Knaller an der Zeitungsfront

Thursday, October 05, 2006

Liberaler als Blair (Tagesspiegel)

Liberaler als Blair
Der neue Chef der britischen Konservativen ändert das Image seiner Partei
Von Matthias Thibaut, London

Die große Überraschung kam zum Schluss. Mit einem überraschenden Bekenntnis zum Erhalt und Ausbau des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS ging am Mittwoch der Parteitag der britischen Konservativen in Bournemouth zu Ende. „Der NHS ist eine der größten Leistungen des 20. Jahrhunderts“, sagte Parteichef David Cameron in seiner Abschlussrede. Er versprach, den NHS „nie durch ein Abschneiden der Geldmittel zu untergraben“. Der Parteichef fügte hinzu: „Tony Blair erklärte seine Prioritäten einst in drei Worten: Bildung, Bildung, Bildung. Ich kann das mit drei Buchstaben tun: NHS“, sagte Cameron. Er begründete den Schwenk mit persönlichen Erfahrungen, die er im NHS mit seinem viereinhalbjährigen behinderten Sohn Ivan gemacht hat. „Wenn eine Familie sich die ganze Zeit auf den NHS verlässt, Tag für Tag, Nacht für Nacht, dann weiß man, wie wertvoll er ist.“

Es war der letzte und kühnste der Vorstöße, mit denen die Tories in Bournemouth tief in Labours traditionelles Territorium vordrangen und sich als sozialliberale Partei der Mitte präsentierten. Der NHS war jahrelang Labours Wunderwaffe. Noch im letzten Wahlkampf war eine Option zum Verlassen des NHS für privat Versicherte Teil des Wahlprogramms der Konservativen gewesen. Blair präsentiere sich hingegen als Beschützer des Systems, in dem Gesundheitsleistungen direkt aus Steuern finanziert werden und für Endverbraucher kostenlos sind. Doch Defizite, Entlassungen und das halsbrecherische Tempo oft unausgegorener Reformen haben Labours Gesundheitspolitik inzwischen untergraben.

Cameron und seine Vorderbänkler – von denen 15 die Eliteschule Eton absolviert haben – versuchten in Bournemouth, das Image der Konservativen radikal zu ändern, um sie wieder wählbar zu machen. In vielen Bereichen – etwa beim Umgang mit jugendlichen Kriminellen – klingt Frau Thatchers alte Partei plötzlich liberaler als Blairs Regierung, die sich gerne mit populistischen Initiativen gegen Kriminalität profiliert.

Die Tories stellen nun soziale Verantwortlichkeit gegen die Verantwortung des Staates. Lehrer, Ärzte, Polizisten und ihre Institutionen, Kommunen und unabhängige Träger von Sozialleistungen sollen mehr Freiheit erhalten, ihre Erfahrung und Initiative einzubringen. „Man muss nicht immer gleich neue Gesetze erlassen. Manchmal genügt auch, dass man mit guten Beispielen vorangeht“, sagte Cameron in gezielter Kritik der Labourpolitik. Alte Reizthemen der Konservativen, wie die Kritik an der Europäischen Union, die Einwanderung oder die Forderungen nach Steuersenkungen, wurden dagegen auf dem Parteitag in Bournemouth heruntergespielt.

Parteichef Cameron wehrte sich am Mittwoch auch gegen den Vorwurf, er sei ein Imagepolitiker ohne Substanz. Substanz sei mehr als ein Zehn-Punkte-Plan, sagte er. Seine Maxime: „Wissen, was man glaubt und dann seinen Grundsätzen treu bleiben. Sich die Zeit nehmen, die Dinge zu durchdenken, nicht die einfachen Antworten geben, die alle hören wollen.“ Cameron will, bevor er sein politisches Programm konkretisiert, erst einmal abwarten, wohin sich die Labourpartei nach dem Abtreten von Tony Blair bewegt.
(05.10.2006)

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