Geiz ist anstrengend (Berliner Zeitung)
Geiz ist anstrengend
Bei der Eröffnung eines Einkaufszentrums am Alexanderplatz werden sechs Menschen im Gedränge verletzt. Die Polizei kommt mit hundert Mann
Ann-Dorit Boy
BERLIN. Am Mittwoch um kurz vor acht stehen schon wieder ein paar hundert Menschen vor dem "Media Markt" im neuen Einkaufszentrum Alexa am Alexanderplatz. Die metallenen Rollläden sind heruntergelassen. Eigentlich sollten diese Rollläden vierundzwanzig Stunden lang gar nicht mehr zugehen. Ein Super-Marathon-Shopping sollte es werden. Die Leute vom "Media Markt" hatten gehofft, dass viele Leute zur Eröffnung kommen. Aber was dann passierte, damit hatte wohl niemand gerechnet. Dass die Geizigen, die Geilen und die angeblich Nicht-Blöden auch so brutal sein können. Dass Schnäppchen-Jäger jede Hemmung verlieren, wenn die Schnäppchen nur groß genug sind. Dass ein Einkaufsparadies schon in den ersten Stunden zur Hölle werden kann.
Zum ersten Mal öffnen sich die Rollläden am Dienstag um 23.50 Uhr. Eine Menschenlawine wälzt sich in den Laden, Männer und Frauen schubsen, drängeln, schauen wild um sich, suchen nach Schildern und Hinweisen. "Wo sind die Laptops?", schreit ein junger Mann mit rotem Gesicht. "Scheiße, wo sind die Handys?", ruft ein anderer. Noch bevor die verdutzten Mitarbeiter Hinweise geben können, hat der Laptop-Sucher mit einem Rudel anderer die Rolltreppe gestürmt. Gegen die Laufrichtung hechtet er hoch, immer drei Stufen auf einmal. Er wird zu den Ersten gehören, die den dritten Stock erreichen und ihr Schnäppchen kriegen. Zur Eröffnung des "Media Markts" im Einkaufszentrum Alexa kostet der Computer ein gutes Fünftel weniger als normal. Auch Handys, Navigationsgeräte, Kameras und USB-Sticks gibt es zum Schleuderpreis.
Schon Stunden vor der Eröffnung haben sich tausende Menschen vor der Tür versammelt. Um 23.45 Uhr schallen Sprechchöre durch die Türen "Aufmachen, aufmachen!" Zehn Minuten vor der Zeit lässt Geschäftsführer Michael Malessa den Countdown zählen. Sofort ist der Laden voller Menschen. Sie halten Prospekte in den Händen und wissen genau, welche Dinge sie unbedingt haben wollen. Es ist kein Einkaufsbummel, es ist ein Wettrennen.
Manche haben Glück und finden schnell, was sie suchen. Wie Raimund Triessnitz aus Friedrichshain. Der Glas- und Gebäudereiniger hat fünf Handykartons im Arm. "Die sind für die Verwandtschaft", sagt er. Schon in Schönewalde war er bei der "Media Markt"-Eröffnung dabei. Er ist ein erfahrener Jäger. So wie er tragen viele ganze Einkaufskörbe voller Handys, Navigationsgeräte oder MP3-Player zur Kasse. Manche dieser Geräte werden vielleicht später im Internet angeboten. Weil Schnäppchen-Jäger auch zuweilen ganz geschickte Händler sind.
Die 20-jährige Melissa Caner und ihr kleiner Bruder Cenk haben sich in Windeseile einen Fernseher, einen Monitor, drei Bügeleisen und USB-Sticks gesichert. Sie warten mit ihrer Beute in der Nähe der Kasse. Ein anderer Bruder sucht noch nach Handys. Wenn der große Bruder ihr nicht geholfen hätte, sagt Melissa Caner, dann wäre sie beim Reinkommen im Gedränge wahrscheinlich untergegangen. Sie hatte Angst. Aber die Angebote seien einfach unschlagbar günstig.
Nicht alle sind hart genug für den Kampf. Ein Rentnerpaar gibt die Suche nach einem DVD-Player vorzeitig auf. Sie hätten das Gerät zum halben Preis gerne erstanden, aber die Drängelei ist ihnen zu gefährlich. "Wir verschwinden wieder", sagt der weißhaarige Mann um 0.10 Uhr.
