Knaller an der Zeitungsfront

Monday, September 17, 2007

Männer allein zu Haus (Berliner Zeitung)

Männer allein zu Haus
Im deutschen Osten wandern die jungen Frauen ab
Regine Sylvester

Onk, Onk, Onk, Onk. Das sind die Bässe. Junge Männer kreisen in ihren Autos um den kleinen Marktplatz von Ueckermünde. Sie drehen die Musik bis zum Anschlag auf, Fenster sind offen. Motorradfahrer spielen im Leerlauf mit dem Gas, ein Heulen geht durch die Gassen. Der Chef vom Hotel stürzt heraus und droht mit der Faust. Wenn die jungen Autofahrer größere Runden drehen, über die Eggesiner oder die Anklamer oder die Berliner Straße, dann rasen sie und tauchen auf der Überholspur in den dröhnenden Sound aus anderen Autos ein. Man hört lange solche Geräusche, bevor man denkt: Das ist hier eine Jungsgegend. Nicht die einzige.

Zuerst sieht man es nicht. Ein Gespenst geht um im deutschen Osten, es hat zwei Gesichter: Männerüberschuss und Frauenmangel. In einigen Regionen kommen auf einhundert Männer nur noch siebzig Frauen. Die Frauen sind abgewandert - in die großen Städte, in den Westen, ins Ausland.

Unsere soziale Wahrnehmung ist nicht trainiert, den Männer- und Frauenanteil in einer Umgebung zu registrieren. Von Ausnahmen abgesehen, gehört ein bestimmtes Ungleichgewicht zur allgemeinen Erfahrung: In einem Gasthof stehen mehr Männer am Tresen. Neben Kinderspielplätzen sitzen mehr Frauen auf den Bänken. Mehr junge Männer sehen sich den Robot-Film "Transformers" an, Mädchen gehen eher in Liebesfilme. Bei den überhitzten Konzerten von Tokio Hotel stehen vier Jungs auf der Bühne, und deutlich mehr Mädchen fallen im Publikum in Ohnmacht. So kennt man es. An kaum einem Ort mischen sich die Geschlechter zu gleichen Teilen.

Da ja immer ungefähr so viele Mädchen wie Jungen geboren werden, müsste es eigentlich aufgehen, wenn die später Paare bilden möchten. Wir haben keinen Krieg, der durch Gefallene und Gefangene zu einem Frauenüberschuss führt. Hier lebt kein Stamm, der einem anderen Stamm die Frauen raubt. Wir hatten nie eine Kultur, die traditionell männliche Nachkommen bevorzugt und deshalb die barbarische Tötung weiblicher Föten und Babys duldet. Trotzdem stimmt in den neuen Bundesländern das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern nicht mehr. Zu viele Männer. Das steht in einer wissenschaftlichen Studie. Ich bin ihr im echten Leben auf der Spur.

"Wirklich?", fragt die Kellnerin vom "Bella Italia" am Schweinemarkt. "Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Aber wenn ich mal überlege - ja, hier sind mehr junge Männer."

Ueckermünde. 10 500 Einwohner, früher 12 000. Die meisten sind schon älter. Bei den 18- bis 25-Jährigen - Anfang 2006 nur noch 943 Personen - waren 504 junge Männer und 439 junge Frauen. Ein Unterschied von mehr als zehn Prozent. Und im gesamten Landkreis Uecker-Randow mit vielen kleinen Ortschaften kommen in derselben Altersgruppe auf hundert Männer nur noch 77 Frauen, das sind dann schon fast 25 Prozent. Ein deutlicher Unterschied.

Es ist Zufall, dass ich in Ueckermünde bin. Die Stadt liegt in einer Gegend, die beim Thema demografischer Wandel als Beispiel genannt wird. Wie viele andere Gegenden. Ich hätte auch in die Landkreise Löbau-Zittau oder Elbe-Elster fahren können, in die Lausitz, ins Vogtland oder nach Südthüringen - der ländliche Raum ist ein Krisengebiet: Beinahe überall gibt es das Phänomen - die jungen Frauen ziehen weg, und dadurch steigt der Anteil junger Männer.

Fast immer geht es um Arbeit.

Ende Mai 2007 veröffentlichte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung eine Studie: "Not am Mann. Vom Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht? Lebenslagen junger Erwachsener in wirtschaftlichen Abstiegsregionen der neuen Bundesländer."

