Knaller an der Zeitungsfront

Tuesday, October 14, 2008

Müllbananen gegen das Kapital (FAZ)

"Freeganer“ in Amerika
Müllbananen gegen das Kapital
Von Katja Gelinsky, Washington

10. September 2006
Adam Weissman ernährt sich aus der Mülltonne. Nicht etwa, weil Not ihn dazu zwingt. Nein, für den jungen Mann ist nur diese ressourcenschonende Art der Nahrungsmittelbeschaffung ethisch vertretbar. „Städtische Futtersuche“ nennen der 28 Jahre alte Amerikaner und seine Gesinnungsgenossen diese Praxis. Im Volksmund nennt man das seltsame obby auch „dumpster diving“ - „Müllcontainertauchen“. Niemand weiß genau, wie viele konsumkritische Futtersucher und Müllcontainertaucher in New York und anderen Metropolen auf Hinterhöfen von Lebensmittelgeschäften und Restaurants nach Eßbarem stöbern. Aber sicher ist, daß es mehr werden.

Einschlägige Internetseiten wie „dumpsterworld.com“ und „dumpsterdiving.net“ verzeichnen einige tausend Einträge. „Wir haben den Eindruck, daß es mehr und mehr Fälle gibt“, heißt es bei amerikanischen Lebensmittelketten mit ökologischem Anspruch wie „Whole Foods Market“, die ein beliebtes Ziel von Abfallstöberern ist. Reges Interesse gibt es auch an den „Trash Tours“ (Mülltouren), die Adam Weissman und andere Aktivisten der radikallinken New Yorker Initiative „Freegan.info“ einmal in der Woche anbieten. Meist kämen 20 bis 25 Teilnehmer, sagt Weissman.

Freeganismus, Guerilla Gardening und Squatting

In der Lehrstunde zur Wegwerfgesellschaft wird zum Beispiel auf Statistiken der amerikanischen Regierung verwiesen, nach denen in den Vereinigten Staaten jedes Jahr ein Viertel aller zubereiteten Mahlzeiten im Abfall landen - mehr als vier Millionen Tonnen. Am Beispiel einer Banane, die Freeganer aus dem Müll eines Lebensmittelgeschäfts klauben, fächern sie dann ihre Kritik am globalen Wirtschaftssystem auf: Umweltzerstörung, Ausbeutung von Arbeitskraft, Armut, Krieg. Dagegen hilft nach Überzeugung der Freeganer nur ein möglichst umfassender Boykott der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

Die Wortschöpfung Freeganismus verbindet den Anspruch, frei zu sein (“free“) und die Ausbeutung von Tieren zu vermeiden (“vegan“). Das Müllcontainertauchen ist für überzeugte Freeganer nur eine von vielen Methoden, ihre Idee von Umweltschutz und sozialer Verantwortung zu verwirklichen. Die Palette reicht von Reparaturlehrgängen und unbezahlten Diensten für sozial Schwache bis zu illegalen Praktiken wie „Guerilla Gardening“ - der Verwandlung urbaner Ödflächen in Gärten - und „Squatting“ - der Besetzung leerstehender Häuser, um sie für soziale Zwecke nutzbar zu machen.

Von der Gemüsetheke in die Tasche des Abfallstöberers

Adam Weissman bezeichnet sich denn auch als „revolutionären Antikapitalisten“. Aber längst nicht alle Müllcontainertaucher teilten seine politischen Überzeugungen. Im übrigen lebt Weissman, der sein Geld mit Gelegenheitsjobs bei Bürgerrechts- und Umweltschutzorganisationen verdient, bürgerlicher, als man vermuten könnte. Er wohnt bei seinem Vater und seinen Großeltern in Teaneck in einem Vorort Gutverdienender unweit von Manhattan. Der Vater ist Kinderarzt, und jede Generation bewohnt ihre eigene Etage.
Weissman dürfte zu den Pionieren der „Dumpster Diver“ gehören. Seit fast zwölf Jahren ernährt er sich aus Abfalltüten und Abfallcontainern. Ekel empfindet er dabei nicht. Viele Nahrungsmittel seien noch in Ordnung und landeten nur deshalb auf dem Abfall, um Platz für neue, frische Ware zu schaffen. Außerdem seien die „Dumpster Diver“ schnell zur Stelle. Es sei nur eine Sache von Stunden, bis eine Zucchini von der Gemüsetheke im Geschäft in die Tasche eines Abfallstöberers wandere. Gestank und Ungeziefer machen den Müllcontainertauchern angeblich nicht zu schaffen.