Dabei hat der richtige Wahnsinn noch gar nicht angefangen. Weil der Laden mittlerweile völlig überfüllt ist, schließen die 75 Sicherheitsleute um 0.20 Uhr alle Eingänge. Das lässt sich die Menge vor der Tür nicht gefallen. Zehn Minuten später durchbrechen mehrere Hundert die Kette der Türsteher. Plötzlich ist kein Zentimeter Platz mehr im Laden. Menschen bewegen sich vorwärts ohne den Boden zu berühren. Eine junge Frau bricht in Tränen aus. Obwohl dreimal so viele Kassen geöffnet sind, wie im normalen Betrieb und hunderte Aushilfen beim Verkauf helfen, gelingt es nicht, die Massen durch den Laden zu schleusen.
Auf der Rolltreppe schubsen und prügeln sich die Leute. Als ein Mann über die Seitenabsperrung der Rolltreppe klettert, geht eine Glasscheibe zu Bruch. Sechs Verletzte zählt die Polizei insgesamt in dieser Nacht.
"Grausam!", ruft Henry Fischer. Er versucht mit Frau und Tochter zur Rolltreppe zu kommen und steckt fest. "Das hätte man besser organisieren können", schimpft der Drucker. "Wenn ich gewusst hätte, dass das so ausartet, wäre ich nicht gekommen", sagt auch seine Frau.
"Ich will nur noch nach Hause", sagt Nicole Münch. Die 30-jährige Hausfrau aus Hellersdorf wollte eine Digitalkamera kaufen. Jetzt steht sie mit ihrer Freundin in einer Menschentraube, ihr Gesicht ist rot, sie schwitzt und ist verzweifelt. "Bitte, ich will doch nur raus hier", fleht sie die Leute an. "Ja wir auch, aber hier geht nichts mehr", ruft ein Mann. Münchs Freundin klettert auf ein Regal, um Luft zu bekommen. "Das war das erste und das letzte Mal, dass ich zu so etwas hingehe", stöhnt sie.
Nicole Münch kämpft sich bis an die Metalltür des Notausgangs. Dort streiten mehrere Leute mit dem schwarz gekleideten Sicherheitsmann. Keiner darf raus. "Wenn Sie keinen Ärger haben wollen, dann machen Sie die Tür auf", ruft ein Rentner. Ein junger Mann dreht sich um und schreit: "Wir können die Tür nicht aufmachen, sonst stürmen tausend Leute den Laden. Verdammt noch mal."
Plötzlich wird es noch enger. Sanitäter bahnen sich den Weg zum Ausgang. Sie haben einen blassen jungen Mann untergehakt. Kreislaufkollaps. Ein gutes Dutzend solcher Schwächeanfälle haben die fünf Sanitäter in den ersten zwei Stunden versorgt. "Wir hatten nicht erwartet, dass das so schlimm wird", sagt die Sanitäterin Brigitte Sauerwald. Mit ihrem Kollegen hat sie sich zum Verschnaufen in eine Ecke zurückgezogen. "Selbst wenn wir mehr wären, man kommt ja nicht durch", klagt sie. "Das ist hier völlig aus dem Ruder gelaufen", sagt ihr Kollege Karl Kettner.
Mittlerweile hat die Geschäftsführung des Marktes die Polizei um Hilfe gebeten. Eine Hundertschaft hat den Eingang abgesperrt und verhindert einen zweiten Angriff. Als sich die Rollläden zwischenzeitlich schließen, jubeln die Menschen im Laden. Endlich gibt es Luft und die Chance, irgendwann einmal rauszukommen.
"Das reicht für mein restliches Leben", sagt Karin Weise. "Ich war als Jugendliche zu einem Popkonzert in der Deutschlandhalle, da war es genauso." Die Sekretärin hat es an den Rand geschafft und wartet jetzt vor einem Regal auf ihre Tochter, die irgendwo im Gedränge steckt. Den Laptop für die Tochter hat sie hinter sich versteckt. Jetzt wo der Laden gesperrt ist, kann sie endlich zur Kasse gehen. "Vor fünf Uhr wird es keinen Einlass mehr geben. Bitte verlassen Sie das Gelände", schallt es aus dem Polizeilautsprecher vor der Tür.
Von 0.35 bis 5 Uhr morgens darf erstmal niemand mehr rein. Die Rolltreppe muss repariert werden und die Regale aufgefüllt. Die, die drin sind, dürfen aber weiter einkaufen. Erst um 4 Uhr verlassen die letzten Käufer den "Media Markt".
Das Geschäft ist jetzt eingeweiht. So viel zumindest kann man sagen. Vier Stunden lang hat das Volk gewütet und gekauft. Die Geschäftsleitung wird später sagen, dass der Umsatz außergewöhnlich gut war.
