Knaller an der Zeitungsfront

Wednesday, February 27, 2008

Aufschwung mit aller Macht (frankfurter rundschau)

Putins Russland
Aufschwung mit aller Macht
VON MARK OBERT

In Strelna, vor den Toren Sankt Petersburgs, protzt und prunkt weithin sichtbar die Residenz des Präsidenten, Wladimir Putins Geschenk an sich selbst. Geschätzte 300 Millionen Euro hat die Renovierung des maroden Konstantinpalasts verschlungen; nicht wenige Russen befürchteten damals, der Ex-KGB-Chef mit der wundersamen Blitzkarriere sei in Selbstherrlichkeit verfallen, schneller noch als die eitelsten Kremlführer vor ihm, von den Zaren ganz zu schweigen. Putins Gegner sehen in dem Palast bis heute das offensichtliche Symbol dafür, Putins Anhänger erkennen in ihm einen Kraftausdruck des wiedererstarkten, selbstbewussten Russlands.

Vor zehn Jahren, als sich die Amtszeit Boris Jelzins dem Ende zuneigte, meldete Russland Bankrott. Der Rubel war ins Bodenlose gefallen, die Banken waren pleite, der Staat war zahlungsunfähig, das Volk verzweifelt. Nun, nach acht Jahren Putin, ist der Lebensstandard höher denn je, auch der der kleinen Leute.

Putin kennt seinen Dostojewskij, sagt unsere Cousine Anna, Ärztin aus Petersburg. "Arme Leute" und so weiter. Sie schätzt Putin, Sympathie wäre ein zu großes Wort, lokalpatriotische Verbundenheit, das trifft es eher. Er stammt ja auch aus Leningrad, hatte eine schwere Kindheit, Vollwaise - und das in den 50er Jahren, als die von den Moskauer Zentralisten vernachlässigte Nordmetropole im künstlichen Koma lag.

Unweit vom Präsidentenpalast, auf der anderen Seite der Landstraße zu den Stränden des Finnischen Meerbusens, wo man am Wochenende baden geht, an schwertlangen Spießen sein Schaschlik grillt und die Wälder vollmüllt, pflanzen sie zurzeit wie in der Peripherie bald jeder großen Stadt kreuz und quer Reihenhaussiedlungen hin; der wachsende Mittelstand will adäquat leben.

Wenn die Bagger zur nächsten Großbaustelle weiter gezogen sein werden, wird drumherum ein hoher Zaun errichtet, werden die Wachmänner jeden ins Visier nehmen, der durchs Eisentor will. Dann werden auch dort die hochsensiblen Alarmanlagen der Mittelklassewagen bei jedem Katzenkontakt die Nachtruhe stören, wie heute schon in den abgeriegelten Hochhausvierteln mit den aufwendig renovierten Zwei-Zimmer-Wohnungen in Toplage.


Die Russen haben im vergangenen Jahr mehr Mittelklassewagen angemeldet als die Deutschen, und, um die Kleinfamilie komplett zu machen, so viele Kinder gezeugt wie seit 15 Jahren nicht mehr. In der Ära Jelzin, dem ersten Präsidenten der postsowjetischen Föderation, sank die Geburtenrate stetig. Es gibt Russen, die all das nicht für Zufall halten. Arbeitsverträge mit Kündigungsfrist, mehr Kindergeld, bessere Gesundheitsversorgung führen sie angesichts unaufhörlicher Kritik aus dem Ausland mit trotzigem Stolz ins Feld. Westliche Standards, man ist ja nicht kühn, sind noch Utopie. Aber man kann ein bisschen planen. Der Aufschwung, 7,7 Prozent stetes Wirtschaftswachstum, ist spürbar. Sie sind nicht euphorisch, aber sie haben die große Depression überwunden: die Schichten, die in den anfangs verheißungsvollen 90er Jahren des Turbokapitalismus' abgehängt worden waren.