Nur eine einzige Ratte in all den Jahren

Oft rieche es sogar richtig gut, „nach Früchten, Gemüse und Blumen“. Und Ratten? Eine einzige habe er in all den Jahren vorbeihuschen sehen, sagt Adam Weissman. Michael Greger, ein amerikanischer Mediziner und Ernährungsfachmann, der sich auf populärwissenschaftliche Bücher und Vorträge spezialisiert hat, sieht auch keine gesundheitlichen Gefahren, solange Mülltaucher nicht zu Risikogruppen für Lebensmittelvergiftungen gehörten und einige Vorsichtsmaßnahmen beachteten.

Zum Beispiel sollten sie darauf verzichten, Fleisch, Fisch und Eier aus der Mülltonne zuzubereiten. Andere Fachleute dagegen sagen, alles Eßbare, das im Abfall gelandet sei, solle zur Vermeidung gesundheitlicher Risiken auch dort bleiben. Sprecher von Supermarktketten wie „Whole Foods Market“ weisen außerdem darauf hin, daß Nahrungsmittel, die für den menschlichen Verzehr noch geeignet erschienen, nicht weggeworfen, sondern an Suppenküchen und Obdachlosenunterkünfte geliefert würden.

Abwehrmaßnahmen der amerikanischen Supermärkte

Dies genügt manchen Mülltauchern aber nicht. In Washington, zum Beispiel, durchforsten Mitglieder der radikallinken Bewegung „Food not Bombs“ (“Essen statt Bomben“) Müllcontainer nach Gemüse und Obst, um daraus vegetarische Mahlzeiten für Bedürftige zuzubereiten.
Manche amerikanischen Supermärkte haben mittlerweile Abwehrmaßnahmen gegen Mülltaucher getroffen, nicht zuletzt da sie Gerichtsprozesse befürchten, falls doch einmal jemand krank wird. So wurden Zäune gezogen oder offene Container durch geschlossene ersetzt. Ferner haben einige Gemeinden Verbote erlassen. Aber Ärger mit der Polizei hat Adam Weissman noch nie gehabt. Die New Yorker Polizei habe Wichtigeres zu tun, als sich um Mülltaucher zu kümmern.
Text: F.A.Z.Bildmaterial: REUTERS

In den Mülleimern des Kapitalismus (FAZ)

Containerer
In den Mülleimern des Kapitalismus
Von Jochen Stahnke
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Hauke wühlt nachts in Abfalltonnen, um nach Lebensmitteln zu suchen

13. Oktober 2008 Ausgerechnet Butter zieht Hauke aus dem Müllcontainer des Famila-Supermarktes. „Das ist doch hochsymbolisch in Zeiten der Finanzkrise!“ Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist nicht überschritten, die Verpackung einwandfrei. Trotzdem liegt sie im Abfall. „Wahrscheinlich haben sie keinen Platz mehr gehabt, die einzusortieren“, vermutet der 24 Jahre alte Aktivist. Ein bis zweimal die Woche wühlt Hauke im Müll. Nicht, weil er muss, sondern aus Überzeugung. Zehn Pakete Kräuterbutter liegen schon mal in seinem Korb.
Hauke stammt aus einer Bauernfamilie. Für ihn stehen Lebensmittel noch in unmittelbarem Bezug zum Produzieren und Ernten. Ein bis zwei Mal in der Woche zieht er mit seinen Mitstreitern los, um zu „containern“, wie sie es nennen. Das Ziel: sich vollständig aus dem Müll von Supermärkten, Warenhäusern oder Baumärkten zu versorgen.