Die Autoren Reiner Klingholz und Steffen Kröhnert untersuchen Ursachen und Folgen der Wanderungsprozesse. Sie kommen zu bestürzenden Schlüssen: "Der Zusammenbruch des überkommenen DDR-Wirtschaftssystems, der Niedergang alter Wirtschaftsbranchen und der damit verbundene Strukturwandel produzierten mehr männliche als weibliche Verlierer." Junge Männer ohne Frauen neigen zu Alkohol und Rechtsextremismus. "Ein schlechter Arbeitsmarkt scheint junge Frauen geradezu anzuspornen, mehr in der Schule zu leisten und so die Jobchancen zu verbessern. Jungen reagieren auf diesen Einfluss nicht. Sie beantworten eine hohe Jugendarbeitslosigkeit mit nicht messbaren Bildungsanstrengungen." Auffallend sei bei jungen Männern "das Fehlen jeglicher Lebensziele". Inzwischen fehle es "schlicht an Männern, die den Ansprüchen der Frauen genügen würden".

Ein Junge humpelt auf einer Straße in Ueckermünde, er ist vielleicht achtzehn Jahre alt. Ganz blass, ganz dünn. Thor-Steinar-Shirt. Er zieht hörbar am Stummel seiner Zigarette. Ein Hosenbein hat er hochgekrempelt, der Unterschenkel ist in durchsichtige Folien eingewickelt. Er weint fast, und ich frage, was passiert ist. Er zeigt seine rechte Wade: frisch und farbig durchtätowiert. Er sagt, dass es noch sehr wehtut, und ich sage, dass es schön bunt aussieht. Jetzt freut er sich, sagt: "Sechzehn Euro!", humpelt weiter. Die beiden jungen Frauen vom Second-Hand-Laden lachen: "So sind hier viele. Saufen, kiffen und Hartz IV. Männer um die zwanzig - oh oh oh! Würden Sie so einen haben wollen? Wir nicht."

Angefangen haben die Forscher als Beobachter vor Ort: Die wirtschaftlichen Verhältnisse studiert, Leute gefragt und Leute durchgezählt: Wie viele Männer und Frauen in der Zielgruppe der 18- bis 29-Jährigen gehen in Restaurants, zu Volksfesten, auf Diskos? Die Zufallsstichproben ergaben eine eindeutige Tendenz: Da waren immer weniger junge Frauen unterwegs als junge Männer. Die Forscher haben die Beobachtungen mit Hilfe statistischer Methoden auf Plausibilität untersucht, mit vielen anderen Daten abgeglichen und nachgedacht. Dann schrieben sie ihre Studie.

Man kann sie im Internet runterladen und selber lesen, dass im deutschen Osten eine Situation entstanden ist, die es noch nie in der deutschen Geschichte gab und die man an keinem anderen Ort in Europa findet - auch in den entlegensten und frostigsten Gegenden kommt ein solcher Frauenmangel nicht vor. Je jünger die Auswanderer sind, umso stärker wird die Dominanz der Frauen. Nur bis zum Alter von sechzehn ist die Bilanz noch ausgeglichen, bis dahin ziehen Kinder normalerweise mit ihren Eltern um.

Debora ist neunzehn, eine wache, fröhliche und hübsche junge Frau. Sie arbeitet als Kellnerin bei "Whisky and Cigarres" und wirkt wie geboren für den Beruf - alles im Auge, flinke Füße, sehr beliebt. Auch von Dr. Rainer Prange, Arzt und Stammgast, wird sie zur Begrüßung umarmt.
Gerade hat Debora eine Wohnung in Berlin gefunden und wird umziehen. Von zwanzig Freunden sind noch drei hier. "Ich liebe meine Arbeit über alles", sagt sie. "Aber man sieht fast nur noch Rentner. Die Jungs hier sind sehr muttihaft, so rockzipfelmäßig. Oder sie lassen sich von ihren Cliquen leiten, was auf Saufen hinausläuft. Ich kenne hier kaum Bengels, die Real haben, geschweige denn Abitur. Ich kenne überhaupt keinen Jungen, der liest. Da bin ich anders, das habe ich von meiner Mutti. Vom Feeling her bin ich ein Großstadtmensch, deshalb will ich nach Berlin. Ich lege mich da lieber auf das Badeschiff als hier ans Haff. Aber wenn ich achtzig bin, komme ich bestimmt nach Ueckermünde zurück, um hier meine Ruhe zu haben."

