dann mit der Unterschriftensammlung beginnt, nennt sich passenderweise "Mediaspree versenken". Ihre Forderungen sind ein freier Uferstreifen von 50 Metern, der Verzicht auf Hochhäuser und eine neue Brücke über die Spree, die für Autos tabu ist.

Als Mediaspree wird ein rund 180 Hektar großes Spreeufer-Areal entlang Holzmarkt- und Mühlenstraße sowie Stralauer Allee bezeichnet. Im Osthafen residieren bereits Medienunternehmen wie MTV und Universal, weitere Studios werden derzeit gebaut. Die Modefirma Labels Berlin expandiert, und am Ostbahnhof entsteht die Großarena O2 World. Auf insgesamt sieben Kilometern Uferstreifen sind Milliarden-Investitionen geplant - vor allem für Büros, Lofts, Hotels.

"Das Spreeufer wird dicht an dicht zugebaut, es bleibt kein Platz für Menschen", kritisiert Joost. Er will mehr Freiräume als den zehn Meter breiten Uferweg, den alle Investoren bauen und zur Verfügung stellen müssen. Noch gibt es großzügige Freiräume. In Form von Clubs und Strandbars sowie dem Schwarzen Kanal, der Wagenburg an der Schillingbrücke. Das sind aber nur Zwischennutzungen, die von den Grundstückseigentümern so lange geduldet werden, bis die Bagger anrollen. "Diese Vielfalt, die das Image des Gebietes ausmacht, muss erhalten bleiben", sagt Joost.

Der geforderte 50 Meter Freiraum am Ufer hieße für Investoren allerdings erhebliche Einbußen. Denn an vielen Stellen ist das Ufer schmaler, Bauten wären unmöglich oder müssten spürbar schrumpfen. Höchste Zeit, Megaprojekte zurechtzustutzen und den "Ausverkauf öffentlicher Flächen" zu beenden, sagen Joost und seine Initiative. Immerhin gehörten fast zwei Drittel der Grundstücke im Mediaspree-Gebiet Berlin oder landeseigenen Firmen wie der BSR. Doch gerade solche Flächen gewinnbringend zu verkaufen und Unternehmen anzusiedeln, die dort bis zu 30 000 Arbeitsplätze schaffen, ist das Ziel von Mediaspree.

Im Bezirksamt sieht man die Debatte mit gemischten Gefühlen. Sollte nach dem Bürgerbegehren, für das in sechs Monaten rund 5 400 Unterschriften nötig sind, auch der folgende Bürgerentscheid erfolgreich sein, steckt man in der Klemme: Einerseits gibt man sich im grün-alternativ dominierten Bezirk diskutierfreudig und basisdemokratisch. Andererseits kann man sich das Ergebnis nicht leisten: 156 Millionen Euro würde es kosten, wenn man Investoren entschädigen müsste, die weniger bauen dürften. Bürgermeister Franz Schulz (Grüne): "Wir werden nichts entscheiden, was den Bezirk ruiniert."
Berliner Zeitung, 29.09.2007

Wettlauf nach dem Schock (Die Welt)

29. September 2007, 04:00 Uhr
Wettlauf nach dem Schock
Vor 50 Jahren schossen die Sowjets mit dem "Sputnik" ihren ersten Satelliten ins All. Jesco von Puttkamer, seit 1962 Raketenkonstrukteur und Vordenker der Nasa, erzählt über westliche Reaktionen, die Konkurrenz der Systeme und das Rennen zum Mond

Wo hat Sie damals der "Sputnik"-Schock überrascht?
Ich war damals ein 24-jähriger Ingenieurstudent. Am 4. Oktober 1957 saß ich in Paris im Café "Les Deux Magots" in St. Germain des Prés, als ein Zeitungsverkäufer hereinkam - mit den Schlagzeilen vom "Sputnik"-Start. Ich hatte sowieso vor, in die Raumfahrt zu gehen. An dem Tag merkte ich: Es wird Zeit.

Konnten Sie das "Sputnik"-Signal "Piep, piep, piep" hören?
Das kam aus allen Radiokanälen. Vollkommen überrascht war ich allerdings nicht. Die Amerikaner hatten schon 1955 angekündigt, irgendwann einen Satelliten zu starten. Die Russen später, aber sie nannten keinen Termin.

1957 war Internationales Geophysikalisches Jahr (IGY).
Richtig, und da gab es seit Längerem die Idee, zu dessen Abschluss den ersten Satelliten zu starten. Der Grund für den Start am 4. Oktober war wohl eher ein anderer: Die Trägerrakete, die R 7, war auch für Atomsprengköpfe vorgesehen. Die Militärs hatten aber technische Probleme. Viele ihrer Testflüge schlugen fehl, sodass schließlich nur noch zwei Raketen übrig waren für Versuche mit einem "Sputnik". Es ging dann auch sehr schnell: Der "Sputnik" war ja nichts als eine hohle Kugel, zwei Amateurradiosender darin, die das Signal "Piep, piep" ausstrahlten, und ein Thermometer. Ernst hätte man das eigentlich nicht nehmen müssen.

Was hatten Sie damals, vor dem "Sputnik", für ein Verhältnis zum Weltraum? Er war noch unbetreten, noch nicht einmal beschossen von Gerät. War das für Sie noch die Welt von Jules Verne?
Nein, es war schon mehr. Zum einen habe ich damals selbst Science-Fiction übers Weltall geschrieben, finanzierte mir damit mein Studium und war als Autor in Deutschland relativ bekannt. Zum anderen unterhielt ich zur "Sputnik"-Zeit schon einen Briefwechsel mit Wernher von Braun, holte mir von ihm Ratschläge, wie ich mein Studium am besten auf die Raumfahrt ausrichte.

Als Sie wenig später zum Raumfahrtteam Wernher von Brauns stießen, was erzählte der über den 4. Oktober?
Er war abends bei einem Essen mit Neil McElroy, der wenig später Verteidigungsminister Charles Wilson ablösen sollte. "Siehst du wohl", sagte er den Anwesenden, als er vom "Sputnik" hörte, "das hätten wir schon früher schaffen können. Aber wir durften nicht."

Warum nicht?
Wilson hatte es ihm in einem Memorandum untersagt. Damals arbeiteten alle drei Teilstreitkräfte, die Marine, die Luftwaffe und das Heer, an verschiedenen Raketen. Wilson meinte, das Heer, zu dem eben auch von Brauns Team gehörte, brauche nur Raketen mit geringer Reichweite, keine, die für die Weltraumfahrt geeignet gewesen wären. Lediglich die Marine durfte planen, um Wetterdaten aus der höheren Atmosphäre einzuholen und auch um Satellitentechnik zu entwickeln. Das kam aber nicht recht voran, und das Team von Brauns mit seinen ehemaligen Peenemündern, in der Entwicklung am weitesten voran, war in Wartestellung. Aus einem Grund: Wilson wollte unbedingt scharf trennen zwischen Waffen und Weltraumtechnik.

Spielte eine Rolle, dass von Brauns Team aus Deutschen bestand, aus ehemaligen Feinden?
Sie wurden akzeptiert, aber natürlich gab es viele, die meinten, die Nazi-Wissenschaftler sollten doch bitte schön nicht in erster Reihe stehen.

Noch 1944/45 lief unter von Braun ein Projekt mit den Raketen A 9 und A 10, die New York vernichten sollten.
Stimmt. Das waren aber Papierstudien, dafür gab es nicht mal Triebwerke.

Wären die Amerikaner als Erste und begeisterter ins All gestürmt, wenn sie es nicht mit Deutschen, mit ehemaligen Nazis, zu tun gehabt hätten?
Nein, das läge nicht im amerikanischen Wesen, sich durch so was aufhalten zu lassen. Es gab auch viele prodeutsch eingestellte Amerikaner, Einwanderer und Nachfahren von Einwanderern. Der Rückstand beim Satelliten lag eher an mangelnder Koordinierung ...

... und daran, dass Präsident Eisenhower kein Interesse an Raumfahrt hatte.
Er war nicht sonderlich enthusiastisch, druckste nur herum. Nicht mal nach dem Start des "Sputnik" erkannte er die Dimensionen, dass der Kalte Krieg in eine neue Phase getreten war, dass die Sowjets als Atomstreitmacht gleichgezogen hatten.

Als von Braun dann seine Rakete startete, war Eisenhower im Golf-Urlaub.
Wie bei vielen wichtigen Entscheidungen. So war er, er hatte ja seine Leute, die alles für ihn erledigten. Immerhin: Als er nach dem "Sputnik"-Start die Reaktionen im Kongress und in den Medien wahrnahm, da sah er wohl ein, dass er was tun musste. Er gründete die Nasa. Im Verteidigungsministerium strich man als Erstes das Wilson-Memorandum, und Wilson trat selbst bald zurück. Von Braun durfte nun entwickeln. Er sagte: Gebt mir 30 Tage, und ich schicke einen Satelliten ins All. Der neue Verteidigungsminister Neil McElroy bremste sogar noch: Sagen wir 60 Tage. Es wurden schließlich 58 bis zum Start.

Von Braun musste einfach nur seine alten Pläne von der V 2 hervorholen.
Es gab durchaus Änderungen. Die V 2 war schon nach dem Krieg obsolet, technisch veraltet. Die Tanks waren zum Beispiel noch draußen angebracht und brauchten eine zusätzliche Blechhülle. Und sie waren von Radiostrahlen geleitet, die Bodenstationen senden mussten. All das war umständlich, und von Braun hat es umgebaut.

War da schon der Mond das Ziel?
Als Leitstern spielte der Mond schon immer eine Rolle, auch bei den Raumfahrtpionieren der Vorkriegszeit. Für uns war er allerdings damals schon immer nur Zwischenstation, unser Ziel war und ist der Mars.

Wohin auch immer, das Rennen war eröffnet. Was wussten Sie von Ihren Gegenspielern? Kannten Sie "Mr. Sputnik"?
Vom Mann, der hinter allem stand, Sergej Koroljow, hörten wir erst, als er 1966 gestorben war. In den USA hatte man ihm immer irgendwelche Namen gegeben, "Professor K" oder so.

Er war ein Phantom.
Eigentlich dachten wir gar nicht, dass es sich überhaupt um einen einzelnen Menschen handelte. Eher, dass es wieder so ein Komitee war. Dass da, wie wir später erfuhren, ein starker Charakter, eine eigensinnige Person stand, der die Politiker rumkriegte, das hätten wir von dem starren, zentralistischen Sowjetsystem als Letztes erwartet. Dort gab es ja auch Fürstentümer, Konstrukteure, die ihre jeweiligen Schulen unterhielten und sich gegenseitig bekriegten. Eine verkehrte Welt: Wir dagegen, in der Demokratie, hatten schließlich seit 1958 die Nasa, alles war zentral organisiert.

Inwieweit beschäftigte Sie der Gedanke an die Gegenspieler?
Wir hatten nur Bewunderung dafür, was sie schafften. Lauter Erstleistungen: erster Satellit, erstes Lebewesen, dann erster Mensch im All, erste Frau, erster Ausstieg aus dem Raumschiff im All, erstes Rendezvous zweier Raumschiffe. Chruschtschow wollte Erstleistungen.

Kennedy auch. Er verlangte, dass Amerikaner als Erste den Mond betreten.
Die Amerikaner gehen immer erst ins Rennen, wenn jemand vor ihnen liegt, wie ein gutes Rennpferd. Die wollen nur die Ersten sein, wenn sie jemand überholt. Dann wird der Amerikaner zum Riesen. Das war schon in Pearl Harbor so, als die Japaner zum Erstschlag ausholten. Deshalb wird Pearl Harbor mit dem "Sputnik" verglichen. Das war so beim Computer, beim Auto. Wollen Sie Boeing aufwecken, müssen Sie Airbus gründen.

Spielte beim Rennen ins All Spionage eine Rolle?
Von unserer Seite weniger. Die Abwehr der Sowjets war zu gut. Wir hatten bald Satelliten, die uns Bilder lieferten, auch hochfliegende Flugzeuge. Da konnte man die Startplätze in Baikonur sehen. Wir haben davon aber kaum etwas erfahren. Die Bilder waren alle streng geheim, damit die andere Seite nicht sieht, über was für eine Ermittlungstechnik die USA verfügen. Nun gut, man hat Wernher von Braun gesagt: Die haben eine Mondrakete, die N 1, die war nicht zu übersehen. Da wussten wir: Das Rennen geht jetzt zum Mond.

Damals kursierten gehörige Gerüchte über einen geheimnisvollen Treibstoff der Sowjets. Haben Sie da nicht bei der CIA angeklopft, helft uns?
Wir hatten natürlich Experten, das Silverstein-Komitee, die sich gezielt Gedanken machten: Was haben die Sowjets? Flüssigwasserstoff? Flüssigsauerstoff kannten sie, das wussten wir, den gab es schon bei der V 2.

Und da soll die CIA nicht spioniert haben?
Es wäre eine schlechte Spionage gewesen, wenn ich darüber informiert worden wäre. Es kann sein, dass in Washington auf höchster Ebene darüber Informationen ausgetauscht wurden. Uns erzählte man nur über die Fotos aus dem All, und aus den Größenordnungen der Raketen leiteten wir dann unsere Erkenntnisse ab.

Im sowjetischen Raumfahrtprogramm arbeiteten auch Deutsche aus Peenemünde.
Ja, aber nur die zweite Garde, die nicht mit nach Amerika genommen wurde. Und dies auch nur in den ersten Jahren. Sie kamen bald schon zurück nach Deutschland. Sie spielten in Russland auch nicht die Rolle wie von Brauns Team in Amerika. Immerhin: Helmut Gröttrup, der Führende unter ihnen, machte später in Westdeutschland Technikgeschichte - er gilt als Erfinder der Chipkarte.