Hauke möchte alternativ leben

Bad Oldesloe ist kein sozialer Brennpunkt, hier herrscht kein Großstadtelend. „Die Metropolenkiddies“, sagt Hauke, mit denen möchte er sich nicht identifizieren. Um wohlfeilen Protest geht es ihm nicht. Er möchte alternativ leben, er möchte sich aus dem Kapitalismus ausklinken, so weit es geht. Geld benötigt er kaum. 100 bis 150 Euro verdiene er im Monat durch Referententätigkeit auf linken Veranstaltungen. „Das reicht dicke.“ Hartz IV bekommt er nicht. „Das wäre auch viel zu anstrengend, es zu beantragen.“ Ein Jahr lang hat er mal bei Greenpeace gearbeitet.

Bad Oldesloe ist eine Schlafstadt für Menschen, die im 50 Kilometer entfernten Hamburg arbeiten. FDP und Grüne haben hier 15 Prozent, die Linke ist nicht vertreten. Ideal, um in Ruhe gelassen zu werden. Aus dem Ruhrpott, aus Berlin, aus Hannover sind sie nach Bad Oldesloe gezogen. Kennengelernt haben sich die Mitglieder der Wohngemeinschaft bei gemeinsamen Aktionen wie etwa dem Protest gegen den G8-Gipfel.

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„Freeganer“ in Amerika: Müllbananen gegen das Kapital
Bad Oldesloe zieht die Gardinen zu
Sie gehen systematisch vor. Heute ist der äußere Ring von Bad Oldesloe dran. Das Industriegebiet und die drei großen Supermärkte Lidl, Aldi und Famila. So zwischen acht und 26 Menschen leben in der Kommune, sagt Hauke. Meist gehen sie in einer größeren Gruppe los. Heute bleiben schlussendlich zwei dabei. Die Presse ist bei den meisten unerwünscht.
Eine Höhlenlampe um die Schirmmütze, Handschuhe mit der Aufschrift der örtlichen Sparkasse, Lebensmittelkörbe und ein Fahrrad mit großem Anhänger - Hauke ist ausgerüstet. Um kurz nach zehn Uhr geht es los. Die Kunden sind längst gegangen und die Angestellten im Feierabend. Bad Oldesloe zieht die Gardinen zu und schaut fern.

Nach zehn Minuten ist der erste Korb voll

Die erste Station ist der Lidl-Supermarkt in einer gottverlassenen Gegend in der Nähe einer Schnellstraße. Vier große Container und drei kleine Mülltonnen stehen am Ende der Verladerampe. Ein Bewegungsmelder springt an. Neonlicht erhellt den tristen Hinterhof. Geübt wiegt Hauke diverse Paprika, Avocados und eine Melone in der Hand hin und her. Eine Mitstreiterin hält ihre Taschenlampe in den Container. Einiges wird zurückgeworfen, vieles wandert in den Plastikkorb im Fahrradanhänger.

Nach kaum zehn Minuten ist der erste Korb voll. Das Gemüse im Korb sieht aus wie gerade eingekauft. „Es ist doch so“, erklärt Hauke, „nur weil auf irgendwelchen Plantagen Arbeiter ausgebeutet werden, lohnt es sich, das hier wegzuschmeißen.“ Manchmal, sagt Hauke, gehen sie auch in Supermärkte und zeigen alten Frauen, die mutmaßlich schon zu Kriegszeiten gelebt haben, Kohlköpfe, die sie im Abfall gefunden haben. „Da geht manch eine Frau zum Marktleiter und macht den dann zur Sau.“

Auch Kaviar lässt sich finden
Den Unterschied zwischen Warenwert und Nutzwert erklärt Hauke anhand einer Flasche Malzbier. So, wie sie dort mit abgerissener Hülle liegt, habe sie keinen Warenwert mehr. Der Nutzwert allerdings sei der gleiche. Trotzdem werde das Malzbier aus dem Wirtschaftskreislauf genommen.