Dr. Prange denkt viel über den Wegzug junger Menschen nach. In Hamburg trifft sich die Jugend von hier schon in einem speziellen Viertel: Einer zieht den anderen nach. Der Arzt hat zwei Söhne von 30 und 24 Jahren und eine Tochter von 28, "alle gleich intelligent". Seine Söhne, sagt er, sind Spätstarter und bodenständig, sie lassen sich gerne von der Mutter verwöhnen. "Wir", solidarisiert sich dieser Mann von 54 Jahren, "müssten in der Schule stärker geführt werden. Sonst gibt es unter uns zu viele Versager." Seine Tochter ging mit achtzehn als Au-pair-Mädchen nach Amerika, dann nach London, um Business-Englisch zu lernen, dann studierte sie in Gießen, und jetzt macht sie ihre Famulatur in der Schweiz.

Seit 1989 sind 1,5 Millionen Menschen aus den neuen Bundesländern weggezogen. 735 000 Männer. Aber 866 000 Frauen. Bei den 18- bis 24-Jährigen, also bei der wanderungsaktivsten Gruppe, wanderten ein Drittel mehr Frauen als Männer ab. Söhne, wenn sie sich irgendwie einrichten können, bleiben. Töchter, wenn sie irgendwie weiterkommen wollen, gehen.
Der Taxifahrer staunt über meine Beobachtungen, bis ihm einfällt, dass seine Mädchen ja auch nach Hamburg gegangen sind, die eine zur Lehre, die andere zum Studium. Die beiden Damen aus einem Einrichtungsgeschäft sind sehr stolz auf ihre Töchter, die Juristin, Ökonomin, Malermeisterin und Religionsstudentin geworden sind. "Sie gingen weg wegen der Arbeit, und sie kommen nicht wieder. Obwohl sie lieber geblieben wären. Inzwischen sind wir hier die Jüngsten - mit fünfzig!"

Die Bürgermeisterin Heidi Michaelis, eine elegante und lebhafte Frau von 57 Jahren, hat ihr Büro im Schloss. Ich darf auch ohne vorherige Verabredung zu ihr hinein und nach der Lage in der Stadt fragen.

"Das Problem ist die Arbeit, die Arbeit, die Arbeit", sagt sie. "Ein Staat muss sich dafür verantwortlich fühlen, er darf das nicht allein der Wirtschaft überlassen. Und wenn der Osten schon keine Arbeitsplätze schaffen kann, dann muss er eben der Dienstleister von Deutschland werden. Im medizinischen Bereich. In der Altenpflege. Oder auch mit neuen Ideen: Warum kann unsere Region nicht die überfüllten Gefängnisse im Westen entlasten? Stattdessen werden wir unsere Justizvollzugsanstalt schließen. Wir könnten 40 Plätze in der Gerichtsmedizin ausbauen und so die Arbeitsplätze in der JVA ersetzen. Aber wir bekommen keine Genehmigung. Das Problem ist dieser Scheißföderalismus." Man merkt, Frau Michaelis ist bei den Linken. "Jetzt fragt mich jeder, was macht ihr, damit es nicht noch weniger junge Frauen werden? Soll ich den Leuten sagen, sie mögen ins Bett gehen und bitte, bitte mehr Mädchen machen?"

Beim Buchhändler sitzt eine Besucherin aus Berlin. Sie hat gestern gemerkt, welche Chancen hier ein weiblicher Neuzugang hat. Als sie aus dem Zug gestiegen ist, begrüßten sie gleich mehrere junge Männer: "Schöne Frau, schöne Frau!" Sie hatte ein gutes Gefühl.

Mirko, 27, Hochbaufacharbeiter, zwei Umschulungen, ist seit Januar arbeitslos. Gestern hat er dem Opa zwei Bänke repariert, heute wird er einem Freund beim Hausbau helfen. Mirko steht auf dem Platz vor der Freiwilligen Feuerwehr und unterhält sich mit Mattias, den er vom Segeln kennt. Der ist 16 und trägt, was hier auffällt, längere Haare. Er geht aufs Gymnasium und hat grade Ferien. Mattias will später zur Marine, weil die Armee am besten ist, wenn man im Osten bleiben will. Er ist gut in der Schule, versteht sich mit seinen Eltern, trinkt kaum und nutzt jede freie Minute für Sport. Um einen wie ihn muss man sich keine Sorge machen.

