Knaller an der Zeitungsfront

Friday, February 01, 2008

Der Unbeugsame (Berliner Zeitung)

Der Unbeugsame
Von den Frauen geliebt, von der Stasi überwacht und vom eigenen Vater angezeigt. Der Dichter Thomas Brasch und das Jahr 1968
26.01.2008
Magazin - Seite 1
Stephan Suschke

Kennen gelernt habe ich Thomas Brasch in den neunziger Jahren in Berlin, die erste Begegnung aber war ein zerlesenes, von Hand zu Hand weitergegebenes Buch in den Siebzigern: "Vor den Vätern sterben die Söhne". Wenn man etwas über die DDR, über ihre Hoffnung und ihre Verzweiflung wissen will, muss man dieses Buch lesen. Während meiner Zeit am Berliner Ensemble pflegten Brasch und ich eine Arbeitsbeziehung, seine Anregungen waren substanziell, jenseits des üblichen Geschwätzes in den Theaterkantinen.

Thomas Brasch starb im November 2001. Seitdem interessiert mich die Geschichte seiner Familie, eine deutsche Geschichte, die in ihrer geschichtlichen und individuellen Komplexität beispielhaft ist und in keine simplen Raster passt. Die Anpassungsversuche des Vaters in der DDR, einem Westemigranten und Juden, führten zum Konflikt mit seinen Söhnen. Sie starben früh; Klaus, der Schauspieler mit 29, der Schriftsteller Peter mit 45 und Thomas mit 56 Jahren.

Ich habe mit jüdischen Emigranten, ZK-Mitgliedern, früheren Freunden von Thomas Brasch wie Bettina Wegner und Florian Havemann geredet und im Thomas-Brasch-Archiv der Akademie der Künste recherchiert. Thomas Brasch besaß die Fähigkeit, sich oft in Gefahr zu begeben und seine existenziellen Erfahrungen zur Schwerkraft seines Schreibens zu machen. Das Jahr 1968 bot eine solche Möglichkeit. Brasch hat sie genutzt:

Thomas Braschs 1968 beginnt mit einem Silvesterkater. Mit seiner Freundin Sanda Weigl hat er die Nacht verbracht. Im neuen Jahr soll er Vater werden - Bettina Wegner erwartet ein Kind von ihm. Er will es nicht.

Brasch ist 22 Jahre alt, wohnt in der Boxhagener Straße und studiert Filmwissenschaften in Potsdam Babelsberg. Der Informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit mit dem Decknamen Ruth Blume berichtet über ihn: Er ist in der Seminargruppe der motorisierende Faktor, der auch viel auf marxistischer Grundlage diskutiert, aber auch einen bestimmten Subjektivismus und zum Teil fragwürdige Tendenzen vertritt... Im Kollektiv als Ganzes trägt er seine wahre Meinung nicht vor, weil er in den Genossen potenzielle, zumindest aber verdeckte Spitzel sieht. Sehr starken Einfluss hat er auf die Mädchen der Gruppe, bedingt durch seinen Lebensstil. Er hat eine lockere Lebensauffassung und auch Geld und hat schon Partys in seiner eigenen Wohnung gegeben.

Zwei Tage vor dem Aktenvermerk ist Alexander Dubcek in der Tschechoslowakei Parteichef der Kommunistischen Partei geworden. Schnell leitet er Reformen ein. Schon am 27. Januar öffnet im historischen Zentrum von Prag ein Kiosk, in dem Zeitungen aus aller Welt verkauft werden.

Am 26. Februar notiert IM Blume zunehmende Schwierigkeiten mit Thomas Braschs Studiendisziplin. Die Englisch-Lehrerin hat er mit der Bemerkung provoziert, dass man bei ihr überhaupt nichts lerne. Zur Zeit hat "St"(Deckname eines Informellen Mitarbeiters) ihn für einige Tage vom Unterricht befreit, da seine Freundin, die bei ihm wohnt, in diesen Tagen ein Kind von ihm erwartet. Thomas selbst äußert sich über diese Freundin, dass er nie die Absicht habe, sie zu heiraten, sondern es jetzt nur als eine gewisse Pflichterfüllung betrachte, ihr beizustehen, da das Kind ja von ihm sei.