Koroljow wollte ohne die Deutschen auskommen. Er muss viel erduldet haben. Niemand in der UdSSR durfte von ihm wissen, von ihm, der doch der große Held war. Er war ein lebendes Staatsgeheimnis.
Da sind die Russen anders als wir. Sie können einem ungeheuren Leidensdruck standhalten. Ohne dass ihnen das bewusst ist. Koroljow war obendrein zuvor im Gulag gewesen. Und die russischen Experten haben immer gut dem Alkohol zugesprochen, wie die Verrückten. Der typische russische Raketenspezialist wurde nicht älter als 55 oder 56 Jahre. Wie auch Koroljow. Er allerdings starb nach einem ärztlichen Kunstfehler, im Krankenhaus des Kreml.

Angenommen, er hätte länger gelebt: Hätten die Russen die Chance gehabt, den Wettlauf zum Mond zu gewinnen?
Nein, dafür war das Land einfach zu arm. Sie konnten sich nicht mal Bodentestanlagen leisten, in denen wir zum Beispiel die Saturn 5 intensiv im Stand laufen ließen. Die haben einfach doppelt so viele Raketen gebaut und sie im Flug erprobt. Erst mal schnell bauen, fliegen und daraus lernen, ob alles explodiert oder nicht. Das war deren Philosophie. Der Welt wurde das natürlich anders dargestellt. Es war auch peinlich. Aber es musste eben oft in die Luft fliegen, weil es noch gar nicht getestet war.

Und dann war immer gleich auch eine neue Startrampe fällig.
Die meisten Raketen explodierten erst nach Minuten, die Teile kamen dann irgendwo herunter. Aber Koroljow war auch schlau. Als er merkte, dass alles manchmal nach wenigen Metern schon in die Luft flog, trimmte er seine Raketen auf schrägen Start, sodass sie im Zweifel das große Loch in den Boden etwas versetzt von der Rampe rissen. So improvisiert man in Russland.

Sergej Chruschtschow, der Sohn des früheren Parteisekretärs, meinte mal, Kennedy habe seinem Vater die Zusammenarbeit in der Raumfahrt angeboten, und der habe sogar überlegt, darauf einzugehen.
Stimmt, so war es. Aber Kennedy wollte damit wohl nur diplomatischen Boden gewinnen. Ich bezweifele, dass daraus etwas hätte werden können. Das Apollo-Programm war auch schon angelaufen. Bald darauf wurde Kennedy ermordet, und sein Nachfolger Lyndon B. Johnson, der großen Wert auf die Raumfahrt legte, hatte an solchen Plänen kein Interesse.

Heute ist die Zusammenarbeit da.
Ja, und ein Gegeneinander, ein Konkurrieren, wäre heute undenkbar.

Wann steht der erste Mensch auf dem Mars? 2017? 2020?
Erst mal geht es zum Mond als Zwischenstation.

Welche Schwierigkeiten sind größer: die der Technik oder der menschlichen Natur?
Für die Fahrt zum Mond sehe ich gar keine Probleme, da waren wir ja schon mehrmals. Technisch haben wir den Flug zum Mars wohl auch im Griff, wir entwickeln gerade zwei neue Großraketen. Die großen Fragezeichen sind bei den Auswirkungen auf den Menschen: die Psyche zum Beispiel, man ist schließlich zwei, vielleicht drei Jahre unterwegs. Auch der Strahlenschutz muss bewältigt werden, und wie wirkt sich eine so lange Schwerelosigkeit auf den Körperbau aus? Insgesamt geht es aber derzeit schneller voran, als man denkt.

Katz und Maus (Die Welt)

29. September 2007,
Von Torben Lütjen
Katz und Maus
"Kommen Sie zur Besinnung, Karl Schiller." Wie die Freundschaft zwischen Karl Schiller und Günter Grass zerbrach

Karl Schiller, Wirtschafts- und Finanzminister in der Großen Koalition und im ersten Kabinett Willy Brandts, war die Diva seiner Zeit: Schiller galt als eitel und selbstverliebt, liebte die große Pose und den dramatischen Auftritt. Doch er war auch ein brillanter Ökonom und genialer Politikverkäufer, der der Republik im Bundestagswahlkampf 1969 einen Schnellkurs für Fortgeschrittene in Außenwirtschaftstheorie erteilte und damit maßgeblich zum Zustandekommen der sozialliberalen Koalition beitrug. Aber weder die sogenannte "Schiller-Wahl" noch die vorherige rasche Überwindung der Rezession 1966/1967 haben ihn in der SPD zu einer sonderlich beliebten Figur gemacht. Denn so kommunikativ dieser Mann nach außen sein konnte, so schroff, unnahbar und abweisend wirkte er oft im Gespräch.

Nichts schien die Abwesenheit persönlicher und emotionaler Bindungen schließlich besser zu dokumentieren als die Vorgänge im Sommer 1972, als Schiller zunächst aus dem Kabinett und dann aus der eigenen Partei austrat, um sich im anschließenden Bundestagswahlkampf an der Seite Ludwig Erhards für die CDU zu engagieren. Innerhalb weniger Monate kehrten sich alle bisherigen sozialen Beziehungen in ihr Gegenteil - langjährige Mitstreiter wurden zu Kontrahenten, die Parteifreunde zu erbitterten Feinden.

Allein die Meinung eines einzigen Menschen blieb Schiller wichtig: Günter Grass war einer der wenigen, die Schiller Freund nannte. Als er daher erfuhr, dass der Dichter ihm seinen Seitenwechsel übel nahm, zeigte er sich besorgt. Er habe erfahren, so Schiller in einem Brief an Grass im Oktober 1972, dass der Dichter mit seinen politischen Schritten der letzten Zeit wohl nicht ganz einverstanden sei. Dennoch würde es ihn freuen, wenn es zu einem Gespräch käme. Grass antwortete postwendend - und wohl anders, als Schiller gehofft hatte. Die Antwort des Freundes stand am nächsten Tag in einem offenen Brief in der "Frankfurter Rundschau".

"Lieber Karl Schiller", begann Grass, "schon die Anrede zeigt an, wie schwer es mir fällt, diesen notwendigerweise 'Offenen Brief' zu schreiben; denn Karl Schiller ist nicht nur seinen Freunden, sondern wohl auch sich selber fremd geworden. (...). Denn wie schlimm muss es um einen Karl Schiller stehen, der sich bei einem Barzel anzubiedern versucht; wie traurig muss es um Karl Schiller bestellt sein, wenn er zulässt, dass ihn der gleiche Franz-Josef Strauß begönnert, der noch vor wenigen Monaten mit Willy Brandt auch Karl Schiller nach Lumpenmanier verleumdet und verdächtigt hat. (...) Unterlassen Sie also dieses Krisengeschrei, das Sie lächerlicher macht, als es unsere immer noch gute Erinnerung an Sie erlaubt."

Das war das traurige Ende einer Freundschaft, die Anfang der 1960er Jahre in Berlin entstanden war, wo Schiller wenige Monate nach dem Mauerbau Wirtschaftssenator geworden war. Bei einem Empfang im Charlottenburger Schloss hatte er die Bekanntschaft von Günter Grass gemacht, der durch die "Blechtrommel" bereits ein berühmter Mann war. Man kam ins Gespräch und Grass erzählte, dass er gerade an einem Roman arbeite, in dem satirisch die Gesellschaft des Wirtschaftswunders aufs Korn genommen werden sollte: die "Hundejahre". Ob der Wirtschaftssenator ihm nicht ein wenig zur Hand gehen wolle? Bei den vielen Namen, die seit 1945 die Geschicke der deutschen Wirtschaft leiten, könne man schnell den Überblick verlieren. Schiller ließ sich nicht zwei Mal bitten, war wohl sogar stolz und hocherfreut, für einen berühmten Schriftsteller das "Lektorat" zu übernehmen.

Damit begann eine Beziehung, die der Vorstellung von Freundschaft so nahe kam, wie es bei Karl Schiller überhaupt möglich war. In der Anrede bevorzugten zwar beide in der Regel das distinguierte "Sie". Andererseits war Schiller einer der wenigen Gäste bei der Taufe des Grass-Sohns Bruno Thaddäus und gemeinsam verbrachte man im Sommer 1966 mit den Familien den Urlaub im Tessin, wobei man, wie Schiller später mit einiger Genugtuung feststellte, zehn Tage die "Dörfer auf den Kopf stellte". Schiller erfüllte die Freundschaft zu Grass mit großer Befriedigung, bewies sie doch, dass er eben besser in die Berliner Bohème passte als in das dröge Vereins- und Funktionärsmilieu der SPD.

Grass ließ nichts unversucht, den Freund in dieser Ansicht zu bestärken. Schiller trug sich selbst mit dem Gedanken, eine kleine Novelle zu schreiben. Für diesen Fall bot der Dichter seine Hilfe an. Und von Zeit zu Zeit sandte Grass ihm seine noch unveröffentlichten Arbeiten zu und nannte das einen "literarischen Zwischenbericht von Kollegen zu Kollegen". Ein wenig verschämt schickte dieser seine Arbeiten zur Wirtschaftspolitik zurück; zu mehr, entschuldigte sich der viel beschäftigte Wirtschaftssenator, reiche es zurzeit einfach nicht. Grass war fraglos der emotional Überlegene in dieser Beziehung und offenbarte sich auch als kluger Menschenfischer, der nicht nur um Schillers Sehnsucht nach Zugehörigkeit zum Künstlermilieu wusste, sondern auch sehr genau die Eitelkeit und den Ehrgeiz Schillers erkannt hatte. "Ich weiß nicht, ob Sie immer Bundeswirtschaftsminister bleiben werden", schrieb er dem frischgebackenen Bundeswirtschaftsminister im Januar 1967, "ob nicht eines Tages noch größere Verantwortung, noch größere Lasten auf Sie zukommen werden - vieles spricht für diesen Aufstieg".
Dass die Freundschaft zu den Mächtigen nicht von Nachteil war, erwies sich für Grass sehr schnell. 1965 hatte er vom Finanzamt die Aufforderung erhalten, 60 000 DM Steuern nachzuzahlen. Der Auflagen-Millionär war schockiert und erwog sogleich den Wohnortswechsel. Über einen Mitarbeiter in der Berliner Wirtschaftsbehörde, der das Gespräch in einem Vermerk notierte, ließ er Schiller telefonisch ausrichten, "dass solche Bescheide ihn aus Berlin vertreiben könnten. Er sei der Ansicht, dass auch für kulturpolitische Tätigkeit steuerliche Vergünstigungen gefunden werden müssten. Fast täglich widme er zwei bis drei Stunden für westdeutsche Journalisten, die ihn hier besuchen. Das sei schließlich auch eine Funktion, die er für Berlin ausübe. Er würde es sehr begrüßen, wenn der Senat ihm eine generelle Erklärung ab 1963 gäbe über einen zusätzlichen Steuerfreibetrag von 30 000 DM. "Herr Grass bittet darum, dass möglichst bald nach einem Weg gesucht werde, damit er seinem Steuerberater, der auf die Steuerschuld DM 20 000,-- anweisen und auf den Rest eine Stundung erbitten werde, einen entsprechenden Zwischenbescheid noch vor Antritt seiner Vortragsreise geben könne." Gemeint war vermutlich die Wahlkampfreise für die SPD, mit der Grass in jenen Wochen beginnen wollte. Der Vermerk liest sich, als habe Grass für sein "bürgergesellschaftliches Engagement" eine finanzielle Gegenleistung erwartet.

Er sollte nicht enttäuscht werden. Nur eine Woche nach Grass' Plädoyer auf Steuernachlass schickte die Berliner Senatskanzlei nach Rücksprache mit Schillers Wirtschaftsbehörde eine Bescheinigung an das Finanzamt Wilmersdorf. Darin wurde für "finanzamtliche Zwecke bescheinigt", dass Grass auf Wunsch öffentlicher Stellen in Berlin zu Empfängen eingeladen werde oder "Gespräche im öffentlichen Interesse Berlins" führe. Und weiter: "Er kann für diese Repräsentation keinen Geldersatz erhalten. Gleichwohl sind sie auf Grund ihres hohen gesellschaftlichen Niveaus mit erheblichen Unkosten verbunden." Unterschrieben hatte die Bescheinigung Dietrich Spangenberg, der Leiter von Willy Brandts Senatskanzlei. So gelang es, Grass von einem Teil seiner Steuerlast zu befreien.

Auch als Schiller 1965 in den Deutschen Bundestag wechselte und 1966 Bundeswirtschaftsminister in der Großen Koalition wurde, blieb der freundschaftliche Kontakt bestehen. Grass war wie viele andere Intellektuelle über die Koalition mit der CDU unter dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger entsetzt. Wenige Wochen nach Beschließung des neuen Bündnisses sah Grass die Republik, wie er Schiller mit einigem Alarmismus schrieb, auf dem Wege der "Portugalisierung". Er habe bereits feststellen können, "wie rasch und beinahe freudig, weil ja erlöst vom anstrengenden demokratischen Alltag, die Bundesbürger sich der neuen Lage anpassen". Doch so energisch Grass öffentlich gegen das Bündnis stritt, so sehr war er doch bemüht, nicht den Stab über Schiller zu brechen. Es beruhige ihn, so Grass, dass er beim Freund bisweilen Zweifel über die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung gespürt habe. Schiller müsse weiter der Mann von "Geist und Macht" sein, der von der "mündigen Gesellschaft" gesprochen habe - dann sei ihm wenige bange um die Zukunft der Deutschen Demokratie.

Für Schiller folgten Jahre eines steilen politischen Höhenfluges, die ihn kurzzeitig zum populärsten Politiker im Kabinett Kurt Georg Kiesingers machten. Doch das Verhältnis zu Grass kühlte sich ab. Der nämlich konnte nicht verstehen, warum der Freund trotz seiner gut gemeinten Ratschläge nicht den Mut fand, öffentlich über seine NSDAP-Vergangenheit zu sprechen. In den Briefen des Schriftstellers häuften sich vor allem seit Bildung der Sozialliberalen Koalition im Jahr 1969 die Ermahnungen und der Tadel an die Adresse des Bundeswirtschaftsministers. Für Grass war es nun Willy Brandt, in dem sich die politischen Sehnsüchte nach einem Aufbruch zu gänzlich anderen Ufern verkörperten. Grass unterstützte nicht nur die neue Ostpolitik Brandts, sondern war ein ebenso emphatischer Anhänger der ehrgeizigen, aber eben auch sehr kostspieligen "inneren Reformen".