Berliner Zeitung, 13.09.20
Bei der Eröffnung eines Einkaufszentrums am Alexanderplatz werden sechs Menschen im Gedränge verletzt. Die Polizei kommt mit hundert Mann
Ann-Dorit Boy
BERLIN. Am Mittwoch um kurz vor acht stehen schon wieder ein paar hundert Menschen vor dem "Media Markt" im neuen Einkaufszentrum Alexa am Alexanderplatz. Die metallenen Rollläden sind heruntergelassen. Eigentlich sollten diese Rollläden vierundzwanzig Stunden lang gar nicht mehr zugehen. Ein Super-Marathon-Shopping sollte es werden. Die Leute vom "Media Markt" hatten gehofft, dass viele Leute zur Eröffnung kommen. Aber was dann passierte, damit hatte wohl niemand gerechnet. Dass die Geizigen, die Geilen und die angeblich Nicht-Blöden auch so brutal sein können. Dass Schnäppchen-Jäger jede Hemmung verlieren, wenn die Schnäppchen nur groß genug sind. Dass ein Einkaufsparadies schon in den ersten Stunden zur Hölle werden kann.
Zum ersten Mal öffnen sich die Rollläden am Dienstag um 23.50 Uhr. Eine Menschenlawine wälzt sich in den Laden, Männer und Frauen schubsen, drängeln, schauen wild um sich, suchen nach Schildern und Hinweisen. "Wo sind die Laptops?", schreit ein junger Mann mit rotem Gesicht. "Scheiße, wo sind die Handys?", ruft ein anderer. Noch bevor die verdutzten Mitarbeiter Hinweise geben können, hat der Laptop-Sucher mit einem Rudel anderer die Rolltreppe gestürmt. Gegen die Laufrichtung hechtet er hoch, immer drei Stufen auf einmal. Er wird zu den Ersten gehören, die den dritten Stock erreichen und ihr Schnäppchen kriegen. Zur Eröffnung des "Media Markts" im Einkaufszentrum Alexa kostet der Computer ein gutes Fünftel weniger als normal. Auch Handys, Navigationsgeräte, Kameras und USB-Sticks gibt es zum Schleuderpreis.
Schon Stunden vor der Eröffnung haben sich tausende Menschen vor der Tür versammelt. Um 23.45 Uhr schallen Sprechchöre durch die Türen "Aufmachen, aufmachen!" Zehn Minuten vor der Zeit lässt Geschäftsführer Michael Malessa den Countdown zählen. Sofort ist der Laden voller Menschen. Sie halten Prospekte in den Händen und wissen genau, welche Dinge sie unbedingt haben wollen. Es ist kein Einkaufsbummel, es ist ein Wettrennen.
Manche haben Glück und finden schnell, was sie suchen. Wie Raimund Triessnitz aus Friedrichshain. Der Glas- und Gebäudereiniger hat fünf Handykartons im Arm. "Die sind für die Verwandtschaft", sagt er. Schon in Schönewalde war er bei der "Media Markt"-Eröffnung dabei. Er ist ein erfahrener Jäger. So wie er tragen viele ganze Einkaufskörbe voller Handys, Navigationsgeräte oder MP3-Player zur Kasse. Manche dieser Geräte werden vielleicht später im Internet angeboten. Weil Schnäppchen-Jäger auch zuweilen ganz geschickte Händler sind.
Die 20-jährige Melissa Caner und ihr kleiner Bruder Cenk haben sich in Windeseile einen Fernseher, einen Monitor, drei Bügeleisen und USB-Sticks gesichert. Sie warten mit ihrer Beute in der Nähe der Kasse. Ein anderer Bruder sucht noch nach Handys. Wenn der große Bruder ihr nicht geholfen hätte, sagt Melissa Caner, dann wäre sie beim Reinkommen im Gedränge wahrscheinlich untergegangen. Sie hatte Angst. Aber die Angebote seien einfach unschlagbar günstig.
Nicht alle sind hart genug für den Kampf. Ein Rentnerpaar gibt die Suche nach einem DVD-Player vorzeitig auf. Sie hätten das Gerät zum halben Preis gerne erstanden, aber die Drängelei ist ihnen zu gefährlich. "Wir verschwinden wieder", sagt der weißhaarige Mann um 0.10 Uhr.