Von der Abschaffung der Zensur in der Tschechoslowakei ermutigt, marschieren am 8. März einige hundert Studenten der Warschauer Universität zum Büro des Rektors und rufen: "Kein Studium ohne Freiheit". Eine "Arbeitermiliz" rückt an und schlägt die Demonstranten zusammen. Am 11. März eskaliert eine weitere Demonstration mit mehreren tausend Studenten zu einer achtstündigen Straßenschlacht zwischen Polizisten und Studenten. Die Regierung beteuert, das Problem entspringe einer zionistischen Verschwörung, einem stalinistischen Komplott.

Zwei Tage später wird der Hauptabteilung XX/2 aus zuverlässiger Quelle bekannt, dass Thomas Brasch sich wie folgt äußert: Es wäre gut, dass die Studenten in Warschau auf die Straße gegangen seien. Auch im Sozialismus müssten sich die Menschen wehren. In Polen und in der CSSR sei man nicht so eng und dogmatisch. Dort protestierten die Menschen gegen ihre Kulturpolitik. "Bei uns in der DDR" wäre das viel, viel nötiger. Ein Beispiel sei der Film "Spur der Steine". Leute, die nicht die Stimmung des Volkes beachteten, würden Filme verbieten, die gut seien und die das Volk wolle.

Am 21. März kommt in der Charité Thomas Braschs Sohn Benjamin zur Welt. Zwei Tage danach löst Alexander Dubcek den Stalinisten Novotny als Staatspräsident ab. Dubcek wird für Braschs Leben wichtiger werden als sein Sohn.

Seine Probleme an der Filmhochschule nehmen zu. Am 29. März stellt der Prorektor für Bildung und Erziehung den Antrag auf Einleitung eines Disziplinarverfahrens, weil Brasch wiederholt ernsthaft die Studiendisziplin verletzt habe. Besonders irritierend ist für die Verantwortlichen, dass Student Brasch nicht nur unentschuldigt fehlt, sondern auch darauf besteht, die Studenten seien erwachsen genug, selbst zu entscheiden, welcher Unterricht sinnvoll ist. Die Angst vor der negativen Beeinflussung labiler Studenten verschärft die Situation.

Am 1. April beschließt die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei den Übergang von einem Sozialismus sowjetischen Typs zum demokratischen Sozialismus. Am gleichen Tag erfährt die Abteilung XX/1 der Staatssicherheit von einem Offenen Brief, den Brasch in seiner Seminargruppe verlesen hat. Mit Zitaten von Marx und Genossen Walter Ulbricht polemisiere er gegen die Hochschulpolitik und Prinzipien der Ausbildung und fordere die Beteiligung der Studenten am "Umgestaltungsprozess". Die Studenten sollten geschlossen hinter seinen Offenen Brief treten und die Forderungen beim Rektor und der Hochschulleitung durchsetzen... Der Prorektor schreibt einen Brief an Horst Brasch, in dem er ihn über das anstehende Disziplinarverfahren und die ideologischen Probleme seines Sohnes informiert. Ein vergeblicher Brief. Horst Brasch hat schon längst keinen Einfluss mehr auf seinen Sohn.

Im beginnenden Frühling, der den Prager Ereignissen seinen Namen leiht, eskalieren die Proteste in Westeuropa und den USA. Das von der BILD-Zeitung inspirierte Attentat auf Rudi Dutschke löst fünftägige Straßenschlachten im Westteil Berlins aus. In Paris werden bei Straßenschlachten 600 Protestierer und 345 Polizisten verletzt. Während im Westen diese Unruhen zu einer Modernisierung der Gesellschaft führen, die kreativen Momente der Bewegung aufgesaugt werden, behält die Moskauer Führung unter Breschnew ihren starren Kurs bei. Obwohl sich bei einer Volksabstimmung 89 Prozent der Tschechoslowaken für den Kommunismus und nur fünf für den Kapitalismus entscheiden, beginnen in der Sowjetunion die Vorbereitungen für einen Einmarsch.

Thomas Brasch arbeitet an seiner Jahresabschlussarbeit über marxistische Entfremdungstheorie und Brechts "Dreigroschenoper". Wegen revisionistischer Tendenzen soll sie zurückgewiesen werden. Der Rektor möchte, dass Brasch die Prüfung wiederholen kann, andere fordern, ihn von der Filmhochschule zu exmatrikulieren. Ab 6. Juli wird er von der Staatssicherheit unter Personenkontrolle genommen, seine Post wird von nun an kontrolliert und kopiert.