Karl Schiller hingegen, der im Mai 1971 auch noch das Finanzministerium übernahm, glaubte, dass die Republik begann, über ihre Verhältnisse zu leben, wurde so zum unbequemen "Stabilitätsapostel" und geriet in der eigenen Partei immer mehr ins Abseits. Teilweise hatte wohl auch Günter Grass Verständnis für Schillers schwierige Lage. Um den Bruch zwischen Schiller und den Genossen zu verhindern, griff er zu der bewährten Mischung aus strenger Ermahnung und ungenierter Schmeichelei, wobei der Freund für Letzteres besonders empfänglich war. Im April 1971, zu Schillers 60. Geburtstag schrieb er: "Es packt mich der Jammer, wenn ich ansehen muss, wie ein Karl Schiller, dessen Wortgewalt, politische Intelligenz und demokratischen Sinn ich immer geschätzt habe und weiterhin schätzen werde, verdunkelt wird durch Streit im Detail, durch Rechthaberei, durch (für Sozialdemokraten skandalös) mangelnde Solidarität. Ich weiß, lieber Karl Schiller, dass Sie die Kraft haben werden, den von mir beschriebenen lähmenden Bann zu durchbrechen. (...) Wie immer in Freundschaft Ihr Günter Grass"

Indes: Was für Grass nur "Streit im Detail" war, sah der Superminister ganz anders, der schon bald nicht mehr wusste, wie er der Explosion der Staatsausgaben noch Herr werden sollte. Schiller sah Teile der Partei in Richtung Sozialismus aufbrechen. Im Juli 1972 zog er die Konsequenzen und schied aus Protest gegen die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung aus seinem Amt aus. Er sei nicht länger bereit, so sein Rücktrittsbrief an Willy Brandt, eine Regierung zu unterstützen, die nach der Devise handle: "Nach uns die Sintflut". Es folgte schließlich sein spektakulärer Seitenwechsel zur Opposition, die ihn als Kronzeugen für die gescheiterte Wirtschaftspolitik der sozialliberalen Koalition benutzte.

Grass öffentliche Attacke in der "Frankfurter Rundschau" traf einen Ex-Minister, dessen moralische Integrität bereits zerstört war und der bald darauf für einige Jahre zur Unperson der Deutschen Politik wurde. Grass sprach auch von einem Menschen, der in den letzten Jahren wie besessen nur noch von sich selbst gesprochen habe und bei "dem das Wörtchen 'Ich' Inflation erlebte." Stets habe er ihn aufgrund seiner charakterlichen Fehler in Schutz genommen - doch nun sei die Grenze überschritten. Und er schloss seinen offenen Brief mit dem Satz: "Kommen Sie zur Besinnung, Karl Schiller. Ich möchte mich Ihrer nicht bis zur Sprachlosigkeit schämen müssen."

Grass' öffentliche Abrechnung mit dem Mann, den er einst bereits im Kanzleramt gesehen hatte, und viele andere Anfeindungen jener Zeit stürzten Karl Schiller bald darauf in eine tiefe Krise und ließen ihn tatsächlich verstummen. Erst viele Jahre später sollte Karl Schiller seinen Frieden mit sich selbst und der SPD machen und sogar wieder in die Partei eintreten. Er und Günter Grass jedoch sprachen, so weit bekannt, nie mehr ein Wort miteinander.

Friday, September 28, 2007

Vietnam, Irak – und morgen Iran? (Tagesspiegel)

Vietnam, Irak – und morgen Iran?
Faule Journalisten, verlogene Politiker: Ein Gespräch mit der amerikanischen Reporterlegende Seymour M. Hersh.

Glückwunsch, Mr. Hersh! In Berlin bekommen Sie den „Preis für Demokratie“, zuhause werden Sie von der Bush-Regierung als Verräter und Lügner beschimpft.
Ach, das ist nichts Besonderes. Das kenne ich seit Vietnam. Und Preise zu bekommen ist immer schön.

Ihr erster Scoop war 1969 die Aufdeckung des Massakers von My Lai in Vietnam, 2004 brachten Sie den Folterskandal von Abu Ghraib ans Licht. Haben sich die Bedingungen für Journalisten seither verändert?
Schauen Sie aus dem Fenster, wir sitzen hier in einem Hotel am Brandenburger Tor. Es hat sich einiges verändert in der Welt. Und auch wieder nicht. Wer hätte geglaubt, dass die USA 40 Jahre nach einem dummen, unnötigen Krieg gegen eine fremde südostasiatische Kultur, der unter falschen Voraussezungen begonnen wurde und den Amerika katastrophal verloren hat, im Irak denselben schlimmen Fehler wiederholen würden? Denn das ändert sich nicht: das unglaubliche Talent von Regierungen, massenhaft Leute zu umbringen.

Fühlen Sie sich als Dinosaurier des investigativen Journalismus?
Internet und Blogs verändern viel. Und den Zeitungen in Amerika geht es nicht gut. Das Internet zieht Werbung ab, was machen die Verlage? Sie schließen Auslandsbüros, entlassen Journalisten und schränken die Berichterstattung ein. Anstatt ihr Produkt attraktiver zu machen, ruinieren sie es. Die Journalisten tragen auch selbst Schuld. Wir sind reich und bequem geworden. Als ich in den sechziger Jahren anfing, hatte ich es mit hart arbeitenden Redakteuren zu tun, die nicht vom College kamen. Das waren schlaue Typen Heute sind die Journalisten zugleich smarter und dümmer – denken Sie nur an das Pressekorps in Washington.

Präsident Clinton wurde für jede Kleinigkeit attackiert, Präsident Bush wurde lange geschont, Kritik prallte an ihm ab. Wie ging das zu?
Vergessen Sie nicht den 11. September. Die amerikanischen Medien haben sich eingereiht in den Chor: Holen wir uns die Verbrecher! Warum haben wir Menschenrechtsverletzungen akzeptiert? Die USA wollten sich rächen, und die Medien applaudierten. Wir haben die ganze Geschichte verschlafen – die Lügen der Regierung, die Berichte über die sogenannten Massenvernichtungswaffen im Irak. Niemand fragt nach der Moralität dieses Kriegs, immer noch nicht. Die entscheidenden Fragen werden nach wie vor nicht gestellt. Wir müssen viel grundsätzlicher darüber nachdenken, was mein Land, was Amerika tut.

Was heißt das? Ist das noch eine Aufgabe von Journalismus?
Man muss fragen: Ist unsere politische Führung daneben, dass sie Iran angreifen wird? Stehen wir vor einer gewaltigen Weltkrise, die uns in den nächsten Jahrzehnten verschlingen wird? Die zivilen Opferzahlen im Irak sind offenbar viel höher als angenommen. Wir kümmern uns nicht um die humanitäre Tragödie der Flüchtlinge aus dem Irak, und denken Sie an die palästinensischen Flüchtlinge. All diese entwurzelten Menschen – niemand überblickt, was das auf Dauer bedeutet.

Dafür kann man die Bush-Truppe aber nicht allein verantwortlich machen.
Nein. Die europäischen Regierungen haben sich ausgesprochen feige verhalten, als es darum ging, Bush mit den Konsequenzen eines Irak-Kriegs zu konfrontieren. Das hat einer wie der venezolanische Präsident Hugo Chavez verstanden, so irre er auch sonst ist: Europa tut nichts. Nun versucht Chavez, eine neue Allianz von Ländern mobilisieren, bis hin nach Asien, die sich gegen die USA stellen. Weil die westliche Welt versagt hat.

Sie haben 2005 im „New Yorker“ eine große Recherche über Pläne der US-Regierung veröffentlicht, den Iran zu attackieren. Wie schätzen Sie jetzt die Lage ein?
Ich bin kein Staatsmann, ich weiß es nicht. Aber ich denke, dass die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs auf den Iran nicht abgenommen hat.

Das heißt, Enthüllungen sind wirkungslos?
Zur Überraschung des Weißen Hauses hat der Großteil der Presse dem Präsidenten die Sache mit der Truppenverstärkung im Irak abgekauft. Diese Truppenverstärkung bedeutet nichts anderes als ethnische Säuberung. Die Schiiten sind aus bestimmten Provinzen verschwunden. Es ist ruhiger geworden: Wenn keiner mehr da ist, kann man auch keinen mehr umbringen. Irak ist verloren, in Afghanistan sieht es schlecht aus. Bush hat noch sechzehn Monate im Amt. Ich sehe die Gefahr einer weiteren Eskalation.

Empfinden Sie persönliche Animosität gegen Politiker, über die Sie so ausdauernd recherchieren und schreiben?
Ich will Ihnen was sagen: Ich habe einen fantastischen Zahnarzt, und dem ist es gleich, ob er einen Demokraten oder Republikaner oder sonst wen behandelt. Ich mache es als Journalist genauso. Meine Leidenschaft, mein Instinkt bringt mich zu bestimmten Themen. Aber entscheidend sind immer die Fakten.

Sie sind auch ein Meinungsmacher.
Vor dem Irak-Krieg besagten alle objektiven Einschätzungen: Dieser Krieg wird Amerika stärker verändern, als wir den Irak verändern. So denke ich immer noch. Bush ist der schlechteste Präsident, den wir je hatten. Es geht nicht nur ums Öl, Bush glaubt wohl wirklich an Demokratie, und das ist das eigentlich Furchterregende. Aber das ist keine persönliche Angelegenheit von mir. Ich habe immer Distanz gewahrt, das war auch bei den Clintons so. Ich will von keinem Präsidenten zum Essen eingeladen werden. Aus diesen offiziellen Geschichten halte ich mich heraus. Abgesehen davon laden die mich sowieso nicht ein. Es gab noch nie einen Präsidenten, der mich leiden konnte. Ich nehme es als Kompliment.

Was wird ein neuer US–Präsident ändern können?
Nicht viel, fürchte ich. Wir werden einfach anfangen müssen, den Schlamassel zu beseitigen. Wenn Barack Obama gewählt wird, bekommen wir sicher ein besseres Image in der Dritten Welt. Aber Obama wird es wohl nicht werden. Ich bin überhaupt nicht sicher, dass die Demokraten gewinnen.

Sie klingen durch und durch pessimistisch. Glauben Sie nicht mehr an eine Wende in Washington?
Die Republikaner kontrollieren vieles in den Vereinigten Staaten, sie wollen wiedergewählt werden. Und die Demokraten haben in der Kriegsfrage kläglich versagt, sie sind in jede Falle getappt, die die Bush-Regierung aufgestellt hat. Und was Iran betrifft: Auch Barack Obama und Hillary Clinton stehen von seiten Israels und des American Jewish Committee, das einen Bombenangriff auf den Iran befürwortet, stark unter Druck. Da geht es um eine Menge Geld im Wahlkampf. Aber vielleicht kann Hillary uns überraschen, falls sie gewählt wird.

Sie sagen in Ihrer Berliner Preisrede, wie schmerzlich es ist, im Ausland die eigene politische Führung scharf zu kritisieren.Was ist für Sie ein Patriot?
Wollen Sie das im Ernst wissen? Es geht doch um Vertrauen. Ich belüge meine Frau nicht, ich belüge nicht meine Kinder. Was in der Familie richtig ist, muss auch für die Politik gelten. Man belügt die Menschen nicht. Daran haben sich auch diejenigen zu halten, die über Leben und Tod entscheiden. Johnson, Nixon, Kissinger, sie haben alle gelogen.

Wie würden Sie Tyrannei definieren?
Wir leben nicht in einer Tyrannei. Nein, so weit sind wir noch nicht. Die letzten sieben Jahre haben jedoch gezeigt, wie fragil die Demokratie ist. Eine sehr dünne Schale, aber zerbrochen ist sie noch nicht. Krieg ist immer eine korrupte Angelegenheit, und der Irak-Krieg ist der korrupteste Krieg, den wir je erlebt haben. Atemberaubend! Es wird alles herauskommen, irgendwann. Aber wichtiger für mich ist Iran. Wichtig ist der große strategische Zusammenhang.

Das Gespräch führten Rüdiger Schaper und Jacalyn Carley. (Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 28.09.2007)

A cellphone without borders (International Herald Tribune)

STATE OF THE ART
A cellphone without borders
By David Pogue
Published: September 27, 2007

It's amazing the way the Internet keeps toppling traditional businesses. Telegrams have gone away. Music CD sales are tanking. Newspapers are hurting.
One especially lucrative business, however, has somehow escaped the Internet's notice so far: international cellphone calls.

That's about to change. Early next month, a small company called Cubic Telecom will release what it's calling the first global mobile phone.

But first, some background. Cellphones from T-Mobile and AT&T rely on the same type of network (called GSM) that most of the rest of the world uses. In theory, then, you can take these phones to other countries and make calls as usual. (Most Verizon and Sprint phones work only in the United States.)

Unfortunately, international roaming runs from $1 to $5 a minute. A 20-minute call home from the Bahamas on a T-Mobile phone will set you back $60. The same call home from Russia on an AT&T cellphone will cost a cool $100.

Sure, you could always rent a phone or use a phone card when you travel — but then nobody knows how to reach you.

It costs a lot to dial overseas from here, too. Verizon charges $1.50 a minute for calls to most countries. AT&T's rates can be truly Dr. Seussian — like $2.52 to Greece, $2.80 to Iraq and $3.65 to Australia. That's per minute. Make one 20-minute call to New Zealand, and you owe $75 to AT&T.

Now, most carriers offer special international plans: you pay more a month, you get slightly lower roaming rates. But even they can't touch the appeal of Cubic's cellphone. It makes calls to or from any of 214 countries — for 50 to 90 percent off what the big carriers would charge.
On this phone, a 20-minute call from the Bahamas costs $5.80 (that's 90 percent off T-Mobile's rate). The Cubic price from Russia is 49 cents a minute (90 percent lower than AT&T).
And there's no monthly fee and no commitment for any of this. It works like a prepaid phone, where you put some money in your account and use it up as you talk.