80 Prozent Zustimmung für den Staatschef, nach acht Jahren an der Macht, wann hat es das je in Russland gegeben? Selbst auf Michail Gorbatschow, den Architekten von Glasnost und Perestroika, ist die Mehrheit nicht gut zu sprechen. Minister Mineral nannten sie ihn Ende der 80er Jahre spöttisch. Den Wodka hat er ihnen verboten, mehr Offenheit hat er ihnen versprochen, und dann, als alle sehnsüchtig warteten, schien er zu kraftlos, zu wankelmütig für den organisierten Wandel.

"Ach was", raunt Freund Dimi beim Schaschlik am Meerbusen, "feige und faul war er, hat sich im Westen lieber feiern lassen, anstatt seiner Pflicht nachzukommen." Dimi ist 34 und spricht typisch für seine Generation. Nach wie vor schwingt da auch jene Sowjet-Nostalgie mit, die Putin nährt, sei es mit dem Personenkult zu seinen Ehren, den er mit koketter Bescheidenheit würdigt, sei es mit der Entscheidung, die Melodie der alten Hymne, der zweifelsfrei schönen, wieder einzuführen.

Dimis Nostalgie basiert auf früher Prägung. Sein Jungpionier-Dasein war gelenkt und sorgenfrei, die Eltern waren nicht ausgelaugt vom schier vergeblichen Existenzkampf. Man musste sich bloß raushalten, darin ist man ja geübt - oder halt in die Küche gehen.

Küchengespräche hießen die konspirativen Treffen der Dissidenten, die die Verbannung riskierten, weil sie das kommunistische Regime, das dahinsiechte wie seine greisen Despoten, nicht ertragen wollten.

Heute mäkelt selbst Alexander Solschenizyn, der Dissident mit Literaturnobelpreis und Exilantenbiografie, an Gorbatschow herum. Auch der Panslawist Solschenizyn ist ungerecht, auch er verzeiht Gorbatschow Jelzin nicht. Auch er lobt Putin um so mehr. Wie so viele. So wie Dimi. Der hat seit vier Jahren einen festen Job, das Gehalt kommt so pünktlich wie die Rente von Babuschka. 80 Prozent für Putin, unglaublich. Ein Institut in Moskau hat die Umfrage vorgenommen, eines unter staatlicher Kontrolle.

Putin beherrscht alles und jeden, notfalls mit Gewalt, sagen seine Gegner. Für sie steht außer Frage: Wenn die tschekistische Miliz Demonstranten niederprügelt, kam der Befehl direkt von Putin. Die tödliche Polonium-Attacke gegen den abtrünnigen KGB-Agenten Litwinenko in London: Putins Rache. Als die Journalistin Anna Politkowskaja vor ihrer Wohnung erschossen wurde, richteten sich alle Augen auf Putin.

Mittlerweile hat sich der Verdacht verbreitet, dass der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow hinter dem Attentat steckt. 31 ist er erst, frönt seiner Großmannssucht und lässt seine Privatarmee in Grosny Angst und Schrecken verbreiten. Präsident von Putins Gnaden ist er, als solcher Garant für einen trügerischen Frieden in Tschetschenien.

So gesehen könnte man Putin die Mitschuld am Politkowskaja-Mord unterstellen, an den Massakern, die seine Armee im Moskauer Musicaltheater Nord-Ost und in der Grundschule von Beslan angerichtet hat, ohnehin. Hunderte von Geiseln wurden geopfert, um die tschetschenischen Geiselnehmer zu töten.

Es war nach Tragödien wie diesen immer auch diese Gesichtsstarre Putins, dieser unangemessen teilnahmslose Blick, die besonders im Westen Konspirationsphantasien beflügelten, die man - bezogen auf die USA - als Verschwörungstheorien abtun würde. 1999, Ex-Geheimdienstchef Putin war gerade Ministerpräsident in der Jelzin-Regierung geworden, wurden zwei Wohnhochhäuser in Moskau Ziel eines Bombenanschlags mit zahllosen Toten. Bis heute wird in unseren Medien wie selbstverständlich der Verdacht geäußert, Putins Geheimdienstschergen hätten die Tat begangen, um die Bevölkerung moralisch zu mobilisieren für eine härtere Gangart gegen tschetschenische Terroristen. Es gibt dafür nicht mal Indizien.

