Knaller an der Zeitungsfront

Monday, January 22, 2007

Stärker als der Krebs (Tagesspiegel)

Stärker als der Krebs
Der Fußballprofi Karsten Hutwelker hat seine schwere Krankheit überwunden und spielt wieder für Augsburg
Von Sven Goldmann, Augsburg

Der erste Satz: „Ich will eine Cola.“ Die erste Frage: „Hat der Krebs gestreut?“ – „Nein, alles super gelaufen, du wirst wieder gesund.“ – „Wenn du mich jetzt anlügst, lasse ich mich scheiden!“

Dieses Gespräch hat Karsten Hutwelker am 22. September des vergangen Jahres mit seiner Frau geführt, nach einer sechseinhalbstündigen Operation, die über Leben und Tod entschied. Es verrät auch in seiner Kürze viel über den Menschen und Fußballprofi Hutwelker. Er hat im Zweifelsfall den Genuss über das professionelle Leben gestellt – kann man sich Ewald Lienen mit einer Cola am Krankenbett vorstellen? Hutwelker ist immer geradeheraus gewesen, nicht immer zu seinem Vorteil.

Karsten Hutwelker ist 35 Jahre alt. Er plaudert gern und viel und kurzweilig. Wer ihm zuhört, sieht irgendwann nicht mehr die lange Narbe am Hals und dass der linke Kiefer hängt. Unten links fehlen sieben Zähne, sie werden in ein paar Monaten mit Implantaten ersetzt. Karsten Hutwelker trägt das Haar strubbelig und ein Bärtchen, wie es Frank Zappa früher trug. Zappa ist an Krebs gestorben. Hutwelker hat ihn überlebt.

Bis zum vergangenen Sommer war Karsten Hutwelker einer der vielen Fußballspieler, die ihr Talent dem Spaß opferten, in Hutwelkers Fall sogar ganz bewusst, er mag das Leben, hat es immer gemocht, es war zu schön, es den Zwängen einer allzu mönchischen Profi-Existenz unterzuordnen. Er hat in Wattenscheid gespielt und in Regensburg, in Saarbrücken und Jena. „Weltklasse auf dem Platz und an der Theke“, heißt es im Internetforum des 1. FC Saarbrücken.

Er hat aber auch mit dem italienischen Nationalspieler Angelo di Livio beim AC Florenz gespielt und beim FC Wimbledon mit Vinnie „the axe“ Jones“, dem legendären Verteidiger, der ein Video mit seinen brutalsten Fouls herausgab. Wo der Mittelfeldspieler Hutwelker den Ball trat und ihn streichelte, war er der Liebling der Fans. Er hat seinen eigenen Sprechchor: „Hutwelkereinsatz, Hutwelkereinsatz!“ Bernd Schuster, sein Trainer beim 1. FC Köln, hat einmal gesagt: „Huti, ich verstehe dich nicht. Du müsstest längst Millionen verdienen und Nationalspieler sein. Was machst du hier in der Zweiten Liga?“

Karsten Hutwelker hat, wie immer in solchen Situationen, mit Gegenfragen geantwortet: Was habe ich von den Millionen, wenn ich morgens nicht mehr in den Spiegel schauen kann? Wenn ich die schönsten Jahre meines Lebens der bloßen Pflichterfüllung unterordne? Wenn mir morgen ein Ziegelstein auf den Kopf fällt?

Wenn der Krebs streut?

Die Geschichte, die Karsten Hutwelker heraushebt aus der Masse, beginnt im August 2006. Sein FC Augsburg, gerade in die Zweite Bundesliga aufgestiegen, spielt beim SC Paderborn. Hutwelker freut sich auf ein Wochenende daheim in Erftstadt bei Köln. Dort wohnt die Familie, Alexandra mit den Kindern Vivien und Lennox. In der Zweiten Liga wird meist freitags oder sonntags gespielt, danach verbringt Karsten Hutwelker immer zwei Tage daheim. Dieses Mal muss ein Teil der kostbaren Zeit dem Besuch beim Zahnarzt geopfert werden. Da ist diese Schwellung im Unterkiefer, sie schmerzt nicht, aber Hutwelker spürt sie, wenn er mit der Zungenspitze darübergleitet. Der Zahnarzt sagt: „Am Zahn ist nichts, das muss ein Kieferorthopäde untersuchen.“ Der Kieferorthopäde sagt: „Bleiben Sie mal sitzen, den Zahn ziehe ich Ihnen sofort.“ Moment mal, entgegnet Hutwelker, „das geht nicht, dann kann ich doch am Sonntag nicht spielen!“ Der Orthopäde setzt eine Spritze, er ritzt die Schwellung auf, nimmt eine Gewebeprobe und verspricht, sich zu melden.