At this point, the appropriate world traveler's response ought to be involuntary drooling, but there's more to the story. Most of it is more good news, but also more complexity.
For example, consider this: at the MaxRoam.com site from Cubic, you can request local phone numbers in up to 50 cities at no charge. Now you can have a Paris number, a London number and a Mexico City number that your friends overseas can use to call your cellphone.

No longer must you hand out a series of international phone numbers for each trip you make, or expect your colleagues in the United States to pay $50 a pop to reach you.

Cubic points out that this feature alone is a life-changer for people who have moved, for example, to the United States from overseas. Their family back home can keep in touch for the price of a local call.

I signed up for numbers in Paris, London and Barcelona, and then asked friends in those cities to call me. They dialed local numbers, and my phone rang in New York — very slick. Voice quality was typical of Internet calls: perfectly understandable, but slightly muffled, with a quarter-second to one-second voice delay.

Even that's not the end of this phone's possibilities. For a flat $42 a month, you can turn on its unlimited Wi-Fi calling option. It lets you receive unlimited unmetered calls to any numbers in the world from Internet hot spots, or make them for a penny a minute. Either way, you have little fear of racking up your bill.

This works on hot spots that require a password, but not ones that require a Web-page login. And in contrast to the new HotSpot@Home phones from T-Mobile, which seamlessly hand off calls between Wi-Fi and the cellular network as you move, the Cubic phone drops the call when you leave the hot spot.

Still, if you make a lot of international calls, this option could save even more money. The voice quality is excellent, although these Wi-Fi calls are sometimes marred by random beeps, clicks or dropped connections.

In some ways, the Cubic phone isn't just different; it's actually eccentric. As a phone without a country, it requires a country code and area code for every call, even next door.

(Page 2 of 2)
The bigger weirdness: when you dial a number and press send, your phone rings a few seconds later. When you answer, you hear a voice saying, "Connecting your call," and then you hear the other person answer.

That's the Cubic's big trick at work: It carries your call over the Internet. Therefore, placing a call just sets off Cubic's own system to call you back, avoiding the big carriers' expensive cellular networks.

This, too, takes getting used to, and it also adds about 25 seconds of waiting to every call. It helps if you keep chanting: "90 percent savings, 90 percent savings."
That's one reason you won't want to use the Cubic as your main cellphone. Here's another: everyday domestic calling rates haven't been determined yet, but will probably be a steep 15 cents a minute. Because there's no monthly fee, though, there's no reason you can't just keep the Cubic in a drawer until you travel (or place international calls). When you travel abroad, you can either forward your regular cellphone number to the Cubic, or change your voice mail greeting, instructing people to use your Cubic's number while you're away.

The Cubic phone itself isn't much to look at. It's a slab-style camera phone made by Pirelli — yes, the tire company — with clunky menus, a very slow start-up and a tendency to freeze.
But here's the other dizzying news: Cubic's cheap global dialing has nothing to do with the phone. The real magic is in the SIM card, the memory card that determines your account information.
So get this: For $40, you can buy this card without the phone. Cubic says that you can slip it into any GSM phone — even your regular T-Mobile or AT&T phone, as long as it's an "unlocked" phone (one that works with other companies' SIM cards). Then your own cellphone behaves exactly like the Cubic phone described up to this point, minus the Wi-Fi calling, of course.

This is a lot to absorb, and it's going to be tough for Cubic to explain all of it to the masses in a short tag line. (So far, it's going with "All Global Calls Are Local Calls." Not bad.) Maybe it would have done better to introduce one feature at a time.

You should know going in, too, that the company responsible for tearing down this bastion of outrageous roaming rates is a little group of 13 people in Ireland, with vast experience in calling cards but none in cellphone sales. Its plans are ambitious, disruptive — and incomplete. Several pieces of its system have yet to be slipped into place, including tech support, customer service, documentation, Internet data plans and domestic calling rates. But what the heck—here's a $140 phone, or a $40 SIM card, that can save you thousands of dollars a year. Depending on how many international calls you make, it could pay for itself in a week or a month.

If nothing else, this ingenious melding of the cellphone and the Internet should strike fear into the hearts of the giant corporations that are currently bleeding travelers dry. This is how the last great overpriced pre-Internet racket will end: not with a bang, but with a SIM card.

E-mail: pogue@nytimes.com

Tuesday, September 18, 2007

Nichts als die Wahrheit (fr)

Neun Männer - neun Lügen
Nichts als die Wahrheit
Oder doch nicht? Es war nicht nur Uwe Barschel, der etwas behauptete, das nicht stimmte. Irakkrieg, Bau der Mauer, Kokainkonsum – neun Männer, die mit ihren Lügen aufgeflogen sind.

Bill Clinton
Die Lüge:
"Ich hatte keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau - Miss Lewinsky."

Wann hat er das gesagt?
Am 26. Januar 1998 auf einer landesweit im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz im Weißen Haus. Zu diesem Zeitpunkt war seine Affäre zu der damals 24-Jährigen längst in der Öffentlichkeit. Lewinskys Freundin, die Sekretärin Linda Tripp, hatte Telefongespräche mitgeschnitten, in denen ihr Lewinsky von ihrer Affäre mit dem Präsidenten erzählte. Trotz dieser erdrückenden Beweise stritten sowohl Lewinsky als auch Clinton vor Gericht eine Beziehung ab.

Was passierte danach?
Gegen Clinton wurde ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet. Chefermittler Kenneth Starr beschuldigte den US-Präsidenten, unter Eid gelogen und Lewinsky zu einer Falschaussage gedrängt zu haben. Im August 1998 gab Clinton dann schließlich vor Gericht zu, "nicht angemessenen intimen Kontakt" zu seiner Praktikantin gehabt zu haben und löste damit weltweite Stammtisch-Diskussionen darüber aus, ob Oralverkehr bereits als Sex zu werten sei oder nicht.

Strafe:
Die Öffentlichkeit weiß heute bestens Bescheid über Clintons sexuelle Präferenzen und Vorliebe für Zigarren. Er selbst ist heute schmückendes Beiwerk im Wahlkampf seiner Frau Hillary, die als einzige die Affäre mehr oder weniger unbeschadet überstanden hat. kess

Mohammed Saeed al-Sahaf
Die Lüge:
"Es gibt keine Amerikaner in Bagdad."

Wann hat er das gesagt?
Am 7. April 2003 bei einer offiziellen Pressekonferenz von Mohammed Saeed al-Sahaf, dem irakischen Informationsminister in der Regierungszeit von Saddam Hussein. Die US-Truppen waren zu dem Zeitpunkt nur wenige hundert Meter vom Pressezenturm entfernt - und begingen nicht, wie von dem später als "Bagdad Bob" bezeichneten al-Sahaf zuvor konstatiert, "zu Hunderten Selbstmord vor den Toren Bagdads".

Was passierte danach?
Einen Tag später, am 8. April, hatte al-Sahaf seinen letzten öffentlichen Auftritt und betonte, die US-Amerikaner würden entweder aufgeben oder in ihren Panzern verbrennen. Da hatten Saddams Truppen bereits die Kontrolle über weite Teile Bagdads verloren. Am 9. April fiel die Stadt in die Hände der US-Truppen. Heute lebt al-Sahaf in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Berichten zufolge ist er im Juni 2003 von US-Truppen gefangen genommen worden, wurde aber mangels Anklagepunkten wieder freigelassen.

Die Strafe:
Seine furiosen Auftritte bescherten al-Sahaf vor allem in der Internet-Gemeinde Kultstatus. Fotomontagen zeigen ihn bis heute bei der Schlacht von Waterloo oder auf dem Todesstern der "Star Wars Trilogie". Der Verkauf von T-Shirts mit Bagdad-Bob-Sprüchen verlief allerdings eher schleppend.mel

Helmut Kohl
Die Lüge:
"Ich habe weder für mich noch für die Partei eine finanzielle Zuwendung entgegengenommen"

Wann hat er das gesagt?
Am 28. November 1999 im Interview mit der Bild am Sonntag. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen den ehemaligen CDU-Schatzmeister Leisler Kiep ein Verfahren eingeleitet - zunächst wegen Steuerhinterziehung. Die Regierung Kohl geriet im Laufe der Ermittlungen unter den Verdacht der Bestechlichkeit.

Was danach passierte:
Zwei Tage später gab Kohl an, dass er illegale Parteispenden in Höhe von 2,1 Millionen DM angenommen hatte. Zuvor hatte er noch von einer "üblen Kampagne" gegen ihn gesprochen. Die CDU-Spendenaffäre kam ins Rollen, fast täglich meldeten sich neue Zeugen, wurde über die Höhe der Spenden gerätselt. Doch Kohl blieb stur - und stumm. Der Ex-Kanzler versuchte es, wie so oft, mit Aussitzen. "Ich werde keine Namen der Spender nennen. Ich habe mein Ehrenwort gegeben und dazu stehe ich", wiederholte er gebetsmühlenartig im Parteispenden-Untersuchungsausschuss. Bis heute gibt er die Namen der Spender nicht preis.

Strafe:
Gerichtsverfahren wegen Verdachts der Untreue (2001 gegen Zahlung von 300 000 DM eingestellt). Verlust des CDU-Ehrenvorsitzes. Wohl am schlimmsten: die Kratzer am eigenen Denkmal. Der Mantel der Spenden-Geschichte verdeckt Kohls Image als "Kanzler der Einheit". büx

Colin Powell
Die Lüge:
"In der Tat belegen die Fakten, dass Saddam Hussein und sein Regime Massenvernichtungswaffen besitzen."

Wann hat er das gesagt?
Am 5. Februar 2003 vor dem Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen. Hier warb der damalige amerikanische Außenminister eindringlich für einen Krieg gegen den Irak. Stur und steif behauptete er, dass der Irak mit seinen Massenvernichtungswaffen eine Bedrohung für die Welt sei. In seinem laienhaften Vortrag präsentierte er sogar Satellitenfotos von Lastwagen mit angeblichen mobilen Biowaffen-Labors - Falschinformationen vom CIA.

Was passierte danach?
Gut einen Monat später begannen die USA und Großbritannien den Irakkrieg. Trotz intensiver Suche wurden keine Massenvernichtungswaffen gefunden.Strafe: Verlust der Glaubwürdigkeit. Colin Powell sagte später, diese Rede sei der "Schandfleck seiner Karriere". büx

Rolf Aldag
Die Lüge:
"Neee, um Gottes Willen! Ich hätte ja keine Nacht mehr ruhig schlafen können. Mich hat niemand kontaktiert, um mir etwas anzubieten."

Wann hat er das gesagt?
Anfang des Jahres 2007 in einem Interview des Radsport-Magazins Tour. Die Frage lautete, ob er jemals gedopt habe.

Was passierte danach?
Am 24. Mai 2007 gesteht Aldag während einer Pressekonferenz zwischen 1995 und 2002 "aktiv" nach Doping-Substanzen gefragt zu haben. Er habe das Blutdopingmittel Erythropoietin, kurz Epo genannt, gespritzt. Auslöser für sein Geständnis waren die Doping-Beichten seiner ehemaligen Teamkollegen Bert Dietz bei "Beckmann" und Christian Henn in der Frankfurter Rundschau.

Strafe:
Keine, da seine Vergehen bereits verjährt waren. Auch sein Arbeitgeber zog keine Konsequenzen: Aldag ist weiterhin Sportdirektor des T-Mobile-Teams. hu

Andreas Möller
Die Lüge:
"Ich bleibe bei Euch."

Wann hat er das gesagt?
Mitte Dezember 1989. Auf dem Rasen des Dortmunder Westfalenstadions schnappte sich der damals 22-jährige Fußballspieler ein Mikrofon und schwor der Borussia die Treue.

Was passierte danach?
Ein paar Wochen später, Anfang Februar 1990, wurde bekannt, dass Möller schon längst einen Fünf-Jahresvertrag bei Eintracht Frankfurt unterzeichnet hatte, für die er ab Sommer 1990 dann tatsächlich zwei Jahre spielte. Dann wechselte er, erneut vorzeitig, zu Juventus Turin.

Strafe:
Niemand glaubt ihm mehr. Als er später einen Elfmeter im Strafraum schindet, geht ein Aufruhr der Entrüstung durch die Öffentlichkeit. Der Nationalspieler wurde auf dem Boulevard als "Schwalben-Möller" bezeichnet. Und als er sich rechtfertigen wollte ("Das war eine Schutzschwalbe") erhält er einen weiteren Spitznamen: "Heulsuse Möller". kil

Walter Ulbricht
Die Lüge:
"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten."

Wann hat er das gesagt?
Auf einer Pressekonferenz am 5. Juni 1961. Die FR-Journalistin Annemarie Doherr hatte Ulbricht gefragt, ob die DDR eine Grenze am Brandenburger Tor mit "allen Konsequenzen" errichten werde.

Was passierte danach?
Keine zwei Monate später, am 13. August 1961, ließ Ulbricht in Berlin die Mauer bauen. Ulbricht und Genossen nannten sie "antifaschistischer Schutzwall". Mit dem würde man die DDR vor "Unterwanderung und Aggression aus dem Westen" schützen. In Wirklichkeit schützte sich die Staatsführung mit Mauer und Stacheldraht vorwiegend gegen die eigenen Bürger. Über 120 Menschen sterben an der deutsch-deutschen Grenze.

Strafe:
Posthum. Nach 28 Jahren, in der Nacht zum 9. November 1989, stürmen DDR-Bürger die Mauer. Ulbrichts Traum von der "sozialistischen Menschengemeinschaft" ist gescheitert. büx

Hugh Grant
Die Lüge:
"Das war eine gute Bekannte von mir. Wir haben nichts gemacht, nur einen Parkplatz gesucht."

Wann gesagt:
Am 27. Juni 1995 auf der Polizeiwache in Hollywood und später zu Journalisten. Grant war mit der Prostituierten Divine Brown nachts um halb zwei in einer Seitenstraße vom Sunset Boulevard in seinem BMW-Cabrio in flagranti erwischt worden. Beide wurden wegen Sexs in der Öffentlichkeit festgenommen.