Mirko hatte sechs Jahre lang keine Freundin, weil er in vielen Städten einer Arbeit nachgezogen ist. Manchmal ging eine Klitsche pleite, dann verdiente er gar nichts. Von seiner jetzigen festen Freundin erzählt er mit Stolz- "die Meine liest viel" - und sagt, dass er eine treue Seele ist. Mattias hat immer Freundinnen, was in seinem Alter, bei seinem Dienst als Rettungsschwimmer und bei seinem Prinzengesicht als unausweichlich erscheint.

Aber der Mädchenmangel in der Gegend ist beiden bekannt. "Wenn man sich in der Disko umdreht, sieht man einen Mann mit einem Bier in der Hand." In einer Abiturklasse am Gymnasium sind 17 Jungen und nur noch ein Mädchen. "Die Mädchen laufen weg", sagt Mirko. "Dafür können wir aber nichts", sagt Mattias.

In Ueckermünde ist es sehr schön.

Zum Strand am Kleinen Haff kann man einen stillen Weg durch duftende Wiesen und Koppeln nehmen. Dazwischen liegen schnurgrade Wasserläufe, von fern sieht es aus, als glitten die Segelboote durch Büsche und Bäume. Der historische Stadtkern und das alte Bollwerk sind saniert, über der Altstadt erhebt sich das ehemalige Pommersche Herzogschloss, daneben steht die barocke Marienkirche, in der am Abend die Glory Gospel Singers aus New York auftreten. Die Stadt sieht aus wie frisch gewaschen, auch außerhalb ihres kleinen Zentrums. Die Bürgermeisterin sagt, dass aus der Städtebauförderung seit 1990 25,9 Millionen Euro nach Ueckermünde gegangen sind. Hafenanlage, Ärztehaus, Arbeitsamt, Berufsförderungszentrum - alles wie neu. Und es ist Sommer.

"Jetzt muss man sich ein bisschen Speck anfuttern, im Winter gibt es kaum Touristen", sagt Michael Brückner, 36, der Geschäftsführer vom Hotel am Markt. Er redet nicht gern mit der Presse, weil der Osten da oft schlecht wegkommt. Er zeigt einen Text aus dem Handelsblatt über seine Stadt. Den haben sich hier viele Bürger empört weitergereicht, und der Text beginnt so: "Typisch! Da stehen sie nun rum, die Nichtsnutze. Im Trainingsanzug. Die Pulle in den Hals geschraubt. Die Augen weit aufgerissen. Zwischen tristen Plattenbauten. Hallo Erich!"
Michael Brückner ärgert auch sehr, dass da steht, in seinem Hotel gebe es angeblich eine Sauna. "Wieso denn angeblich? Wir haben eine Sauna! Die hätte sich dieser Journalist doch einfach mal ansehen können!"

Im Sommer kommen der Mann und seine Leute der Arbeit im Hotel und Restaurant kaum hinterher. "Im Winter ist viel weniger zu tun, da muss ich von meinen 23 Angestellten welche entlassen. Die Frauen im Osten sind so erzogen, dass sie arbeiten wollen. Die bleiben nicht ein halbes Jahr zu Hause sitzen. Also suchen sie sich woanders eine Anstellung."

Die Mädchen im Osten hatten Mütter, die arbeiten gingen. In den Achtzigerjahren lag die Erwerbsbeteiligung von Frauen in der DDR bei 78 Prozent, in der Bundesrepublik bei 55,5 Prozent. Der Unterschied lebt im sozialen Gedächtnis weiter. Eine höhere weibliche Erwerbsneigung hat sich auch nach der Wende erhalten.

Bundesweit erzielen Mädchen und junge Frauen bessere, im Osten sogar deutlich bessere Schulabschlüsse als ihre männlichen Altersgenossen. "Gerade in den wirtschaftsschwachen Landstrichen stellen Frauen einen besonders hohen Anteil unter den Abiturienten, mit der Folge, dass dort auch die Frauenabwanderung am stärksten ausgeprägt ist", heißt es in der Studie "Not am Mann".