Hutwelker fliegt zurück nach Augsburg, über Nacht schwillt die Backe an, schwillt so stark an, dass die Kollegen in der Kabine lachen. Der Trainer sagt: „Huti, das hat keinen Sinn. Fahr mal nach Hause und vergiss das Spiel am Sonntag.“ Der Kieferorthopäde ruft an und bittet um ein persönliches Gespräch. „Schlechte Nachrichten, Herr Hutwelker. Es ist ein Tumor. Sie müssen sofort in die Uni-Klinik.“ Er fährt sofort los, der Abend ist schon angebrochen, kein Arzt mehr da, doch Hutwelker klopft an alle Türen, er will sich nicht abwimmeln lassen, dann findet er eine Krankenschwester und bringt sie dazu, den letzten noch im Haus verbliebenen Professor zu holen. Der Professor studiert die Gewebeprobe, er schaut sich die Schwellung im Kiefer an und fragt: „Wollen Sie es schonend oder mit der Kelle voll ins Gesicht?“

Hutwelker will die Kelle ins Gesicht, und zwar sofort.

Also gut, sagt der Professor, „Ihre Fußball-Karriere ist vorbei. Es ist Krebs, ein ganz besonders bösartiger, er ist heilbar, aber es wird brutal.“ Hutwelker fährt verstört nach Hause. Die Kinder schlafen schon, und die Hutwelkers beschließen, sie erst einmal im Ungefähren zu lassen. Lennox ist vier Jahre alt und freut sich, dass der Papa immer zu Hause ist. Aber Vivien geht in die fünfte Klasse, sie weiß, dass Krebs selten gut endet, und eines Tages kommen die Jungs aus der neunten Klasse, die Fußballfans, die Karsten Hutwelker aus der Zeitung kennen, und sie sagen Vivien: „Du, dein Papa muss sterben.“ Es wird viel geweint in diesen Tagen im Haus der Familie Hutwelker.

Unterkriegen lassen sie sich nicht. „Der Krebs ist drin, also muss er raus“, sagt Karsten Hutwelker. Seine Frau durchforstet das Internet und sucht nach Behandlungsmöglichkeiten. Die Hutwelkers werden zu medizinischen Spezialisten. Sie lesen alles, was ihnen in die Hände kommt. Der Tumor ist ein Chondroblastisches Osteosarkom und leitet sich von den Knorpelzellen ab. In Deutschland gibt es 200 Fälle, also so gut wie keine Erfahrungswerte. Hutwelker debattiert mit Orthopäden, Chirurgen und Pathologen, die wechselweise sofort operieren wollen oder erst zu einer zehnwöchigen Chemotherapie raten, gefolgt von der Operation und einer nochmaligen Chemotherapie, diesmal 18 Monate lang. Hutwelker setzt sich durch. Er will keine Chemotherapie, er will operiert werden, so schnell wie möglich.

Und dann wird gefeiert.

Es ist der 27. August, sein 35. Geburtstag. Hutwelker trommelt auf die Schnelle alle Leute zusammen, die ihm wichtig sind. Es sind viele Leute. Es wird ein langer Geburtstag mit Menschen, die er lange nicht gesehen hat. Er will nichts davon hören, dass es vielleicht sein letzter ist, „denn ich bin ein positiver Mensch, ich denke wie ein positiver Mensch, ich sehe nicht ein, dass ich mich mit negativen Gedanken belasten soll“. Vielleicht bekommt Karsten Hutwelker an diesem Abend schon eine Ahnung davon, was in den kommenden Monaten an Sympathiebekundungen auf ihn zukommen wird. Die ungezählten Anrufe, Briefe, Mails und SMS. Fans aus seinen früheren Klubs schicken Trikots und Ehrenmitgliedschaften. Frühere Trainer, Mitspieler, Freunde melden sich, Hutwelker mag keinen herausheben, „das wäre unfair den anderen gegenüber“. Er sagt sich: „Offensichtlich habe ich in meinem Leben doch nicht alles falsch gemacht.“

Doch erst einmal wird die Operation vorbereitet. Eine Untersuchung nach der anderen, am unangenehmsten ist die Infusion mit radioaktivem Zucker, sie wird in eine Vene gespritzt, breitet sich im Körper aus und zeigt an, ob der Krebs schon gestreut hat. Hat er nicht. Am 20. September nimmt Professor Joachim Zöller in der Kölner Uni-Klinik den Eingriff vor. Es ist ein Eingriff, der medizinischen Laien wie ein Wunderwerk der plastischen Chirurgie erscheint. Aus dem Unterkiefer sägt er ein sieben Zentimeter langes Stück heraus, sieben Zähne; alles, was vom Krebs befallen sein könnte, muss raus. Zur Rekonstruktion schneidet er ein Stück Knochen aus der rechten Hüfte, Vene und Arterie aus dem linken Arm, dazu Gewebe, um die fehlenden Hautpartikel zu ersetzen. In sechseinhalb Stunden wird Karsten Hutwelkers Kiefer neu modelliert. Alexandra Hutwelker wartet in der Klinik, eine Krankenschwester kommt aus dem OP, sie hält einen Schneidezahn in der Hand und ruft: „Alles gut gegangen, Frau Hutwelker, der musste dran glauben!“ Alexandra Hutwelker nimmt den Zahn als Souvenir mit.