Was danach passierte:
Pünktlich zum Start seines Films "Nine Months" gab sich der Schauspieler dann doch reumütig und entschuldigte sich öffentlich in Jay Lenos Late-Night-Show. Der 47-Jährige verschwand allerdings erstmal für drei Jahre von der Leinwand, feierte dann aber mit "Notting Hill" und "Bridget Jones" ein Comeback. 2003 gewann er den Golden Globe für "About A Boy".Divine Brown wurde mit einem Schlag berühmt und verdiente nach eigenen Angaben über eine Million Dollar mit Interviews, Model-Jobs und Fernsehauftritte. Grant hatte ihr damals 60 Dollar gezahlt.

Die Strafe:
Der 47-Jährige musste 1180 Dollar Strafe zahlen und bekam zwei Jahre auf Bewährung. Das Bild von seiner Festnahme erschien weltweit in allen Medien. Und: Seine Freundin Liz Hurley verließ ihn schließlich. Sie hat inzwischen geheiratet, Grant ist immer noch Single. kess

Christoph Daum
Die Lüge:
"Ich tue dies, weil ich ein absolut reines Gewissen habe."

Wann hat er das gesagt?
Am 9. Oktober 2000, unmittelbar vor seiner freiwilligen Abgabe einer Haarprobe. Dem Fußball-Trainer war Drogenmissbrauch vorgeworfen worden. Daum wehrte sich gegen die Behauptung und ließ, um seine Unschuld zu beweisen, eine Haarprobe analysieren. Die Probe war positiv.

Was passierte danach?
Daum verließ Deutschland fluchtartig und verbrachte mehrere Monate in den Vereinigten Staaten. Sportlich folgte ein dramatischer Absturz. Eigentlich sollte er nach der verpatzten Europameisterschaft 2000 Bundestrainer werden. Doch der Deutsche Fußball-Bund löste am 21. Oktober 2000 die Vereinbarung auf, selbst der damals mächtige Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder ging auf Distanz.

Strafe:
Das Verfahren vor dem Landgericht Koblenz wegen Erwerb von und Anstiftung zum Handel mit Kokain wurde gegen Zahlung einer Geldbuße in Höhe von 10 000 Euro eingestellt. Sportlich hält die Bestrafung noch immer an. Daum fand nie wieder einen Job in der Bundesliga, arbeitete einige Jahre in der Türkei und Österreich, kehrte aber vor einem Jahren nach Deutschland zurück. Inzwischen arbeitet er als Cheftrainer des 1. FC Köln, einem Verein aus der zweiten Liga. Als Bundestrainer ist er nie wieder ins Gespräch gebracht worden. jö

'Belgium? Something that does not exist' (Guardian)

'Belgium? Something that does not exist'
Political fault lines divide nationLong-running crisis could lead to nation separating into Flanders and Wallonia
Ian Traynor in SteenokkerzeelMonday September 17, 2007The Guardian

Flemish separatists hold posters demanding an end to Belgium outside the Flemish parliament. Photograph: Dominique Faget/AFP/Getty Images

Willy the florist has had enough of his kingdom. He is an unwilling subject of an unloved country. A middle-class father of 12-year-old twins running a thriving flower business in this small Dutch-speaking town on the eastern fringe of Brussels, Willy is reduced to obscene gesturing by the very mention of his country.

"Belgium?" he splutters. "That's something that doesn't exist. The national anthem? Nobody knows it. Nobody can sing it. The king? A parvenu. A dysfunctional family. We're not going to take it any more."

Willy is Flemish and proud of it. His native language is Dutch but like many Belgians he also speaks French and English. When he goes into Brussels on business, he complains, they call him a racist if he speaks in his own tongue.

He says French-speaking nurses wouldn't help his Dutch-speaking boy in hospital recently. And his comatose 80-year-old neighbour who was rushed to hospital? Same story. His wife didn't speak French and the doctors wouldn't speak Dutch. And if Willy - "don't use my full name, I've got a business to run here" - needs to go to court, that too will be in Brussels and the judges will speak French.

"The Flemish have shut up for too long. But now it's come to the point where we're not stupid any more. This country's sick. It's dying. Not right away. But it's terminal. Little by little, it's over. We will separate in the end."

A whiff of the Balkans is wafting through the heart of the EU. Belgium, a kingdom created by the great powers 177 years ago to keep the Dutch in their place and as a buffer between France and Germany, is falling apart.

It has always been a battlefield. From Waterloo to Passchendaele and the Ardennes, the superpowers of their day brought their wars to Belgium. Now Belgium is under attack from within.

"There's no Belgian sentiment," says Filip Dewinter, the leader of the Vlaams Belang party of extreme Flemish nationalists. "There's no Belgian language. There's no Belgian nation. There's no Belgian anything."

Plausible

Earlier this week, Mr Dewinter tried to gather support for a referendum on independence for Flanders, the larger, wealthier northern part of Belgium. His attempt in the Flemish parliament failed because the mainstream parties do not want to be associated with a party viewed as extremist, racist and rabble-rousing.

But opinion polls show support for an independent Flanders running at over 40% and rising. A country called Flanders is an entirely plausible prospect - a wealthy, successful, diligent country of six million. A smaller version of Holland. The mainstream Flemish parties currently struggling to form a government are also nationalist.

The crisis is a result of political failure and lack of leadership in a small country top-heavy with politicians. In a Belgium of 10.5 million people, there are 11 parties in the national parliament. Then there are another five parliaments organised on regional and linguistic criteria. There is not a single national politician or leader (bar King Albert) or a single national political party that straddles the linguistic and cultural north-south divide between Flanders and the southern region of francophone Wallonia.

"I don't know any federal state where you don't have national parties. Here the parties are purely local," says André Sapir, head of the Bruegel think tank in Brussels. "We are a federal state, but we have less and less of a common political framework."

Defining "Belgianness" is becoming a sorry national sport with loyalists struggling to come up with unifying factors or symbols that reinforce national identity apart from the underwhelming national football team or the royal family.

Geert Beekkman, however, is a Fleming who prefers a united Belgium to an independent Flanders. The air traffic controller at Brussels airport blames the crisis on the country's elites.
"How can you divide a country of 10 million into two countries? And what do you do about Brussels? It's the politicians. They've just decided it's better to split the country."

Indeed, it's the political paralysis that is producing a Balkanised Belgium. One hundred days after national elections, Belgium is rudderless, its rival Dutch- and French-speaking politicians unable to agree on a new coalition of Christian Democrats and Liberals.

The Flemish Christian Democrat leader, Yves Leterme, won the elections and should be the new prime minister. But he is unacceptable to the Walloons because he is an ardent champion of greater autonomy for Flanders.

The Walloons want to keep Belgium because they get much more out of it. The public sector is twice as big in Wallonia as in Flanders, unemployment at 17% is also double the Flemish rate. Flanders is wealthy, successful, bigger and votes for the right, complaining endlessly that it is being hobbled by transfers of public money to Wallonia, which is smaller, poorer and tends to vote for the left.

French-speaking socialists have run Wallonia for a long time (although they lost in June) and Flemish nationalists quip that Wallonia is the last Soviet republic in Europe.

Parallel worlds

The verbal abuse on both sides is turning nasty. Many Flemish disparage the Walloons as lazy spongers who are too stupid to learn Dutch. Historically, the French speakers were the Belgian elite, lording it over the Flemish whom they viewed as country bumpkins. Beyond Brussels, the French- and the Dutch-speakers inhabit parallel worlds that rarely intersect or integrate.

The tectonic plates of Germanic and Latin Europe rub up against each other along the line that separates Flanders from Wallonia just south of Brussels. The tremors are getting worse.

As the estrangement deepens, the city of Brussels runs in the opposite direction as Belgium's melting pot, which immensely complicates the strategies of separatists. The prospering EU capital is also home to Nato headquarters and a large immigrant population mainly from central Africa. Historically, Brussels is a Flemish city, but now it is a large French-speaking enclave in Flanders.

If push comes to shove, neither side would surrender Brussels, fuelling talk of extra-territoriality, turning the city into a post-national "capital of Europe".

"Brussels is the last obstacle," says Bart De Wever, a Flemish party leader. "We would have divorced years ago if it wasn't for Brussels."

Alleged killer of Litvinenko /Guardian/

Alleged killer of Litvinenko to start new career in politics·
Far-right party practically guarantees him a seat· As a Duma member ex-spy would enjoy immunity
Luke Harding in MoscowMonday September 17, 2007The Guardian

The former KGB spy accused of murdering the Russian dissident Alexander Litvinenko said yesterday he intended to embark on a new career as a politician and would stand for parliament in the Russian election in December.

Andrei Lugovoi said he would run as a candidate for the Kremlin-supporting ultra-nationalist Liberal Democratic party. The party confirmed it had placed him second on its party list - a move that virtually guarantees him a seat as an MP.

As a member of Russia's Duma (lower house), Mr Lugovoi would automatically enjoy immunity from prosecution. In reality this makes no difference since the Kremlin has categorically refused Britain's request to extradite Mr Lugovoi to the UK.

Britain now faces the prospect of watching Mr Lugovoi present himself in parliament as a heroic Russian patriot doing battle against evil British spies. His decision to enter politics could hardly have been made without Kremlin approval. It comes after Vladimir Putin dismissed Britain's attempts to prosecute Mr Lugovoi as "stupidity" and "colonial thinking".

Yesterday the Liberal Democratic party's flamboyant leader, Vladimir Zhirinovsky, shrugged off Mr Lugovoi's alleged crimes. He described British charges against Mr Lugovoi as "an attempt to organise provocations against our citizens."

Mr Lugovoi is suspected of persuading Litvinenko to sip a cup of poisoned tea at a London hotel. Litvinenko ingested a large dose of radioactive polonium-210 and died three weeks later. In a deathbed statement he accused Vladimir Putin of organising his murder - denied by the Kremlin.

In July the foreign secretary, David Miliband, expelled four Russian diplomats from London in protest at the Kremlin's refusal to hand over Mr Lugovoi. All four worked for the successor organisation to the KGB, a clear signal that British authorities strongly suspect that Russian intelligence agencies had a hand in the murder.

The Kremlin responded by kicking out four British diplomats in Moscow, and with the launch of a domestic propaganda offensive, blaming Litvinenko's murder on MI6 and the Kremlin critic and exiled former oligarch Boris Berezovsky.

Mr Lugovoi has given numerous interviews insisting on his innocence. But he has failed to explain convincingly why he left a trail of polonium leading from Moscow to central London.
Mr Lugovoi's lawyer said he had filed a lawsuit against the daily newspaper Kommersant over a report which referred to Litvinenko as Mr Lugovoi's "victim".

Der gescheiterte Ostfeldzug (Berliner Zeitung)

Der gescheiterte Ostfeldzug
Jörg Magenau über die wechselhafte Geschichte der "tageszeitung" - und den Wandel ihres Umfelds
André Meier

Aus propagandistischer Sicht ist dieses Buch ein Selbstläufer. Gibt es doch hierzulande kaum eine Redaktion, in der sich nicht wenigstens ein Journalist findet, der seine berufliche Initiation in der von Jörg Magenau porträtierten taz erfahren hat. Und so nimmt es nicht Wunder, dass Magenaus soeben erschienenes Buch auf einer Welle von wohlwollenen Rezensionen in die Buchhandlungen surfen durfte. Fand sich doch fast überall ein ergrauter Extazler, der das Werk zum Anlass eigner, von Anekdoten gespickter sentimentaler Rückschau nahm.

Das könnte hier seine Fortsetzung erfahren, denn auch diese Rezension schreibt ein Ehemaliger. Nach dem Mauerfall war die taz die erste Westinstitution, die ich aus der Innenansicht kennen lernen durfte. Und durchaus dankbar denk ich an die Abende in der Kreuzberger Kochstraße zurück, an denen mich der taz-Archivar in die Finessen maßvollen Drogenkonsums einweihte oder an die Kollegin, die mir ihr Futon anbot, damit wir dort den Vollzug der deutschen Einheit im Selbstversuch durchspielen konnten. Aber mit solchen Geschichten würde man Magenau unrecht tun. Denn er liefert eben nicht ein mit Insiderwitzen gewürztes Brigadetagebuch, keine launige Betriebschronik, sondern eine sorgfältig recherchierte und trotzdem unterhaltsame Fallstudie.

Die Entstehung der taz ist untrennbar mit dem Herbst 1977 verbunden. Damals, als der Terror der RAF seine blutige Klimax fand und der bundesrepublikanische Staat im Gegenzug den Druck auf das mutmaßliche Sympathisantenumfeld forcierte, sah sich die westdeutsche Linke mit einer der Staatsraison huldigenden Medienwelt konfrontiert. Was spürbar fehlte, war ein eigenes Sprachrohr. In diese Lücke stieß ein Jahr später die linksalternative "tageszeitung". An diesem Gründungsmythos rüttelt Magenau nicht, doch er beschreibt die taz zugleich als "Heimkehrer-Projekt". Denn, "der bürgerlichen Öffentlichkeit ein eigenes Medium entgegenzusetzen, bedeutet auch an ihr teilhaben zu wollen."

Dieses Dilemma, so macht Magenau deutlich, prägte das Blatt über Jahrzehnte. Immer wieder verwiesen um öffentliche Reputation bemühte taz-Redakteure in internen Positionspapieren auf die großbürgerliche FAZ als Muster journalistischer Sorgfaltspflicht, und immer wieder rebellierten die unterschiedlichsten Fraktionen im Haus gegen den Versuch, dem verhassten Vorbild nachzueifern und den anarchischen Betrieb unter dem Deckmantel der Professionalisierung zu hierarchisieren.

Es dauerte elf Jahre ehe sich so etwas wie eine Chefredaktion etablierte, und noch länger, bis der karge Einheitslohn kippte. Begleitet wurde der lange Marsch in die Normalität durch endlose Diskussionen und bis aufs Messer geführte Grabenkämpfe. Lautes Türknallen, übelste Schmähungen, Schrei- und Weinkrämpfe waren an der Tagesordnung. Wer in der taz seine debattenkulturelle Schulung erfuhr, war für den Rest seiner Laufbahn gerüstet. Oder, wie Magenau es süffisant formuliert: "In diesem kollektiven Trainingsgelände dominierten individuelle Überlebenstechniken, die das Menschenbild des Liberalismus bestätigten, wonach das Gemeinwohl sich aus der Summe der Eigeninteressen ergibt". Doch allen Selbstzerfleischungsritualen zum trotz konnte sich die taz am Markt behaupten und mit den Jahren sogar vom geschmähten und geschnittenen Szeneblatt zu einem allseits respektierten Ideengeber der Branche mutieren.

