Knaller an der Zeitungsfront

Saturday, September 29, 2007

Katz und Maus (Die Welt)

29. September 2007,
Von Torben Lütjen
Katz und Maus
"Kommen Sie zur Besinnung, Karl Schiller." Wie die Freundschaft zwischen Karl Schiller und Günter Grass zerbrach

Karl Schiller, Wirtschafts- und Finanzminister in der Großen Koalition und im ersten Kabinett Willy Brandts, war die Diva seiner Zeit: Schiller galt als eitel und selbstverliebt, liebte die große Pose und den dramatischen Auftritt. Doch er war auch ein brillanter Ökonom und genialer Politikverkäufer, der der Republik im Bundestagswahlkampf 1969 einen Schnellkurs für Fortgeschrittene in Außenwirtschaftstheorie erteilte und damit maßgeblich zum Zustandekommen der sozialliberalen Koalition beitrug. Aber weder die sogenannte "Schiller-Wahl" noch die vorherige rasche Überwindung der Rezession 1966/1967 haben ihn in der SPD zu einer sonderlich beliebten Figur gemacht. Denn so kommunikativ dieser Mann nach außen sein konnte, so schroff, unnahbar und abweisend wirkte er oft im Gespräch.

Nichts schien die Abwesenheit persönlicher und emotionaler Bindungen schließlich besser zu dokumentieren als die Vorgänge im Sommer 1972, als Schiller zunächst aus dem Kabinett und dann aus der eigenen Partei austrat, um sich im anschließenden Bundestagswahlkampf an der Seite Ludwig Erhards für die CDU zu engagieren. Innerhalb weniger Monate kehrten sich alle bisherigen sozialen Beziehungen in ihr Gegenteil - langjährige Mitstreiter wurden zu Kontrahenten, die Parteifreunde zu erbitterten Feinden.

Allein die Meinung eines einzigen Menschen blieb Schiller wichtig: Günter Grass war einer der wenigen, die Schiller Freund nannte. Als er daher erfuhr, dass der Dichter ihm seinen Seitenwechsel übel nahm, zeigte er sich besorgt. Er habe erfahren, so Schiller in einem Brief an Grass im Oktober 1972, dass der Dichter mit seinen politischen Schritten der letzten Zeit wohl nicht ganz einverstanden sei. Dennoch würde es ihn freuen, wenn es zu einem Gespräch käme. Grass antwortete postwendend - und wohl anders, als Schiller gehofft hatte. Die Antwort des Freundes stand am nächsten Tag in einem offenen Brief in der "Frankfurter Rundschau".

"Lieber Karl Schiller", begann Grass, "schon die Anrede zeigt an, wie schwer es mir fällt, diesen notwendigerweise 'Offenen Brief' zu schreiben; denn Karl Schiller ist nicht nur seinen Freunden, sondern wohl auch sich selber fremd geworden. (...). Denn wie schlimm muss es um einen Karl Schiller stehen, der sich bei einem Barzel anzubiedern versucht; wie traurig muss es um Karl Schiller bestellt sein, wenn er zulässt, dass ihn der gleiche Franz-Josef Strauß begönnert, der noch vor wenigen Monaten mit Willy Brandt auch Karl Schiller nach Lumpenmanier verleumdet und verdächtigt hat. (...) Unterlassen Sie also dieses Krisengeschrei, das Sie lächerlicher macht, als es unsere immer noch gute Erinnerung an Sie erlaubt."

Das war das traurige Ende einer Freundschaft, die Anfang der 1960er Jahre in Berlin entstanden war, wo Schiller wenige Monate nach dem Mauerbau Wirtschaftssenator geworden war. Bei einem Empfang im Charlottenburger Schloss hatte er die Bekanntschaft von Günter Grass gemacht, der durch die "Blechtrommel" bereits ein berühmter Mann war. Man kam ins Gespräch und Grass erzählte, dass er gerade an einem Roman arbeite, in dem satirisch die Gesellschaft des Wirtschaftswunders aufs Korn genommen werden sollte: die "Hundejahre". Ob der Wirtschaftssenator ihm nicht ein wenig zur Hand gehen wolle? Bei den vielen Namen, die seit 1945 die Geschicke der deutschen Wirtschaft leiten, könne man schnell den Überblick verlieren. Schiller ließ sich nicht zwei Mal bitten, war wohl sogar stolz und hocherfreut, für einen berühmten Schriftsteller das "Lektorat" zu übernehmen.

Damit begann eine Beziehung, die der Vorstellung von Freundschaft so nahe kam, wie es bei Karl Schiller überhaupt möglich war. In der Anrede bevorzugten zwar beide in der Regel das distinguierte "Sie". Andererseits war Schiller einer der wenigen Gäste bei der Taufe des Grass-Sohns Bruno Thaddäus und gemeinsam verbrachte man im Sommer 1966 mit den Familien den Urlaub im Tessin, wobei man, wie Schiller später mit einiger Genugtuung feststellte, zehn Tage die "Dörfer auf den Kopf stellte". Schiller erfüllte die Freundschaft zu Grass mit großer Befriedigung, bewies sie doch, dass er eben besser in die Berliner Bohème passte als in das dröge Vereins- und Funktionärsmilieu der SPD.