Das Zeit-Magazin zeigte eine Deutschlandkarte, verbunden mit der Frage: "Wo wird was gegoogelt?" Nirgendwo anders als in Mecklenburg-Vorpommern wird öfter nach dem Wort "Arbeit" gesucht. In Hannover, zum Beispiel, ist es "Ruhe". In einem anderen Heft wurde auf der Deutschlandkarte die Quote der Abiturientinnen dargestellt: Überall haben Mädchen die besseren Noten und erreichen öfter das Gymnasium. Im Osten kommen auf zwei Jungen mit Abitur drei Mädchen. Deutsche Spitze. Am seltensten machen Mädchen in Bayern Abitur: "Hier", so die Erklärung, "glauben noch immer einige Eltern, es genüge, wenn der Mann das Geld verdient."

Der Fernsehsender Kabel 1 spielte das Thema Frauenabwanderung in einer "Dokutainment-Serie" durch: "Männer allein daheim". Man schickte die Frauen aus einem niedersächsischen Dorf für eine Woche in Urlaub und sah dann - sicher auch mit Inszenierungshilfe -, dass die alleinen Männer keine Ahnung von Haushalt und Kindern haben. Ohne ihre Frauen sind sie im Alltag hilflos. Wie Zurückgebliebene, denen soziale Kompetenzen fehlen. Sie haben ihre Emanzipation verpasst.

"Brigitte" druckte eine Auseinandersetzung zwischen Jungen- und Mädchenmüttern. Jungenmütter glauben, dass ihre bewegungsaktiven, unangepassten Söhne durch Streberinnen benachteiligt werden. Mädchenmütter fürchten, dass ihre vernünftigen, zum Lernen entschlossenen Töchter durch Rabauken gestört werden.

Ein Kulturkampf hat begonnen. Die jungen Frauen - ermuntert durch ihre Mütter, berufsorientierende Girls' Days, durch überwiegend weibliches Lehrpersonal oder durch Sprach- und Kommunikationsbegabung - entwickeln Selbstbewusstsein und nehmen ihr Leben in die Hand. Männliche Jugendliche hängen oft an alten Mustern. Sie hoffen auf Ausbildungsberufe am Bau oder im Handwerk, die es immer weniger gibt und selten als feste Anstellung. Starke Anschübe von außen kennen sie kaum. Man muss sie an die Hand nehmen.
In Ueckermünde gehen vor allem sozial benachteiligte junge Männer zur Berufsförderung, in maximal zehn Monaten soll hier ein Berufswunsch in sieben angebotenen Bereichen gefestigt werden. Danach erfolgt die Ausbildung. Manche drehen mehrere Runden, einer ist schon das neunte Jahr dabei. "Sie werden hier behütet wie in einer Blase", sagt die Berufsberaterin Uta Dutz, 33. Dass viel weniger Mädchen im Haus sind, hat auch mit Wunschberufen zu tun, die hier nicht angeboten werden können. "Wie Mediengestalterin oder Veranstaltungskauffrau", sagt sie, "und seit diese Serie C.S.I. im Fernsehen läuft, wollen alle plötzlich Assistentin in der Autopsie werden. Mädchen haben auch Flausen."

Mädchen haben auch ganz früh Kinder. Die absolut höchste Zahl an Teenager-Müttern in Deutschland gibt es im Kreis Uecker-Randow - elf Prozent aller Kinder werden von Müttern unter zwanzig Jahren geboren. Vor zehn Jahren waren es noch sechs Prozent. Ganz junge Dinger, oft rauchend und stark geschminkt, schieben ihre Kinderwagen. "Beruf Mutter" als Alternative zur Arbeitslosigkeit. Gerade Frauen mit mäßiger Schulbildung finden in früher Mutterschaft einen anerkannten Lebensinhalt und auch finanzielle Unterstützung.
Mit einem Kind tragen sie Verantwortung. Sie können davor viel weniger ausweichen als der Fahrradfahrer, der in der Ueckerstraße abbremst. Er ist ohne Beschäftigung und sucht Leute, die ihm zuhören, obwohl er nur seltsame Andeutungen ausstößt: "Die Alte vom Arbeitsamt, die könnte ich ... Früh aufstehen? Nee ... Drei Kinder habe ich von drei Frauen ... Wurde ja schon mal angeschrieben... Wer bin ich denn ... Die könnten mich alle." In die langen Pausen lässt er immer denselben abschließenden Satz fallen: "So ist das also."