Als im September 2003 BILD-Chefredakteur Diekmann, Ex-Bürgermeister Diepgen, Ex-BDI-Chef Henkel und Guido Westerwelle für einen Tag in der Kochstraße das Zepter übernahmen, um eine "Feindes-taz" zu erstellen, war dies natürlich ein spektakulärer Werbegag, aber auch Beleg dafür, dass das bundesrepublikanische Establishment längst seinen Frieden mit dem ehemals von Verfassungsschutz überwachten Blatt gemacht hat.

Die großen Probleme, für die die kleine Zeitung aus Kreuzberg früher scheinbar die Exklusivrechte besaß, werden heute überall debattiert. Fleischlos essende, gleichgeschlechtlich liebende, antiautoritär erziehende und Ökostrom einspeisende Zeitungsmacher findet man längst auch in der Springer-Kantine. Dies ist, so Magenau, auch ein Verdienst der taz, die mithalf, ehemals als links und alternativ etikettierte Themen in die Mitte der Gesellschaft zu bugsieren. Originär und radikal ist das Blatt heute im besten Fall noch stilistisch. "Es ist ein Mädchen" titelte die taz zu Angela Merkels Kanzlerwahl und wird es vermutlich als Auszeichnung empfunden haben, dass man über diesen Spaß besonders herzhaft im Konrad-Adenauer-Haus lachte.

Und da wir nun schon bei den Ostlern sind, sei schlussendlich auch daran erinnert, dass die taz als erstes den Sprung über die bröckelnde Mauer wagte. Im Februar 1990 startete sie eine eigene DDR-Ausgabe, die freilich schon bald nach der Währungsunion ihr Erscheinen wieder einstellen sollte. Immerhin brachte dieses Abenteuer der notorisch klammen Zeitung einen Reingewinn von 300 000 DM, zugleich aber auch die Erkenntnis, dass die Ostler die beinharte Aufklärungsarbeit der taz kaum goutierten. Verständlich, hauten ihnen doch Ex-Maoisten und Ex-Trotzkisten die DDR-Geschichte plötzlich mit derselben selbstgerechten Verve um die Ohren, wie weiland der eigenen Elterngeneration deren verdrängte Nazivergangenheit. Für solche nassforsche Lektionen gab nur leider kaum jemand am Kiosk sein schönes neues Westgeld aus.

Magenau räumt dem Ostfeldzug der taz viel Raum ein. Aus seiner Sicht vollzog sich hier eine Art "Kulturkampf"; an dessen Ende war die taz "ein für alle Mal Westzeitung". Aber vielleicht bewies sie hier nur wieder einmal ihre Avantgarderolle. Scheiterten doch in der Folgezeit unzählige West-Ost-Annäherungen nach analogem Muster.

André Meier ist Journalist. Er war nach dem Mauerfall Redaktionsleiter der Ost-Tageszeitung.
Berliner Zeitung, 18.09.2007

Monday, September 17, 2007

Männer allein zu Haus (Berliner Zeitung)

Männer allein zu Haus
Im deutschen Osten wandern die jungen Frauen ab
Regine Sylvester

Onk, Onk, Onk, Onk. Das sind die Bässe. Junge Männer kreisen in ihren Autos um den kleinen Marktplatz von Ueckermünde. Sie drehen die Musik bis zum Anschlag auf, Fenster sind offen. Motorradfahrer spielen im Leerlauf mit dem Gas, ein Heulen geht durch die Gassen. Der Chef vom Hotel stürzt heraus und droht mit der Faust. Wenn die jungen Autofahrer größere Runden drehen, über die Eggesiner oder die Anklamer oder die Berliner Straße, dann rasen sie und tauchen auf der Überholspur in den dröhnenden Sound aus anderen Autos ein. Man hört lange solche Geräusche, bevor man denkt: Das ist hier eine Jungsgegend. Nicht die einzige.

Zuerst sieht man es nicht. Ein Gespenst geht um im deutschen Osten, es hat zwei Gesichter: Männerüberschuss und Frauenmangel. In einigen Regionen kommen auf einhundert Männer nur noch siebzig Frauen. Die Frauen sind abgewandert - in die großen Städte, in den Westen, ins Ausland.

Unsere soziale Wahrnehmung ist nicht trainiert, den Männer- und Frauenanteil in einer Umgebung zu registrieren. Von Ausnahmen abgesehen, gehört ein bestimmtes Ungleichgewicht zur allgemeinen Erfahrung: In einem Gasthof stehen mehr Männer am Tresen. Neben Kinderspielplätzen sitzen mehr Frauen auf den Bänken. Mehr junge Männer sehen sich den Robot-Film "Transformers" an, Mädchen gehen eher in Liebesfilme. Bei den überhitzten Konzerten von Tokio Hotel stehen vier Jungs auf der Bühne, und deutlich mehr Mädchen fallen im Publikum in Ohnmacht. So kennt man es. An kaum einem Ort mischen sich die Geschlechter zu gleichen Teilen.

Da ja immer ungefähr so viele Mädchen wie Jungen geboren werden, müsste es eigentlich aufgehen, wenn die später Paare bilden möchten. Wir haben keinen Krieg, der durch Gefallene und Gefangene zu einem Frauenüberschuss führt. Hier lebt kein Stamm, der einem anderen Stamm die Frauen raubt. Wir hatten nie eine Kultur, die traditionell männliche Nachkommen bevorzugt und deshalb die barbarische Tötung weiblicher Föten und Babys duldet. Trotzdem stimmt in den neuen Bundesländern das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern nicht mehr. Zu viele Männer. Das steht in einer wissenschaftlichen Studie. Ich bin ihr im echten Leben auf der Spur.

"Wirklich?", fragt die Kellnerin vom "Bella Italia" am Schweinemarkt. "Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Aber wenn ich mal überlege - ja, hier sind mehr junge Männer."

Ueckermünde. 10 500 Einwohner, früher 12 000. Die meisten sind schon älter. Bei den 18- bis 25-Jährigen - Anfang 2006 nur noch 943 Personen - waren 504 junge Männer und 439 junge Frauen. Ein Unterschied von mehr als zehn Prozent. Und im gesamten Landkreis Uecker-Randow mit vielen kleinen Ortschaften kommen in derselben Altersgruppe auf hundert Männer nur noch 77 Frauen, das sind dann schon fast 25 Prozent. Ein deutlicher Unterschied.

Es ist Zufall, dass ich in Ueckermünde bin. Die Stadt liegt in einer Gegend, die beim Thema demografischer Wandel als Beispiel genannt wird. Wie viele andere Gegenden. Ich hätte auch in die Landkreise Löbau-Zittau oder Elbe-Elster fahren können, in die Lausitz, ins Vogtland oder nach Südthüringen - der ländliche Raum ist ein Krisengebiet: Beinahe überall gibt es das Phänomen - die jungen Frauen ziehen weg, und dadurch steigt der Anteil junger Männer.

Fast immer geht es um Arbeit.

Ende Mai 2007 veröffentlichte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung eine Studie: "Not am Mann. Vom Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht? Lebenslagen junger Erwachsener in wirtschaftlichen Abstiegsregionen der neuen Bundesländer."

Die Autoren Reiner Klingholz und Steffen Kröhnert untersuchen Ursachen und Folgen der Wanderungsprozesse. Sie kommen zu bestürzenden Schlüssen: "Der Zusammenbruch des überkommenen DDR-Wirtschaftssystems, der Niedergang alter Wirtschaftsbranchen und der damit verbundene Strukturwandel produzierten mehr männliche als weibliche Verlierer." Junge Männer ohne Frauen neigen zu Alkohol und Rechtsextremismus. "Ein schlechter Arbeitsmarkt scheint junge Frauen geradezu anzuspornen, mehr in der Schule zu leisten und so die Jobchancen zu verbessern. Jungen reagieren auf diesen Einfluss nicht. Sie beantworten eine hohe Jugendarbeitslosigkeit mit nicht messbaren Bildungsanstrengungen." Auffallend sei bei jungen Männern "das Fehlen jeglicher Lebensziele". Inzwischen fehle es "schlicht an Männern, die den Ansprüchen der Frauen genügen würden".

Ein Junge humpelt auf einer Straße in Ueckermünde, er ist vielleicht achtzehn Jahre alt. Ganz blass, ganz dünn. Thor-Steinar-Shirt. Er zieht hörbar am Stummel seiner Zigarette. Ein Hosenbein hat er hochgekrempelt, der Unterschenkel ist in durchsichtige Folien eingewickelt. Er weint fast, und ich frage, was passiert ist. Er zeigt seine rechte Wade: frisch und farbig durchtätowiert. Er sagt, dass es noch sehr wehtut, und ich sage, dass es schön bunt aussieht. Jetzt freut er sich, sagt: "Sechzehn Euro!", humpelt weiter. Die beiden jungen Frauen vom Second-Hand-Laden lachen: "So sind hier viele. Saufen, kiffen und Hartz IV. Männer um die zwanzig - oh oh oh! Würden Sie so einen haben wollen? Wir nicht."

Angefangen haben die Forscher als Beobachter vor Ort: Die wirtschaftlichen Verhältnisse studiert, Leute gefragt und Leute durchgezählt: Wie viele Männer und Frauen in der Zielgruppe der 18- bis 29-Jährigen gehen in Restaurants, zu Volksfesten, auf Diskos? Die Zufallsstichproben ergaben eine eindeutige Tendenz: Da waren immer weniger junge Frauen unterwegs als junge Männer. Die Forscher haben die Beobachtungen mit Hilfe statistischer Methoden auf Plausibilität untersucht, mit vielen anderen Daten abgeglichen und nachgedacht. Dann schrieben sie ihre Studie.

Man kann sie im Internet runterladen und selber lesen, dass im deutschen Osten eine Situation entstanden ist, die es noch nie in der deutschen Geschichte gab und die man an keinem anderen Ort in Europa findet - auch in den entlegensten und frostigsten Gegenden kommt ein solcher Frauenmangel nicht vor. Je jünger die Auswanderer sind, umso stärker wird die Dominanz der Frauen. Nur bis zum Alter von sechzehn ist die Bilanz noch ausgeglichen, bis dahin ziehen Kinder normalerweise mit ihren Eltern um.

Debora ist neunzehn, eine wache, fröhliche und hübsche junge Frau. Sie arbeitet als Kellnerin bei "Whisky and Cigarres" und wirkt wie geboren für den Beruf - alles im Auge, flinke Füße, sehr beliebt. Auch von Dr. Rainer Prange, Arzt und Stammgast, wird sie zur Begrüßung umarmt.
Gerade hat Debora eine Wohnung in Berlin gefunden und wird umziehen. Von zwanzig Freunden sind noch drei hier. "Ich liebe meine Arbeit über alles", sagt sie. "Aber man sieht fast nur noch Rentner. Die Jungs hier sind sehr muttihaft, so rockzipfelmäßig. Oder sie lassen sich von ihren Cliquen leiten, was auf Saufen hinausläuft. Ich kenne hier kaum Bengels, die Real haben, geschweige denn Abitur. Ich kenne überhaupt keinen Jungen, der liest. Da bin ich anders, das habe ich von meiner Mutti. Vom Feeling her bin ich ein Großstadtmensch, deshalb will ich nach Berlin. Ich lege mich da lieber auf das Badeschiff als hier ans Haff. Aber wenn ich achtzig bin, komme ich bestimmt nach Ueckermünde zurück, um hier meine Ruhe zu haben."

Dr. Prange denkt viel über den Wegzug junger Menschen nach. In Hamburg trifft sich die Jugend von hier schon in einem speziellen Viertel: Einer zieht den anderen nach. Der Arzt hat zwei Söhne von 30 und 24 Jahren und eine Tochter von 28, "alle gleich intelligent". Seine Söhne, sagt er, sind Spätstarter und bodenständig, sie lassen sich gerne von der Mutter verwöhnen. "Wir", solidarisiert sich dieser Mann von 54 Jahren, "müssten in der Schule stärker geführt werden. Sonst gibt es unter uns zu viele Versager." Seine Tochter ging mit achtzehn als Au-pair-Mädchen nach Amerika, dann nach London, um Business-Englisch zu lernen, dann studierte sie in Gießen, und jetzt macht sie ihre Famulatur in der Schweiz.

Seit 1989 sind 1,5 Millionen Menschen aus den neuen Bundesländern weggezogen. 735 000 Männer. Aber 866 000 Frauen. Bei den 18- bis 24-Jährigen, also bei der wanderungsaktivsten Gruppe, wanderten ein Drittel mehr Frauen als Männer ab. Söhne, wenn sie sich irgendwie einrichten können, bleiben. Töchter, wenn sie irgendwie weiterkommen wollen, gehen.
Der Taxifahrer staunt über meine Beobachtungen, bis ihm einfällt, dass seine Mädchen ja auch nach Hamburg gegangen sind, die eine zur Lehre, die andere zum Studium. Die beiden Damen aus einem Einrichtungsgeschäft sind sehr stolz auf ihre Töchter, die Juristin, Ökonomin, Malermeisterin und Religionsstudentin geworden sind. "Sie gingen weg wegen der Arbeit, und sie kommen nicht wieder. Obwohl sie lieber geblieben wären. Inzwischen sind wir hier die Jüngsten - mit fünfzig!"

Die Bürgermeisterin Heidi Michaelis, eine elegante und lebhafte Frau von 57 Jahren, hat ihr Büro im Schloss. Ich darf auch ohne vorherige Verabredung zu ihr hinein und nach der Lage in der Stadt fragen.