Putins Kritiker widersprechen Theorien vom allmächtigen Kremlherrscher schon lange: Putin würde gerne alles beherrschen, sagen sie. In Wahrheit gehe längst nicht mehr alle Gewalt von ihm aus. Seine gierigen Seilschaften verselbstständigten sich, seine eiserne Machtvertikale sei längst in Schieflage geraten.

Handfest belegen lässt sich unterhalb der sichtbaren Verfehlungen auch das so wenig wie Gerhard Schröders legendäres Urteil, sein Freund Wladimir sei ein "lupenreiner Demokrat". Für Normalsterbliche blieb Putins System uneinsehbar, die Informationsdemokratie fern, die Bilanz der gemäßigten Kritiker entsprechend vage. "Die Unkalkulierbarkeit ist die Konstante in Putins Autokratie", sagt eine Politologin aus Moskau. "Die Stabilität des Staates ist ein Mythos", sagt ein Wirtschaftswissenschaftler aus Petersburg.

So redet man in Russland übrigens nicht hinter vorgehaltener Hand. Zweifel an Putins Kompetenz, Gesinnung und Integrität sind ständig Anlass auch öffentlicher Debatten, ob im Radioprogramm von Echo Moskau, das dem staatlichen Gas-Giganten Gazprom gehört, ob in den unabhängigen, mangels Leserinteresse auflagenschwachen Zeitungen wie der Nowaja Gazeta.

Hin und wieder und selbstverständlich viel zu selten kommen Oppositionelle im sonst propagandistischen Staats-TV zu Wort. "In Russland ist nichts unzensiert." Der Satz, allein schon angesichts unermüdlich bloggender Dissidenten absurd, stand dieser Tage in einer deutschen Zeitung. Dass man ungeachtet dessen nur seinen Hut ziehen kann vor unbeugsamen Rechercheuren, ist Ehrensache. Denn wehe dem, der tatsächlich mal ein Dokument in den Händen hält, das die Selbstbedienungsmentalität in Politik und staatlicher Wirtschaft entlarvt.

Schließlich überwacht der Geheimdienst FSB, dessen obere Etagen von Vertrauten Putins aus alten Tagen besetzt sind, das Internet mit großem Aufwand. Dass er Redaktionen unterwandert und unter Druck setzt, ist bekannt. Dass er in alle Richtungen spitzelt, gilt in Russland nach wie vor als Gratisverdacht, und wer überhaupt Intrige und Verrat hinter den Mauern des Kreml nicht voraussetzt, als naiv.

Institutionen vertrauen Russen grundsätzlich nicht. In Jahrhunderten der Unterdrückung und Bevormundung haben sich Misstrauen und Fatalismus als Konstanten in der Mentalitätsgeschichte genauso festgesetzt wie Willkür und Korruption im Beamtenapparat. Gängeleien auf dem Amt sind noch das geringste Übel. Hast du nur ein Feld des Formulars vergessen auszufüllen, befehlen sie dich wieder ans Ende der Schlange. Staatsdiener? Bürgernähe? Lachhaft, mindestens bis zur nächsten Generation. Allein daran mag man ermessen, wie steinig und lang der Weg zu einer Demokratie nach westlichen Maßstäben sein wird.

Nachdem Boris Jelzin im April vergangenen Jahres gestorben war, verabschiedete mancher Nekrolog in Deutschland einen großen Demokraten. Von Aufbruchstimmung unter Jelzin war die Rede, vom kühnen Experiment mit Pluralismus, Rechtssicherheit und Pressefreiheit. Zwölf Journalisten sind in der Ära Putin ermordet worden, der Tod der großartigen Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006, an Putins 54. Geburtstag, hat weltweit für Empörung gesorgt. Endlich. In der Ära Jelzin sind mehr als 200 Journalisten umgebracht worden, meistens blieben die Auftraggeber im Dunkeln.