Je edler der Lebensmittelhändler, desto schmackhafter der Abfall. Bei Famila lässt sich ab und an Kaviar finden - im vergangenen Jahr allein sechs Paletten zu je 10 Gläsern. Das Mindesthaltbarkeitsdatum lief bald ab. „Aber bei eingelegter Ware ist das doch lächerlich!“

Das Entwenden von Abfall ist Diebstahl

Heute riecht der Container, in dem der Schatz gefunden wurde, nach gammeligem Fleisch. Es stinkt bestialisch. Zu sehen sind Kleider und eine ausgebeulte Sporttasche. „Hier mal ein Baby zu finden, das ist mein größter Albtraum“, murmelt Hauke. Wie er es sagt, hält er kurz inne, zieht die Tasche dann aber routiniert aus dem Müllcontainer. Gebügelte T-Shirts und Pullover kommen zum Vorschein. Und Briefe, darunter ein Strafbescheid wegen Fahrerflucht.
Plötzlich ein Mann mit Hund, möglicherweise Wachpersonal. Jetzt heißt es ruhig bleiben und nicht den Eindruck erwecken, man sei ein Einbrecher. Denn auch das Entwenden von Abfall ist Diebstahl. In Köln wurde dafür 2004 eine Aktivisitin angeklagt und gegen Ableistung von Sozialstunden freigesprochen. Doch der Mann ist allein und will wohl nicht eingreifen. Er tut, als sei er nicht da und schleicht leise von dannen.

Einige treibt die Not zum Containern

Etwa 3000 Menschen containern in Deutschland, vermutet Hauke, der gut vernetzt ist in der Szene. Einige treibt auch die Not zum Containern. Selbst in einer Stadt wie Bad Oldesloe. Ein alter Mann containert zwei Mal die Woche für sich und seinen Hund, nachts, damit niemand den Hartz-IV-Empfänger auf seinem Mofa sieht. Es ist ihm peinlich. Mit Hauke und seinen Kumpels möchte er nichts zu tun haben. Und mit den Tafeln, die Bedürftige versorgen, auch nicht.
„Wir unterstützen das absolut nicht“, sagt Anke Assig vom Bundesverband der Tafeln in Deutschland. „Containern ist hochgradig gesundheitsschädlich.“ Niemand müsse in Deutschland hungern. Mittlerweile gibt es fast 800 Tafeln, die gegen einen symbolischen Obolus Nahrung an Bedürftige verteilen. Vor drei Jahren hat der Verband eine Schätzung durchführen lassen. So haben die deutschen Supermärkte etwa 100.000 Tonnen Lebensmittel gespendet. Bloß Aldi Nord, sagt Assig, beteilige sich daran nicht.

Gemüse im Müll

„Bei Aldi gibt es Gemüse im Müll“, sagt Hauke, „das ist genau so gut wie im Laden selbst.“ Lebensmittel habe er seit einem Jahr nicht mehr eingekauft. Jede bloß rudimentär eingedellte Paprika, jede kaum eingerissene Käsepackung im Mülleimer - für Hauke ein Fanal wider Verschwendung und Kapitalismus.

Heute liegt auch ein Produzent für Krankenhausbedarf auf dem Weg. Eine Mitstreiterin öffnet einen großen Container, fast fällt eine Matratze hinaus. Niemand hat dafür Bedarf, Hauke schläft bereits auf zwei Matratzen übereinander. Sie finden noch ein Sauerstoffzelt und nehmen es mit. Die Ausbeute ist heute durchschnittlich: Obst und Gemüse für alle, Kräuterbutter für den Rest des Jahres, 30 Törtchen, zehn haltbare Schachteln mit Grillkartoffeln. Nur keine Schokolade. Kurz nach Weihnachten wird es wieder soweit sein. Wenn zum 1. Januar wieder tonnenweise Weihnachtsmänner aus den Regalen genommen werden, dann hat das System keinen Schaden genommen.
Text: F.A.Z.Bildmaterial: Jesco Denzel

Ein Gesang aus der Hölle (Frankfurter Rundschau)

"Terror und Traum"
Ein Gesang aus der Hölle
VON ARNO WIDMANN

Mehr als achthundert engbedruckte Seiten hat Karl Schlögels Buch "Terror und Traum". Es ist ein Gang durchs Moskau des Jahres 1937 in dreiunddreißig, also kleinen Kapiteln. Das gibt dem Buch, dessen erklärtes Ziel es ist, sich jeder eindimensionalen Erklärung durch die Ausbreitung der unterschiedlichsten Moskauer Aktualitäten des Jahres 1937 entgegenzustellen, eine verblüffende Transparenz. Der Umfang muss Niemanden schrecken. Das Buch türmt sich nicht mit einer gewaltigen Erzählung vor dem Leser auf, sondern es besteht aus dreiunddreißig Novellen. Vielleicht auch Gesänge. Vielleicht hat Schlögel - der Verdacht drängt sich bei soviel kompositorischer Reflexion auf - an Dantes "Commedia" gedacht, deren drei Bücher - Hölle, Fegefeuer, Paradies - auch aus jeweils dreiunddreißig Gesängen bestehen.