Dabei hat der richtige Wahnsinn noch gar nicht angefangen. Weil der Laden mittlerweile völlig überfüllt ist, schließen die 75 Sicherheitsleute um 0.20 Uhr alle Eingänge. Das lässt sich die Menge vor der Tür nicht gefallen. Zehn Minuten später durchbrechen mehrere Hundert die Kette der Türsteher. Plötzlich ist kein Zentimeter Platz mehr im Laden. Menschen bewegen sich vorwärts ohne den Boden zu berühren. Eine junge Frau bricht in Tränen aus. Obwohl dreimal so viele Kassen geöffnet sind, wie im normalen Betrieb und hunderte Aushilfen beim Verkauf helfen, gelingt es nicht, die Massen durch den Laden zu schleusen.
Auf der Rolltreppe schubsen und prügeln sich die Leute. Als ein Mann über die Seitenabsperrung der Rolltreppe klettert, geht eine Glasscheibe zu Bruch. Sechs Verletzte zählt die Polizei insgesamt in dieser Nacht.
"Grausam!", ruft Henry Fischer. Er versucht mit Frau und Tochter zur Rolltreppe zu kommen und steckt fest. "Das hätte man besser organisieren können", schimpft der Drucker. "Wenn ich gewusst hätte, dass das so ausartet, wäre ich nicht gekommen", sagt auch seine Frau.
"Ich will nur noch nach Hause", sagt Nicole Münch. Die 30-jährige Hausfrau aus Hellersdorf wollte eine Digitalkamera kaufen. Jetzt steht sie mit ihrer Freundin in einer Menschentraube, ihr Gesicht ist rot, sie schwitzt und ist verzweifelt. "Bitte, ich will doch nur raus hier", fleht sie die Leute an. "Ja wir auch, aber hier geht nichts mehr", ruft ein Mann. Münchs Freundin klettert auf ein Regal, um Luft zu bekommen. "Das war das erste und das letzte Mal, dass ich zu so etwas hingehe", stöhnt sie.
Nicole Münch kämpft sich bis an die Metalltür des Notausgangs. Dort streiten mehrere Leute mit dem schwarz gekleideten Sicherheitsmann. Keiner darf raus. "Wenn Sie keinen Ärger haben wollen, dann machen Sie die Tür auf", ruft ein Rentner. Ein junger Mann dreht sich um und schreit: "Wir können die Tür nicht aufmachen, sonst stürmen tausend Leute den Laden. Verdammt noch mal."
Plötzlich wird es noch enger. Sanitäter bahnen sich den Weg zum Ausgang. Sie haben einen blassen jungen Mann untergehakt. Kreislaufkollaps. Ein gutes Dutzend solcher Schwächeanfälle haben die fünf Sanitäter in den ersten zwei Stunden versorgt. "Wir hatten nicht erwartet, dass das so schlimm wird", sagt die Sanitäterin Brigitte Sauerwald. Mit ihrem Kollegen hat sie sich zum Verschnaufen in eine Ecke zurückgezogen. "Selbst wenn wir mehr wären, man kommt ja nicht durch", klagt sie. "Das ist hier völlig aus dem Ruder gelaufen", sagt ihr Kollege Karl Kettner.
Mittlerweile hat die Geschäftsführung des Marktes die Polizei um Hilfe gebeten. Eine Hundertschaft hat den Eingang abgesperrt und verhindert einen zweiten Angriff. Als sich die Rollläden zwischenzeitlich schließen, jubeln die Menschen im Laden. Endlich gibt es Luft und die Chance, irgendwann einmal rauszukommen.
"Das reicht für mein restliches Leben", sagt Karin Weise. "Ich war als Jugendliche zu einem Popkonzert in der Deutschlandhalle, da war es genauso." Die Sekretärin hat es an den Rand geschafft und wartet jetzt vor einem Regal auf ihre Tochter, die irgendwo im Gedränge steckt. Den Laptop für die Tochter hat sie hinter sich versteckt. Jetzt wo der Laden gesperrt ist, kann sie endlich zur Kasse gehen. "Vor fünf Uhr wird es keinen Einlass mehr geben. Bitte verlassen Sie das Gelände", schallt es aus dem Polizeilautsprecher vor der Tür.
Von 0.35 bis 5 Uhr morgens darf erstmal niemand mehr rein. Die Rolltreppe muss repariert werden und die Regale aufgefüllt. Die, die drin sind, dürfen aber weiter einkaufen. Erst um 4 Uhr verlassen die letzten Käufer den "Media Markt".
Das Geschäft ist jetzt eingeweiht. So viel zumindest kann man sagen. Vier Stunden lang hat das Volk gewütet und gekauft. Die Geschäftsleitung wird später sagen, dass der Umsatz außergewöhnlich gut war.
Berliner Zeitung, 13.09.20
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