Die Operation ist ein Erfolg. Das beschädigte Gewebe ist beseitigt, der Krebs hat nicht gestreut. Alexandra Hutwelker kommt jeden Tag in die Klinik, die Kinder bleiben zu Hause, sie sollen den Papa so nicht sehen, Hutwelker macht ein Foto mit der Handy-Kamera, „das zeige ich ihnen mal, später“. Er kann nicht liegen, nicht sitzen, nicht stehen, alles tut weh. Beim Verbandswechsel sieht Hutwelker das aufgeschnittene Handgelenk, er blickt hinab in den tiefen Krater, auf den Knochen und die Sehnen und sagt sich: „Das wächst doch nie wieder zu!“ Zwei Tage lang traut er sich nicht, den Arm zu bewegen.

Doch schon am dritten Tag ertappt ihn die Krankenschwester, wie er mit einer Gehhilfe über den Flur schleicht. Sie sagt: „Ich glaube, Sie werden wir nicht lange hierbehalten.“ Hutwelker antwortet: „Na, das will ich doch wohl schwer hoffen.“ Jeden Tag verschwindet ein Schlauch mehr aus seinem Körper, nach fünf Tagen wird die Magensonde entfernt. Hutwelker erfährt den Wert seines austrainierten Körpers. Er hat die Vorbereitungsphase auf die Zweite Bundesliga gerade hinter sich und ist topfit. Nach neun Tagen wird er entlassen, zwölf Tage früher als geplant.

Im November fährt er nach Augsburg und nimmt das Training auf. Er erhält ein individuelles Laufprogramm, und endlich darf er wieder auf den Fußballplatz. Karsten Hutwelker strahlt, wenn er daran zurückdenkt, wie er das erste Mal wieder den Ball am Fuß hatte. Kann er sich an das erste Trainingstor erinnern? „Natürlich, mit rechts in die lange Ecke.“ Hutwelker gehört wieder dazu, er arbeitet so intensiv wie noch nie in seiner Karriere, sein großes Ziel ist der Rückrundenauftakt in der Zweiten Bundesliga am dritten Sonntag im Januar. An diesem Sonntag, heute, spielt der FC Augsburg beim 1. FC Köln, Hutwelkers 1. FC Köln.

Dies ist der Teil der Geschichte, der nicht in ein Happy End mündet. Am Freitag ist er bei einem Augsburger Lokalradio zu Gast. Hutwelker plaudert über Köln und ein mögliches Comeback, da spielt ihm der Moderator ein Interview mit Trainer Rainer Hörgl vor. Nein, sagt der Augsburger Trainer, Hutwelker werde in Köln noch nicht zum Kader gehören, es sei noch zu früh. Er lässt durchblicken, dass der FC Augsburg kein FC Hutwelker sei.

Die Radiohörer können am Freitag förmlich fühlen, wie Hutwelker der schiefe Kiefer herunterklappt. Er weiß, was ihm noch zur kompletten Fitness fehlt, „ich habe schließlich drei Monate aufzuholen“, aber hätte der Trainer ihm das nicht selbst sagen können? Muss er das aus dem Radio erfahren?

Der junge Karsten Hutwelker hätte den Trainer wahrscheinlich vor versammelter Mannschaft zusammengebrüllt und sich danach einen neuen Verein suchen dürfen. Der 35-jährige Hutwelker hat sich auf die Zunge gebissen und das Gespräch mit dem Trainer gesucht. Hutwelker weiß, dass es nicht alle beim FC Augsburg gern sehen, wie viel öffentliche Aufmerksamkeit er auf sich zieht, dass die Zeitungen alle mit ihm reden wollen. Na und? Den Tumor hat ihm damals keiner geneidet.

Hat der Krebs einen neuen Menschen aus ihm gemacht? Hutwelker denkt lange nach. „Nein, ich war schon immer ein positiver Mensch“, das Glas war immer halb voll und nie halb leer, „aber vielleicht lebe ich heute ein bisschen bewusster als früher. Ich freue mich über jeden Sonnenaufgang, ich will jedes Trainingsspiel gewinnen, sogar die Waldläufe machen mir auf einmal Spaß“, und, Himmel, wie hat er die früher gehasst. Er weiß, dass der Krebs einstweilen nur überwunden ist und noch nicht besiegt, das kann man erst nach fünf Jahren mit Sicherheit behaupten. Denkt er noch an den Krebs? An die Möglichkeit, dass er zurückkommt? „Nein. Für mich ist das Thema beendet, das lasse ich nicht an mich heran.“

Und doch ist der Tumor allgegenwärtig. Karsten Hutwelker trägt ihn am Körper, unter der Narbe am Hals, die man kaum noch sieht. Es ist der Zahn, den Alexandra Hutwelker nach der Operation mitgenommen hat, sie hat ihn in Silber einfassen lassen und ihrem Mann zu Weihnachten geschenkt.

(21.01.2007)

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