Er platzt vor Stolz, dass er alle Tricks kennt, um Verpflichtungen zu umgehen. Er deutet dunkle Geschäfte an, die genug Geld bringen. Einem wie ihm könnte auch kein staatliches Förderprogramm helfen.

Inzwischen ist eine neue, männlich dominierte Unterschicht entstanden, und es sieht so aus, als würde sie sich auf Dauer damit abfinden.

Die jungen Verlierer bleiben oft unauffällig. Man sieht sie nicht. Sie leben in den Dörfern. Fensterläden und Tor sind geschlossen. Alles still und kaum ein Mensch auf der Straße am hellen Mittag. "Die arbeitslosen jungen Männer sitzen den ganzen Tag drinnen, sie sehen fern und trinken mit den Kumpels. Oder sie schrauben im Hof an alten Autos", erzählt eine Friseurin, die selbst auf dem Dorf wohnt. "Hartz IV reicht, weil sie keine eigene Wohnung haben. Und Mutter kocht und wäscht." Einen Kontakt kann sie mir nicht machen, "die würden denken, dass ich völlig verrückt bin. Die reden nie mit Fremden."

Auch der Bruder von Mandy würde nicht mit mir reden, das wäre ihm unangenehm. "Maler, arbeitslos, falscher Umgang", fasst die Schwester seine Lage zusammen. Der Bruder macht nichts. Dagegen seine Freundin: fährt jeden Tag ganz früh nach Bansin, um für 800 Euro im Monat Brötchen zu verkaufen. "Sie trennen sich, sie versöhnen sich. Sie fällt halt immer wieder auf ihn rein."

Mandy, 28, eigentlich Kellnerin, führt zusammen mit Christin, 26, eigentlich Köchin, einen kleinen Second-Hand-Laden. Vorher haben sie es mit einem Blumengeschäft versucht. Davor waren sie in der Schweiz im Hotel. Gutes Geld. "Aber es gab nur eine Aufenthaltsgenehmigung für elf Monate, und wir hatten eine 7-Tage-Woche. Die sind da mit uns umgegangen wie wir hier mit den Polen zur Spargelzeit. Unsere Arbeit war unsicher. Wir wussten nicht, ob wir die Wohnungen zu Hause halten oder aufgeben sollten. Da sind wir zurückgekommen und versuchen hier wieder was. Aber wir reden jeden Tag über die Schweiz - vielleicht war es doch eine große Chance."

Nur zwei von zehn, die an ihre Heimatorte im Osten zurückkehren, sind weiblich. Die jungen Männer verwurzeln sich nicht und haben Heimweh nach der gewohnten Umgebung. Mädchen sind flexibler. Oft lernen sie auch im Westen einen Mann kennen, Hochzeit und Geburt können folgen. Zwischen 1995 und 2005 summiert sich im Osten der Geburtenverlust durch die Abwanderung junger Frauen auf 100 000 Kinder. So dreht sich die Spirale immer weiter. Fakten und Zahlen ergeben den Eindruck, dass man die demografische Entwicklung im Land nicht anhalten und schon gar nicht umkehren kann.

Beim Haff-Fest sitzen drei Biertrinker um die dreißig in der Sonne. "Die Flasche auf und nieder - wir tun es immer wieder!", rufen sie. Als einer von der Toilette kommt, empfangen ihn Vorwürfe: "Pissen gehen und kein Bier mitbringen, du Eierkopp!" Die Männer trinken und schweigen und trinken. Dann reden sie über Boris Becker, Dieter Bohlen und Joschka Fischer. "Die kannste alle über einen Kamm scheren. Alles Großkotze. Aber die kriegen die Weiber!" "Und warum?" fragt einer. "Weiber haben keinen Verstand." Jeder erklärt sich sein Leben.

Auf der Strandterrasse gibt es ein Kinderfest. Da stehen Stühle, immer einer weniger als die Anzahl der Kinder, die drum herum laufen und mit dem abrupten Ende der Musik schnell einen Platz finden müssen. Wer keinen Stuhl abbekommt, scheidet aus. Zwei Kinder sind noch übrig, sie rennen um den letzten Stuhl. "Junge, Mädchen, Junge, Mädchen!", ruft der ältere Spielleiter, der früher viel im Ost-Fernsehen aufgetreten ist. Die Musik bricht ab. Das kleine Mädchen sitzt, der Junge will sich noch danebenquetschen, aber er hat verloren.
Berliner Zeitung, 15.09.2007

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