Schlögels Moskau von 1937 wäre ein Gesang aus der und über die Hölle. Aber eine Hölle, das macht Schlögel klar, in der das ganz normale Leben weitergeht. Freilich so verflochten mit dem sich entfaltenden Terror des Regimes, dass dieser selbst in die intimsten Wünsche eindringt und sie sich zu eigen macht.

Karl Schlögel ist ein Meister des Grundakkords. Hier ist es der im Titel genannte Zusammenklang von Terror und Traum, von Utopie und Gewalt, von Menschheitsbeglückung durch Menschenvernichtung. Das ist der basso continuo der achthundert Seiten. Nicht zu schaffen wäre das für ältere, empfindlicher gewordene Nerven, also auch nicht für die des Autors. Also interessiert er sich für die gegenläufigen Motive ebenso sehr. Er versucht uns klarzumachen, dass auch in einer Welt, in der jeder damit rechnen musste, dass morgens die Herren in den Gummimänteln an seine Tür klopften und er in den Gulag verschleppt oder erschossen wurde, die Menschen davon träumten, zu begehren und begehrt zu werden, dass Liebesgedichte auch mitten im Terror Menschen zu Tränen rühren können.

Das Puschkin-Jubiläum vom 10. Februar 1937 installiert - nicht einmal einen Monat nach dem zweiten Moskauer Schauprozess - ein sozialistisch-sowjetisches Innenleben, das nur schwer zu unterscheiden ist von der traditionellen Puschkinbegeisterung. Das und nicht die auch auszumachenden Differenzen sind die eigentliche Pointe dieser Montage der stalinistischen Ingenieure der Seele. Der Terror, der an einem verübt wird und den man selber verübt, wird leichter erträglich, wenn man sein Innerstes mit einer Samthaut versieht, die einem ein schönes Gefühl gibt. Auch das ist eine Aufgabe der Literatur.

Schlögels Buch ist das Buch eines Historikers. Er hat die Quellen genau studiert. Es ist aber auch das Buch eines Erzählers, eines Mannes also, der die Quellen hat auf sich wirken lassen, damit sie auf uns wirken. Nach der Lektüre von "Terror und Traum" wissen wir deutlich mehr über den Stalinismus als vor der Lektüre. Wir sind klüger geworden. Vor allem aber sind wir empfindlicher geworden. Wir spüren in manchen Passagen wie die stalinistischen Texte durch Schlögels Reflexionen hindurchschlagen. Wir bekommen eine Ahnung von der Faszination, die der Wille, die Welt, die ganze Welt und den ganzen Menschen zu ändern, für Schlögel, aber auch für viele von uns - seinen Lesern - hat.

Wenn Schlögel vom "integralen Zugriff" der stalinistischen Planung auf das neu zu schaffende Moskau spricht, dann hat der Leser noch im Ohr, wie wichtig es ihm in seinen Vorbemerkungen war, dass die Vielfalt des ganzen Geschehens des Jahres 1937 verstanden wird. Der Erzähler ist dem alles überblickenden Gott ebenso nahe wie dem zentralistischen Planer, bei dem alle Daten einer Gesellschaft zusammenlaufen. Das weiß Schlögel. Darum hat er die eine große Erzählung, in die er immer wieder gerät, zerpfählt in die dreiunddreißig Novellen aus dem Moskau der Pest der Verleumdung und des Terrors. Er verzichtet so auf den Traum des einen alles umfassenden Blickes zugunsten einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven.

Jedes einzelne seiner Kapitel aber spielt mit dem Grundmotiv von Terror und Traum. Die Nichtveröffentlichung der Daten der Volkszählung vom 6. Januar 1937 gehört ebenso zu diesem Jahr wie die Tatsache, dass dem Moskauer Adressbuch von 1936 kein neues folgte. Man liest das und beginnt eine Ahnung davon zu bekommen, welche Kraft Gorbatschows Begriff "Glasnost" entfalten musste in einer Welt, in der alle Daten über die soziale Realität Geheimwissen waren. Eine solche Gesellschaft ist nicht reparaturfähig.