Damals tyrannisierte das Recht des Stärkeren die Russen. Und die Stärksten wollten viele sein. Regionale Mafiabanden kontrollierten die lokalen Märkte und erpressten mittelständische Investoren. Die Oligarchen rissen sich mit ihren dubiosen Beteiligungsfirmen die Bodenschätze unter den Nagel. Jelzins so genannte Familie, ein von den Oligarchen Roman Abramowitsch und Boris Beresowskij unterstützter Kreis aus Verwandten und Freunden des Präsidenten, drückte zwei Augen zu und drohte unverhohlen - und vielleicht tatsächlich weniger subtil als die Regierung heute - jedem, der ihm in die Quere kam.

Es waren die Oligarchen, die Jelzins Wahlkampf vor seiner zweiten Amtszeit finanziert hatten und dafür freie Hand erhielten für Steuerhinterziehung in gigantischem Umfang. Boris Beresowskij war es auch, der den vermeintlich loyalen Putin als kommenden Präsidenten vorschlug und im eigenen TV-Sender aufbaute.

Am 31. Dezember 1999 dann trat Jelzin zurück und übergab Putin sein Amt, freilich nicht, ohne sich eine Generalamnestie zusichern zu lassen. Die Oligarchen waren zufrieden, ihre Partner, die Ölmultis im Westen, frohlockten. Der Weg zu Russlands Rohstoffen schien frei zu sein.

Heute lebt Beresowskij im Exil in England, sein Protegé Putin hat ihn strafverfolgen lassen, wegen Bestechung und Steuerhinterziehung. Abramowitsch verkaufte seine einst dem Staat abgetrotzten Firmen zurück, um der Anklage zu entgehen.

Einzig Michail Chodorkowskij, der Milliardär mit Sendungsbewusstsein, begehrte auf, prangerte Korruption und Rechtsbeugung an. Anderthalb Jahre später war er wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden, neuneinhalb Jahre in Sibirien. Sein Erdölkonzern Yukos, den er für 300 Millionen Euro erworben hatte und für eine Milliardensumme an US-Firmen zu verkaufen drohte, meldete Konkurs an. Der Staat hatte die Rohstoffe zurückerlangt; Putins Popularität stieg so rasant, wie der Argwohn im Westen wuchs.

Von Demokratie wird man nicht satt, sagen die kleinen Leute in Russland auch in diesen Tagen, da die große Bilanz gezogen wird, die gar keine ist, weil Putin als Ministerpräsident nicht alle Fäden aus der Hand geben wird. Mag es auch sein, dass er vom gestiegenen Ölpreis profitiert hat, "wir haben es auch", sagt Cousine Anna. In seinem persönlichen Resümee vergangene Woche hat sich Putin denn auch einmal mehr als Diener der Unterschichten inszeniert, als "Sklave des Staates". Bürokratismus und Korruption seien nicht hinreichend bekämpft worden, schon gar nicht die Armut.

Nach ihm trat der Mann vor die Presse, der bald nach den Wahlen in den prächtigen Konstantinpalast vor den Toren Petersburgs ziehen wird: Dimitrij Medwedew, 42, Vize-Ministerpräsident, Gazprom-Vorstand, Präsidentschaftskandidat der Putin-Partei Einiges Russland - eine Marionette, wie seine Gegenkandidaten sagen.

Und dann dies: Mehr Freiheit, mehr Rechtssicherheit, mehr Demokratie versprach Medwedew - und betonte auf diese Weise den großen Makel, den die Mehrheit der Russen Putin nie und nimmer anlasten würde. Denn was wäre die Alternative gewesen? Vor allem: wer? Die Frage kommt ja immer. Russen sind pragmatisch, aus leidvoller Erfahrung, manchmal auch aus mangelnder.

Als Medwedew sprach, blickten viele auf Wladimir Putin. Er verzog keine Miene.

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