"Das Problem ist die Arbeit, die Arbeit, die Arbeit", sagt sie. "Ein Staat muss sich dafür verantwortlich fühlen, er darf das nicht allein der Wirtschaft überlassen. Und wenn der Osten schon keine Arbeitsplätze schaffen kann, dann muss er eben der Dienstleister von Deutschland werden. Im medizinischen Bereich. In der Altenpflege. Oder auch mit neuen Ideen: Warum kann unsere Region nicht die überfüllten Gefängnisse im Westen entlasten? Stattdessen werden wir unsere Justizvollzugsanstalt schließen. Wir könnten 40 Plätze in der Gerichtsmedizin ausbauen und so die Arbeitsplätze in der JVA ersetzen. Aber wir bekommen keine Genehmigung. Das Problem ist dieser Scheißföderalismus." Man merkt, Frau Michaelis ist bei den Linken. "Jetzt fragt mich jeder, was macht ihr, damit es nicht noch weniger junge Frauen werden? Soll ich den Leuten sagen, sie mögen ins Bett gehen und bitte, bitte mehr Mädchen machen?"

Beim Buchhändler sitzt eine Besucherin aus Berlin. Sie hat gestern gemerkt, welche Chancen hier ein weiblicher Neuzugang hat. Als sie aus dem Zug gestiegen ist, begrüßten sie gleich mehrere junge Männer: "Schöne Frau, schöne Frau!" Sie hatte ein gutes Gefühl.

Mirko, 27, Hochbaufacharbeiter, zwei Umschulungen, ist seit Januar arbeitslos. Gestern hat er dem Opa zwei Bänke repariert, heute wird er einem Freund beim Hausbau helfen. Mirko steht auf dem Platz vor der Freiwilligen Feuerwehr und unterhält sich mit Mattias, den er vom Segeln kennt. Der ist 16 und trägt, was hier auffällt, längere Haare. Er geht aufs Gymnasium und hat grade Ferien. Mattias will später zur Marine, weil die Armee am besten ist, wenn man im Osten bleiben will. Er ist gut in der Schule, versteht sich mit seinen Eltern, trinkt kaum und nutzt jede freie Minute für Sport. Um einen wie ihn muss man sich keine Sorge machen.

Mirko hatte sechs Jahre lang keine Freundin, weil er in vielen Städten einer Arbeit nachgezogen ist. Manchmal ging eine Klitsche pleite, dann verdiente er gar nichts. Von seiner jetzigen festen Freundin erzählt er mit Stolz- "die Meine liest viel" - und sagt, dass er eine treue Seele ist. Mattias hat immer Freundinnen, was in seinem Alter, bei seinem Dienst als Rettungsschwimmer und bei seinem Prinzengesicht als unausweichlich erscheint.

Aber der Mädchenmangel in der Gegend ist beiden bekannt. "Wenn man sich in der Disko umdreht, sieht man einen Mann mit einem Bier in der Hand." In einer Abiturklasse am Gymnasium sind 17 Jungen und nur noch ein Mädchen. "Die Mädchen laufen weg", sagt Mirko. "Dafür können wir aber nichts", sagt Mattias.

In Ueckermünde ist es sehr schön.

Zum Strand am Kleinen Haff kann man einen stillen Weg durch duftende Wiesen und Koppeln nehmen. Dazwischen liegen schnurgrade Wasserläufe, von fern sieht es aus, als glitten die Segelboote durch Büsche und Bäume. Der historische Stadtkern und das alte Bollwerk sind saniert, über der Altstadt erhebt sich das ehemalige Pommersche Herzogschloss, daneben steht die barocke Marienkirche, in der am Abend die Glory Gospel Singers aus New York auftreten. Die Stadt sieht aus wie frisch gewaschen, auch außerhalb ihres kleinen Zentrums. Die Bürgermeisterin sagt, dass aus der Städtebauförderung seit 1990 25,9 Millionen Euro nach Ueckermünde gegangen sind. Hafenanlage, Ärztehaus, Arbeitsamt, Berufsförderungszentrum - alles wie neu. Und es ist Sommer.

"Jetzt muss man sich ein bisschen Speck anfuttern, im Winter gibt es kaum Touristen", sagt Michael Brückner, 36, der Geschäftsführer vom Hotel am Markt. Er redet nicht gern mit der Presse, weil der Osten da oft schlecht wegkommt. Er zeigt einen Text aus dem Handelsblatt über seine Stadt. Den haben sich hier viele Bürger empört weitergereicht, und der Text beginnt so: "Typisch! Da stehen sie nun rum, die Nichtsnutze. Im Trainingsanzug. Die Pulle in den Hals geschraubt. Die Augen weit aufgerissen. Zwischen tristen Plattenbauten. Hallo Erich!"
Michael Brückner ärgert auch sehr, dass da steht, in seinem Hotel gebe es angeblich eine Sauna. "Wieso denn angeblich? Wir haben eine Sauna! Die hätte sich dieser Journalist doch einfach mal ansehen können!"

Im Sommer kommen der Mann und seine Leute der Arbeit im Hotel und Restaurant kaum hinterher. "Im Winter ist viel weniger zu tun, da muss ich von meinen 23 Angestellten welche entlassen. Die Frauen im Osten sind so erzogen, dass sie arbeiten wollen. Die bleiben nicht ein halbes Jahr zu Hause sitzen. Also suchen sie sich woanders eine Anstellung."

Die Mädchen im Osten hatten Mütter, die arbeiten gingen. In den Achtzigerjahren lag die Erwerbsbeteiligung von Frauen in der DDR bei 78 Prozent, in der Bundesrepublik bei 55,5 Prozent. Der Unterschied lebt im sozialen Gedächtnis weiter. Eine höhere weibliche Erwerbsneigung hat sich auch nach der Wende erhalten.

Bundesweit erzielen Mädchen und junge Frauen bessere, im Osten sogar deutlich bessere Schulabschlüsse als ihre männlichen Altersgenossen. "Gerade in den wirtschaftsschwachen Landstrichen stellen Frauen einen besonders hohen Anteil unter den Abiturienten, mit der Folge, dass dort auch die Frauenabwanderung am stärksten ausgeprägt ist", heißt es in der Studie "Not am Mann".

Das Zeit-Magazin zeigte eine Deutschlandkarte, verbunden mit der Frage: "Wo wird was gegoogelt?" Nirgendwo anders als in Mecklenburg-Vorpommern wird öfter nach dem Wort "Arbeit" gesucht. In Hannover, zum Beispiel, ist es "Ruhe". In einem anderen Heft wurde auf der Deutschlandkarte die Quote der Abiturientinnen dargestellt: Überall haben Mädchen die besseren Noten und erreichen öfter das Gymnasium. Im Osten kommen auf zwei Jungen mit Abitur drei Mädchen. Deutsche Spitze. Am seltensten machen Mädchen in Bayern Abitur: "Hier", so die Erklärung, "glauben noch immer einige Eltern, es genüge, wenn der Mann das Geld verdient."

Der Fernsehsender Kabel 1 spielte das Thema Frauenabwanderung in einer "Dokutainment-Serie" durch: "Männer allein daheim". Man schickte die Frauen aus einem niedersächsischen Dorf für eine Woche in Urlaub und sah dann - sicher auch mit Inszenierungshilfe -, dass die alleinen Männer keine Ahnung von Haushalt und Kindern haben. Ohne ihre Frauen sind sie im Alltag hilflos. Wie Zurückgebliebene, denen soziale Kompetenzen fehlen. Sie haben ihre Emanzipation verpasst.

"Brigitte" druckte eine Auseinandersetzung zwischen Jungen- und Mädchenmüttern. Jungenmütter glauben, dass ihre bewegungsaktiven, unangepassten Söhne durch Streberinnen benachteiligt werden. Mädchenmütter fürchten, dass ihre vernünftigen, zum Lernen entschlossenen Töchter durch Rabauken gestört werden.

Ein Kulturkampf hat begonnen. Die jungen Frauen - ermuntert durch ihre Mütter, berufsorientierende Girls' Days, durch überwiegend weibliches Lehrpersonal oder durch Sprach- und Kommunikationsbegabung - entwickeln Selbstbewusstsein und nehmen ihr Leben in die Hand. Männliche Jugendliche hängen oft an alten Mustern. Sie hoffen auf Ausbildungsberufe am Bau oder im Handwerk, die es immer weniger gibt und selten als feste Anstellung. Starke Anschübe von außen kennen sie kaum. Man muss sie an die Hand nehmen.
In Ueckermünde gehen vor allem sozial benachteiligte junge Männer zur Berufsförderung, in maximal zehn Monaten soll hier ein Berufswunsch in sieben angebotenen Bereichen gefestigt werden. Danach erfolgt die Ausbildung. Manche drehen mehrere Runden, einer ist schon das neunte Jahr dabei. "Sie werden hier behütet wie in einer Blase", sagt die Berufsberaterin Uta Dutz, 33. Dass viel weniger Mädchen im Haus sind, hat auch mit Wunschberufen zu tun, die hier nicht angeboten werden können. "Wie Mediengestalterin oder Veranstaltungskauffrau", sagt sie, "und seit diese Serie C.S.I. im Fernsehen läuft, wollen alle plötzlich Assistentin in der Autopsie werden. Mädchen haben auch Flausen."

Mädchen haben auch ganz früh Kinder. Die absolut höchste Zahl an Teenager-Müttern in Deutschland gibt es im Kreis Uecker-Randow - elf Prozent aller Kinder werden von Müttern unter zwanzig Jahren geboren. Vor zehn Jahren waren es noch sechs Prozent. Ganz junge Dinger, oft rauchend und stark geschminkt, schieben ihre Kinderwagen. "Beruf Mutter" als Alternative zur Arbeitslosigkeit. Gerade Frauen mit mäßiger Schulbildung finden in früher Mutterschaft einen anerkannten Lebensinhalt und auch finanzielle Unterstützung.
Mit einem Kind tragen sie Verantwortung. Sie können davor viel weniger ausweichen als der Fahrradfahrer, der in der Ueckerstraße abbremst. Er ist ohne Beschäftigung und sucht Leute, die ihm zuhören, obwohl er nur seltsame Andeutungen ausstößt: "Die Alte vom Arbeitsamt, die könnte ich ... Früh aufstehen? Nee ... Drei Kinder habe ich von drei Frauen ... Wurde ja schon mal angeschrieben... Wer bin ich denn ... Die könnten mich alle." In die langen Pausen lässt er immer denselben abschließenden Satz fallen: "So ist das also."

Er platzt vor Stolz, dass er alle Tricks kennt, um Verpflichtungen zu umgehen. Er deutet dunkle Geschäfte an, die genug Geld bringen. Einem wie ihm könnte auch kein staatliches Förderprogramm helfen.

Inzwischen ist eine neue, männlich dominierte Unterschicht entstanden, und es sieht so aus, als würde sie sich auf Dauer damit abfinden.

Die jungen Verlierer bleiben oft unauffällig. Man sieht sie nicht. Sie leben in den Dörfern. Fensterläden und Tor sind geschlossen. Alles still und kaum ein Mensch auf der Straße am hellen Mittag. "Die arbeitslosen jungen Männer sitzen den ganzen Tag drinnen, sie sehen fern und trinken mit den Kumpels. Oder sie schrauben im Hof an alten Autos", erzählt eine Friseurin, die selbst auf dem Dorf wohnt. "Hartz IV reicht, weil sie keine eigene Wohnung haben. Und Mutter kocht und wäscht." Einen Kontakt kann sie mir nicht machen, "die würden denken, dass ich völlig verrückt bin. Die reden nie mit Fremden."

Auch der Bruder von Mandy würde nicht mit mir reden, das wäre ihm unangenehm. "Maler, arbeitslos, falscher Umgang", fasst die Schwester seine Lage zusammen. Der Bruder macht nichts. Dagegen seine Freundin: fährt jeden Tag ganz früh nach Bansin, um für 800 Euro im Monat Brötchen zu verkaufen. "Sie trennen sich, sie versöhnen sich. Sie fällt halt immer wieder auf ihn rein."

Mandy, 28, eigentlich Kellnerin, führt zusammen mit Christin, 26, eigentlich Köchin, einen kleinen Second-Hand-Laden. Vorher haben sie es mit einem Blumengeschäft versucht. Davor waren sie in der Schweiz im Hotel. Gutes Geld. "Aber es gab nur eine Aufenthaltsgenehmigung für elf Monate, und wir hatten eine 7-Tage-Woche. Die sind da mit uns umgegangen wie wir hier mit den Polen zur Spargelzeit. Unsere Arbeit war unsicher. Wir wussten nicht, ob wir die Wohnungen zu Hause halten oder aufgeben sollten. Da sind wir zurückgekommen und versuchen hier wieder was. Aber wir reden jeden Tag über die Schweiz - vielleicht war es doch eine große Chance."

Nur zwei von zehn, die an ihre Heimatorte im Osten zurückkehren, sind weiblich. Die jungen Männer verwurzeln sich nicht und haben Heimweh nach der gewohnten Umgebung. Mädchen sind flexibler. Oft lernen sie auch im Westen einen Mann kennen, Hochzeit und Geburt können folgen. Zwischen 1995 und 2005 summiert sich im Osten der Geburtenverlust durch die Abwanderung junger Frauen auf 100 000 Kinder. So dreht sich die Spirale immer weiter. Fakten und Zahlen ergeben den Eindruck, dass man die demografische Entwicklung im Land nicht anhalten und schon gar nicht umkehren kann.

Beim Haff-Fest sitzen drei Biertrinker um die dreißig in der Sonne. "Die Flasche auf und nieder - wir tun es immer wieder!", rufen sie. Als einer von der Toilette kommt, empfangen ihn Vorwürfe: "Pissen gehen und kein Bier mitbringen, du Eierkopp!" Die Männer trinken und schweigen und trinken. Dann reden sie über Boris Becker, Dieter Bohlen und Joschka Fischer. "Die kannste alle über einen Kamm scheren. Alles Großkotze. Aber die kriegen die Weiber!" "Und warum?" fragt einer. "Weiber haben keinen Verstand." Jeder erklärt sich sein Leben.