Karl Schlögel zitiert immer wieder sowjetische Zahlen, er berauscht sich und den Leser an den ungeheuren Umwälzungen jener Jahre. Leider gibt es kein Kapitel, in dem erklärt würde, wie wir diese Zahlen zu verstehen, zu lesen haben. Sie waren schließlich von Anfang an vor allem Propaganda.

Schlögel macht klar, wie viel Vernichtung der so frenetisch gefeierte Neu-Aufbau voraussetzte. Das alte Moskau wurde systematisch zerstört. Mit ihm die alten Moskauer, die alten Eliten und die alten Bürger. "Terror und Traum" erzählt nicht nur, wie das schön Gedachte umschlägt in blutige Vernichtung oder der befreiende Impuls im Prozess seiner Realisierung bürokratisch verwaltet und damit zu Tode gebracht wird, sondern auch, wie mitten im Terror das Schöne, der Traum davon sich immer wieder Platz schafft.

Karl Schlögel ist auch darin ein Erzähler, dass er ein melancholischer, die Hoffnung aber niemals aufgebender Mitmensch ist, einer, der an die Menschheitsbeglückung nicht mehr zu glauben vermag, der aber gleichzeitig nicht davon ablassen kann, von ihr zu träumen. Das gibt seinen Texten etwas von dem Pathos seiner Gegenstände und der Art, wie sie im vergangenen Jahrhundert betrachtet wurden. Es ist eine in die Jahre gekommene, für mich freilich unwiderstehliche Schönheit.

Karl Schlögel: Terror und Traum - Moskau 1937. Hanser Verlag, München 2008, 812 Seiten, Abb., Karten, 29,90 Euro

Techtelmechtel (Frankfurter Rundschau)

"Schmidt liest Proust"
Techtelmechtel

Was als Blog vor zwei Jahren zu wuchern begann, ist ein vergleichsweise übersichtliches 600-Seiten-Buch geworden: "Schmidt liest Proust" dürfte die abgefahrenste Publikation dieses Herbstes sein. Und die Verleger von Voland & Quist sollten dafür einen Orden bekommen.Wer Proust schon kennt, wird beschenkt, und die anderen - hoffentlich - verführt, ihn kennenzulernen. Mit einer Mischung aus niedrigstapelnder Nonchalance und Lesebühnen-Schnodderigkeit traktiert Jochen Schmidt, Mitbegründer der legendären "Chaussee der Enthusiasten", den französischen Supermythos. Das tut er schlicht und ergreifend, indem er "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" durchliest (in der DDR-Lizensausgabe seiner Eltern). Bildungshuberei geht ihm völlig ab; bei Schmidt wird die Kokotte Odette zum "Techtelmechtelprofi", und Tante Léonie ist ihm schlicht eine "Hypochonderin".

Das tägliche Pensum von 20 Seiten bewältigt Schmidt mit zunehmender Begeisterung. Am Ende ist er richtig stolz auf seine "Lebensleistung". Ja: "Man könnte sagen, dass man nicht sterben sollte, ohne Proust gelesen zu haben. Aber in Wirklichkeit ist man dann noch gar nicht geboren." Von gelegentlichen Disziplindellen abgesehen, über die wir pingelig informiert werden, zieht Schmidt sein Experiment durch - egal, ob er auf seinem Ostberliner Balkon den Pennern lauscht oder auf der Krim Russischkurse belegt.

Seine scheinnaive Intelligenz ist schlicht hinreißend, als Prousts größtes Talent erkennt er die Komik. Im Juli 2006 hat der Verfasser von "Triumphgemüse" begonnen, "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu lesen, im Januar 2007 macht Schmidt seinen letzten Eintrag.
Das letzte Wort lässt er Proust: "Wie viele gewaltige Kathedralen bleiben unvollendet!" I.H.

Das Buch
Jochen Schmidt: Schmidt liest Proust. Mit CD. Verlag Voland & Quist, Dresden 2008, 608 S., 19,90 Euro.