Grass ließ nichts unversucht, den Freund in dieser Ansicht zu bestärken. Schiller trug sich selbst mit dem Gedanken, eine kleine Novelle zu schreiben. Für diesen Fall bot der Dichter seine Hilfe an. Und von Zeit zu Zeit sandte Grass ihm seine noch unveröffentlichten Arbeiten zu und nannte das einen "literarischen Zwischenbericht von Kollegen zu Kollegen". Ein wenig verschämt schickte dieser seine Arbeiten zur Wirtschaftspolitik zurück; zu mehr, entschuldigte sich der viel beschäftigte Wirtschaftssenator, reiche es zurzeit einfach nicht. Grass war fraglos der emotional Überlegene in dieser Beziehung und offenbarte sich auch als kluger Menschenfischer, der nicht nur um Schillers Sehnsucht nach Zugehörigkeit zum Künstlermilieu wusste, sondern auch sehr genau die Eitelkeit und den Ehrgeiz Schillers erkannt hatte. "Ich weiß nicht, ob Sie immer Bundeswirtschaftsminister bleiben werden", schrieb er dem frischgebackenen Bundeswirtschaftsminister im Januar 1967, "ob nicht eines Tages noch größere Verantwortung, noch größere Lasten auf Sie zukommen werden - vieles spricht für diesen Aufstieg".
Dass die Freundschaft zu den Mächtigen nicht von Nachteil war, erwies sich für Grass sehr schnell. 1965 hatte er vom Finanzamt die Aufforderung erhalten, 60 000 DM Steuern nachzuzahlen. Der Auflagen-Millionär war schockiert und erwog sogleich den Wohnortswechsel. Über einen Mitarbeiter in der Berliner Wirtschaftsbehörde, der das Gespräch in einem Vermerk notierte, ließ er Schiller telefonisch ausrichten, "dass solche Bescheide ihn aus Berlin vertreiben könnten. Er sei der Ansicht, dass auch für kulturpolitische Tätigkeit steuerliche Vergünstigungen gefunden werden müssten. Fast täglich widme er zwei bis drei Stunden für westdeutsche Journalisten, die ihn hier besuchen. Das sei schließlich auch eine Funktion, die er für Berlin ausübe. Er würde es sehr begrüßen, wenn der Senat ihm eine generelle Erklärung ab 1963 gäbe über einen zusätzlichen Steuerfreibetrag von 30 000 DM. "Herr Grass bittet darum, dass möglichst bald nach einem Weg gesucht werde, damit er seinem Steuerberater, der auf die Steuerschuld DM 20 000,-- anweisen und auf den Rest eine Stundung erbitten werde, einen entsprechenden Zwischenbescheid noch vor Antritt seiner Vortragsreise geben könne." Gemeint war vermutlich die Wahlkampfreise für die SPD, mit der Grass in jenen Wochen beginnen wollte. Der Vermerk liest sich, als habe Grass für sein "bürgergesellschaftliches Engagement" eine finanzielle Gegenleistung erwartet.

Er sollte nicht enttäuscht werden. Nur eine Woche nach Grass' Plädoyer auf Steuernachlass schickte die Berliner Senatskanzlei nach Rücksprache mit Schillers Wirtschaftsbehörde eine Bescheinigung an das Finanzamt Wilmersdorf. Darin wurde für "finanzamtliche Zwecke bescheinigt", dass Grass auf Wunsch öffentlicher Stellen in Berlin zu Empfängen eingeladen werde oder "Gespräche im öffentlichen Interesse Berlins" führe. Und weiter: "Er kann für diese Repräsentation keinen Geldersatz erhalten. Gleichwohl sind sie auf Grund ihres hohen gesellschaftlichen Niveaus mit erheblichen Unkosten verbunden." Unterschrieben hatte die Bescheinigung Dietrich Spangenberg, der Leiter von Willy Brandts Senatskanzlei. So gelang es, Grass von einem Teil seiner Steuerlast zu befreien.

Auch als Schiller 1965 in den Deutschen Bundestag wechselte und 1966 Bundeswirtschaftsminister in der Großen Koalition wurde, blieb der freundschaftliche Kontakt bestehen. Grass war wie viele andere Intellektuelle über die Koalition mit der CDU unter dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger entsetzt. Wenige Wochen nach Beschließung des neuen Bündnisses sah Grass die Republik, wie er Schiller mit einigem Alarmismus schrieb, auf dem Wege der "Portugalisierung". Er habe bereits feststellen können, "wie rasch und beinahe freudig, weil ja erlöst vom anstrengenden demokratischen Alltag, die Bundesbürger sich der neuen Lage anpassen". Doch so energisch Grass öffentlich gegen das Bündnis stritt, so sehr war er doch bemüht, nicht den Stab über Schiller zu brechen. Es beruhige ihn, so Grass, dass er beim Freund bisweilen Zweifel über die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung gespürt habe. Schiller müsse weiter der Mann von "Geist und Macht" sein, der von der "mündigen Gesellschaft" gesprochen habe - dann sei ihm wenige bange um die Zukunft der Deutschen Demokratie.