Auf der Strandterrasse gibt es ein Kinderfest. Da stehen Stühle, immer einer weniger als die Anzahl der Kinder, die drum herum laufen und mit dem abrupten Ende der Musik schnell einen Platz finden müssen. Wer keinen Stuhl abbekommt, scheidet aus. Zwei Kinder sind noch übrig, sie rennen um den letzten Stuhl. "Junge, Mädchen, Junge, Mädchen!", ruft der ältere Spielleiter, der früher viel im Ost-Fernsehen aufgetreten ist. Die Musik bricht ab. Das kleine Mädchen sitzt, der Junge will sich noch danebenquetschen, aber er hat verloren.
Berliner Zeitung, 15.09.2007

Er brachte es zur Sprache (Berliner Zeitung)

Er brachte es zur Sprache
"Die neuen Leiden des jungen W." und "Die Legende von Paul und Paula" machten ihn berühmt - Ulrich Plenzdorf ist tot
Regine Sylvester

Er wollte fit bleiben, stark und gesund. Er trank Kräutertee und machte Sport. Wer in seiner Wohnung rauchen wollte, musste auf den Balkon, aber er kannte eigentlich kaum Raucher. Er machte gerne Handwerkliches, sah wenig fern und ging früh schlafen. Er wollte sich bereit halten - Filme schreiben wie früher. Im März 2003 gab er dieser Zeitung ein Interview. Auf die Frage nach der Auftragslage antwortete der berühmte Drehbuchautor mit seiner Mail-Adresse: Ulrich.Plenzdorf@gmx.de. "Ich stehe zur Verfügung", sagte er. Da war er 69 Jahre und wartete auf Angebote.

Ulrich Plenzdorf hat immer gearbeitet. Gern und viel und auch mit den Händen. Sein Vater war Maschinenbauer in Berlin-Kreuzberg. 1950 zog die Familie in den Osten, nach Berlin-Lichtenberg. Plenzdorfs Eltern waren als KPD-Mitglieder in der Nazizeit mehrmals in Haft gewesen, seine Mutter kam für ihren Widerstand ein Jahr in das KZ Mohringen. Plenzdorf sprach oft davon, mit roter Muttermilch aufgewachsen zu sein.

Er studiert Marxismus-Leninismus in Leipzig und bricht nach zwei Semestern ab. Das Studium ist für ihn verlorene Zeit, wozu 1953 eine Totenwache mit geschultertem Luftgewehr vor dem Bildnis Stalins beiträgt. Vor seinem neuen Wunsch, Film zu studieren, steht die Bewährung in der Produktion. Plenzdorf wird von 1955 bis 1958 Bühnenarbeiter bei der Defa in Potsdam-Babelsberg. In dieser Zeit lernt er unter anderem das Nageln über Kopf und beobachtet nebenbei, dass Spielfilm-Autoren bei Besuchen am Set gut behandelt werden: Sie treffen erst gegen zehn ein und bekommen einen Kaffee angeboten. "So einer wollte ich werden."
Das Arbeiterkind, inzwischen auch Ehemann, Vater und SED-Genosse, bekommt an der Filmhochschule Babelsberg einen Studienplatz und wird 1964 Szenarist und Dramaturg bei der Defa. Gleich sein erster Film - "Mir nach, Canaillen!" mit Manfred Krug - ist ein Publikumserfolg.

Der junge Regisseur Herrmann Zschoche liest ein zerknautschtes Durchschlagpapierbündel mit vielen Tippfehlern. Ein Filmentwurf von Plenzdorf, wirre Geschichte von einem Klassenausflug. Aber die Dialoge! Zschoche besucht Plenzdorf in Lichtenberg. "Damals wirkte er übrigens nicht halb so witzig und charmant, wie er schrieb. Er sah aus wie ein Jugendfunktionär", erinnert sich Zschoche in seinen Memoiren. Aus dem Klassenausflug wird etwas ganz anderes - "Karla", die Geschichte einer jungen Lehrerin, die ihre Schüler zum Denken erziehen will, nicht zum Gehorsam. Die Hauptrolle spielt Zschoches damalige Frau, die zarte, klargesichtige Jutta Hoffmann. Der Film gerät 1965 in die eisige Luft des 11. Plenums und wird wegen Pessimismus und Skeptizismus verboten. Wie die halbe Film-Jahresproduktion.

Plenzdorf liest Goethes "Die Leiden des jungen Werthers". Er hebt einen Zeitungsartikel auf, der von den Schwierigkeiten einer Brigade mit ihrem renitenten Lehrling handelt. In seinem Kopf fügt sich langsam was zusammen. Er schreibt zwei leise, sympathische Gegenwartsfilme, aber die andere, die schärfere Geschichte brodelt im Kopf. Plenzdorf entwickelt sie mit der Dramaturgin Inge Heym zum Drehbuch "Die neuen Leiden des jungen W.". Die Produktionsgenehmigung wird nicht erteilt. Dann macht er eben Prosa daraus - die Zeitschrift "Sinn und Form" druckt sie im März 1972, es gab immer auch mutige Leute. Dann eben gleich noch ein Theaterstück über den jungen W. - in Halle trauen sie sich im Mai 1972 die Uraufführung. Ein knappes Jahr später kommt "Die Legende von Paul und Paula" ins Kino. Und Plenzdorf ist berühmt. Plötzlich und unerwartet.

"Die neuen Leiden des jungen W." wird eines der erfolgreichsten deutschen Bühnenstücke, übersetzt in 30 Sprachen, die Weltauflage liegt bis heute zwischen sechs und sieben Millionen. Im Westen wird das Buch Pflichtlektüre im Unterricht. Noch vor einiger Zeit schreibt ein Schüler im Internet bei Amazon: "Ich musste es lesen, wegen dem Deutschunterricht. Und ich lese sehr selten. Ich habe angefangen und wollte hinterher gar nicht mehr aufhören. Es hat mir zu einem Glück des Lebens verholfen."

"Die Legende von Paul und Paula" läuft immer noch im Kino und im Fernsehen, wurde ein Roman, ein Hörspiel, ein Theaterstück, eine Oper. Ein langer Uferweg an der Rummelsburger Bucht in Berlin trägt den Namen der Filmhelden.

Klingt alles so leicht und unbestritten. War es aber nicht. Im Westen entdeckten Feministinnen in "Paul und Paula" eine "frauenfeindliche Schnulze aus der DDR". Linke Protestler sahen im Tod von Edgar Wibeau, des jungen W., eine Strafe für die Flucht aus der Gesellschaft.
Im Osten wird aus "Paul und Paula" - drei Wochen nach der Premiere und hinter dem Rücken des Teams und des Regisseurs Heiner Carow - aus 34 Kopien eine Einstellung entfernt: Paula schnipst Paul die Kampfgruppenmütze vom Kopf. Die 35. Kopie rutscht ungeschnitten durch, deshalb wird der Leiter der Hauptverwaltung Film abgesetzt. Der Film hat Exportverbot. Der Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul schreibt Dezember 1976 in einem Brief an die SED-Bezirksleitung Berlin - "Persönlich! Vertraulich!" - über "die skandalöse Diskriminierung unserer Jugend durch Plenzdorfs Modestück". Er meint "Die neuen Leiden des jungen W.", das Stück wurde da schon von vierzehn Theatern nachgespielt. Einen Monat vorher ist Wolf Biermann ausgebürgert worden. Durch die DDR geht ein Riss, der nie wieder zuwachsen wird.
Plenzdorf darf reisen und verdient Westgeld, das er zum Teil abgeben muss und zum Teil in Intershopgeld umtauschen kann. Seine bevorzugte Lage nutzt er für andere: Er beschenkt Freunde - auch mit so großen Sachen wie einem Westfarbfernseher - er schmuggelt Videokameras, Jeans und den "Spiegel" in die DDR ein. Er bastelt an seinem Bauernhaus in Alt-Rosenthal und hofft, die Erdung nicht zu verlieren. "Wenn du anfängst, vor dir selbst berühmt zu werden, dann hast du ein Problem", sagte er.

Aber natürlich macht es ihm Spaß, überall erkannt zu werden, weshalb er sich seine langen wilden Locken nie abschneiden lässt, auch nicht, als sie weiß werden. Er fährt gerne schnell Auto, mit offenem Fenster und lauter Musik und lenkt nur mit dem rechten kleinen Finger. Ulrich Plenzdorf hat zwei Söhne und eine Tochter. Er ist seit zwanzig Jahren verheiratet. Aber die Erfolge geben ihm das Gefühl von Jugend.

1977 legt die Staatssicherheit über Plenzdorf den "Operativen Vorgang Dramatiker" an. Sie haben ihn längst im Auge.

Die Schriftstellerfreunde Plenzdorf, Klaus Schlesinger und Martin Stade hatten 1974 versucht, eine Anthologie "Berliner Geschichten" herauszugeben - eine Textsammlung ohne staatliche Kontrolle. Das Projekt scheitert am Vorwurf der politischen Plattformbildung. Plenzdorf schrieb für diese Anthologie die Erzählung "Kein runter kein fern", einen verstörenden literarischen Wurf, nur der stammelnde Monolog eines zehnjährigen Hilfsschülers. Der Junge will zum Konzert der "Schdones", die auf dem Springer-Hochhaus ein auch im Osten zu hörendes Konzert geben sollen - das Gerücht gab es tatsächlich. Der Junge gerät in einen Kessel und unter den Knüppel seines Bruders, der Polizist ist. Für diese Erzählung, die vielleicht sein bester Text ist, bekommt Plenzdorf 1978 in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis. Einen Westpreis.
Im Osten läuft längst alles mehr oder weniger auf Kampf hinaus. Aber Plenzdorf schreibt.

Immer schnell und ohne Änderung. "Ich wollte mit der Zeit mitschreiben." Fast immer macht er seine Filme aus fremden Romanen, die ihm schon beim Lesen in Drehbücher zerfallen. "Das ist Spezialistentum", sagte er. Er will thematisieren, "was nicht in der Zeitung steht".
Klaus Schlesinger beschreibt in seinem Buch "Von der Schwierigkeit, Westler zu werden" die gemeinsame unkündbare künstlerische Position: "Parteinahme für die Schwächeren und ein kritisches Verhältnis zur Macht."

1981 wird verlangt, für den Film "Insel der Schwäne" einen neuen Schluss zu drehen, in dem eine Figur nicht im Fahrstuhlschacht abstürzt - wie in Plenzdorfs Drehbuch und auch noch in dem eigentlich fertigen Film - sondern gerettet wird. "Und ich tat es", schreibt der Regisseur Zschoche in seinen Erinnerungen mit Erschrecken und Bedauern. Es war eine bleierne Zeit.
Dann kommt die Wende. Ulrich Plenzdorf wird mit Aufträgen überschüttet. Er übernimmt nach dem Tod von Jurek Becker die Serie "Liebling Kreuzberg". Er arbeitet mit Heiner Carow, Andreas Dresen, Tom Toelle, Matti Geschonneck. Für Frank Beyer schreibt er "Abgehauen" - nach dem Buch von Manfred Krug, mit dem Krug die Umstände seiner Ausreise, seiner Stasiakten und eine Zusammenkunft von Biermann-Petitionisten und Vertretern der Staatsmacht in seinem Haus dokumentierte. Plenzdorf war damals einer in dieser Runde.

Bis 1998 schreibt er nur über das, womit er sich auskennt, nur über den Osten, zuletzt "Der Laden" nach Erwin Strittmatter. Bei dieser Arbeit überwirft er sich mit Regisseur und Redakteuren, er spricht in einem Interview darüber. Danach ist Funkstille. "Die stärkeren Bataillone waren nicht auf meiner Seite", sagt er 2003. "Ich habe diese Auseinandersetzung über die Deutungshoheit östlicher Schicksale glatt verloren." Er bekommt keine Aufträge mehr von Film und Fernsehen. Es war wie früher: "Die Leute, die die Mittel zur Verfügung stellen, wollten nicht, was ich wollte."

Immer noch werden seine Bücher verkauft, Theater spielen seine Stücke. Er schreibt eine politische Revue, gibt in Leipzig und in den USA Drehbuchseminare, übersetzt den kanadischen Autor Richards van Camps. Aber bei ihm zu Hause, in der Torstraße in Berlin-Mitte, stapeln sich Arbeiten ohne Auftrag und ohne Honorar. Er reagiert immer sofort, aus eigenem Impuls. Als er den Roman "Die Nachrichten" von Alexander Osang gelesen hat, schreibt er umgehend ein Film-Exposé und schickt es dem Autor nach New York. Es fällt ihm schwer zu akzeptieren, dass Osang das Drehbuch selber schreiben will. Dass der ihn nicht braucht.

Plenzdorf verändert sich. Er wird ein zunehmend bitterer Mann. Einladungen zur Eröffnung der Berlinale nimmt er an, um da die Ostmenschen zu zählen - es werden immer weniger. Er geht ins Kino Babylon, wenn da Defa-Filme laufen. Die Welt, an der Plenzdorf als politischer Künstler beteiligt war, wird aus fremder Perspektive beurteilt und oft verkannt. Die neue Welt sieht er mit Sarkasmus und Grimm.

Zum 70. Geburtstag im Oktober 2004 gratuliert ihm der Bundestagspräsident, Zeitungen schreiben Würdigungen mit einem Hauch von Nachruf. Aber Plenzdorf ist sicher, dass er noch ein paar Asse im Ärmel hat. Er fühlt sich stark.

Bis ihm im Mai 2005 im Auto plötzlich schlecht wird. Im Krankenhaus stellen Ärzte eine Gehirnblutung fest und versetzen Ulrich Plenzdorf in ein künstliches Koma. Es dauert lange, ihn zurückzuholen. Er kann kaum sprechen. Der Regisseur Frank Beyer, der noch vor ihm sterben wird, erzählte nach einem Krankenbesuch, dass seinem stummen Freund Tränen übers Gesicht liefen - er war sich seiner endgültig hilflosen Lage bewusst.

In der Nacht zum Donnerstag ist Ulrich Plenzdorf im Alter von 72 Jahren gestorben.
Berliner Zeitung, 10.08.2007