Für Schiller folgten Jahre eines steilen politischen Höhenfluges, die ihn kurzzeitig zum populärsten Politiker im Kabinett Kurt Georg Kiesingers machten. Doch das Verhältnis zu Grass kühlte sich ab. Der nämlich konnte nicht verstehen, warum der Freund trotz seiner gut gemeinten Ratschläge nicht den Mut fand, öffentlich über seine NSDAP-Vergangenheit zu sprechen. In den Briefen des Schriftstellers häuften sich vor allem seit Bildung der Sozialliberalen Koalition im Jahr 1969 die Ermahnungen und der Tadel an die Adresse des Bundeswirtschaftsministers. Für Grass war es nun Willy Brandt, in dem sich die politischen Sehnsüchte nach einem Aufbruch zu gänzlich anderen Ufern verkörperten. Grass unterstützte nicht nur die neue Ostpolitik Brandts, sondern war ein ebenso emphatischer Anhänger der ehrgeizigen, aber eben auch sehr kostspieligen "inneren Reformen".

Karl Schiller hingegen, der im Mai 1971 auch noch das Finanzministerium übernahm, glaubte, dass die Republik begann, über ihre Verhältnisse zu leben, wurde so zum unbequemen "Stabilitätsapostel" und geriet in der eigenen Partei immer mehr ins Abseits. Teilweise hatte wohl auch Günter Grass Verständnis für Schillers schwierige Lage. Um den Bruch zwischen Schiller und den Genossen zu verhindern, griff er zu der bewährten Mischung aus strenger Ermahnung und ungenierter Schmeichelei, wobei der Freund für Letzteres besonders empfänglich war. Im April 1971, zu Schillers 60. Geburtstag schrieb er: "Es packt mich der Jammer, wenn ich ansehen muss, wie ein Karl Schiller, dessen Wortgewalt, politische Intelligenz und demokratischen Sinn ich immer geschätzt habe und weiterhin schätzen werde, verdunkelt wird durch Streit im Detail, durch Rechthaberei, durch (für Sozialdemokraten skandalös) mangelnde Solidarität. Ich weiß, lieber Karl Schiller, dass Sie die Kraft haben werden, den von mir beschriebenen lähmenden Bann zu durchbrechen. (...) Wie immer in Freundschaft Ihr Günter Grass"

Indes: Was für Grass nur "Streit im Detail" war, sah der Superminister ganz anders, der schon bald nicht mehr wusste, wie er der Explosion der Staatsausgaben noch Herr werden sollte. Schiller sah Teile der Partei in Richtung Sozialismus aufbrechen. Im Juli 1972 zog er die Konsequenzen und schied aus Protest gegen die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung aus seinem Amt aus. Er sei nicht länger bereit, so sein Rücktrittsbrief an Willy Brandt, eine Regierung zu unterstützen, die nach der Devise handle: "Nach uns die Sintflut". Es folgte schließlich sein spektakulärer Seitenwechsel zur Opposition, die ihn als Kronzeugen für die gescheiterte Wirtschaftspolitik der sozialliberalen Koalition benutzte.

Grass öffentliche Attacke in der "Frankfurter Rundschau" traf einen Ex-Minister, dessen moralische Integrität bereits zerstört war und der bald darauf für einige Jahre zur Unperson der Deutschen Politik wurde. Grass sprach auch von einem Menschen, der in den letzten Jahren wie besessen nur noch von sich selbst gesprochen habe und bei "dem das Wörtchen 'Ich' Inflation erlebte." Stets habe er ihn aufgrund seiner charakterlichen Fehler in Schutz genommen - doch nun sei die Grenze überschritten. Und er schloss seinen offenen Brief mit dem Satz: "Kommen Sie zur Besinnung, Karl Schiller. Ich möchte mich Ihrer nicht bis zur Sprachlosigkeit schämen müssen."

Grass' öffentliche Abrechnung mit dem Mann, den er einst bereits im Kanzleramt gesehen hatte, und viele andere Anfeindungen jener Zeit stürzten Karl Schiller bald darauf in eine tiefe Krise und ließen ihn tatsächlich verstummen. Erst viele Jahre später sollte Karl Schiller seinen Frieden mit sich selbst und der SPD machen und sogar wieder in die Partei eintreten. Er und Günter Grass jedoch sprachen, so weit bekannt, nie mehr ein Wort miteinander.

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