Seinen Verpflichtungen als Vater wird Brasch kaum gerecht, stattdessen plant er eine Reise mit seiner Freundin Sanda Weigl nach Rumänien und Polen. Als die Reiseanträge abgelehnt werden, sprechen sie in der Hauptabteilung Pass- und Meldewesen vor: In den Akten heißt es: Thomas B. tritt äußerst hartnäckig auf und verlangt Auskunft über die Gründe, die zur Ablehnung führten. Unter anderem bringt er zum Ausdruck, dass er nicht die geringste Lust verspüre, seinen Urlaub im Thüringer Wald zu verbringen und versteigt sich in der Erklärung, dass er, wenn ihm die Gründe der Ablehnung nicht unverzüglich mitgeteilt werden, die Staatsbürgerschaft der DDR ablehnen werde! Die Anträge bleiben abgelehnt, da beide von unserem Organ in die Ausreisesperre eingelegt wurden.

Am 17. August beschließt in Moskau das Politbüro der KPdSU eine militärische Intervention in der CSSR. Einen Tag später schließen sich die DDR, Polen, Bulgarien und Ungarn bedingungslos an. Thomas Brasch weiß nichts davon. Er macht mit Sanda Weigl Urlaub an der Ostsee, im Haus der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger in Ahrenshoop.

Am Dienstag, den 20. August, um 23.00 Uhr überqueren sowjetische Panzer die tschechische Grenze. 4600 Panzer und 16 5000 Soldaten des Warschauer Pakts dringen in die Tschechoslowakei ein. Die DDR ist mit einer Nachrichteneinheit vertreten, ihr Territorium dient als Aufmarschgebiet, außerdem stehen zwei Divisionen an der Grenze in Bereitschaft. Die tschechoslowakische Armee leistet auf Anordnung von Dubcek keine Gegenwehr.

Am 21. August neun Uhr morgens wird Dubceks Büro durch sowjetische Soldaten gestürmt, die Mitglieder seiner Regierung werden verhaftet. Dubcek und seine engsten Vertrauten werden nach Polen verschleppt und dort festgehalten. Wütende junge Menschen ziehen zu Radio Prag, blockieren die Straße. Die sowjetischen Soldaten schießen zuerst über die Köpfe, dann in die Menge. Molotowcocktails lassen einige Panzer in Brand geraten. In kurzer Zeit gibt es 30 Todesopfer, mehr als 300 Verletzte.

Am selben Vormittag versucht Thomas Brasch in Ahrenshoop vergeblich ein "Neues Deutschland" zu kaufen. Erst aus dem Radio erfährt er vom Einmarsch der Armeen. Brasch und Sanda Weigl entschließen sich, sofort nach Berlin zu trampen.

Am nächsten Tag gehen sie in die Buchhandlung "Das gute Buch" am Alexanderplatz, in der Erika Berthold, eine Freundin Sanda Weigls, arbeitet. Erika Berthold ist die Tochter des Direktors des Institutes für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Schnell werden sie sich einig, etwas gegen den Einmarsch zu unternehmen. Am Nachmittag schreiben sie in Sanda Weigls Wohnung mit Filzstiften verschiedene Losungen auf Papier wie: "Hände weg vom roten Prag", "Stalin lebt" und "Ein Dubcek für die DDR". Im Verlauf des Nachmittags stoßen Sandas Bruder Vladimir Weigl, Rosita Hunzinger sowie die Bulgarin Juliana Grigorowa hinzu. Gegen 19.30 Uhr verlässt Thomas Brasch die Wohnung, um Florian Havemann im Kino International zu treffen. Er wartet vergebens - Florian Havemann wurde auf dem Weg ins Kino verhaftet - und kehrt in die Wohnung zurück. Bis etwa 22.00 Uhr schreiben sie Flugblätter, es sind zirka 400. Erika Berthold und Rosita Hunzinger übernehmen die Verteilung entlang der Friedrichstraße, Brasch und Sanda Weigl im Prenzlauer Berg. Bevor sie sich gegen 22.30 Uhr trennen, verabreden sie, bei einer Verhaftung die anderen nicht zu belasten.

Thomas Brasch hat etwa 180 Flugblätter bei sich, er steckt sie in Hausbriefkästen in der Kollwitzstraße, in der Husemannstraße, in der Buchholzer Straße, in der Wichert-straße; 20 bis 30 Flugblätter legt er auf den Verbindungssteg zwischen dem U- und S-Bahnhof Schönhauser Allee. Mit der U-Bahn fahren sie zurück und sind gegen 0.30 Uhr wieder in der Wohnung Sanda Weigls. Es beginnt eine Zeit des Wartens, der Ungewissheit.

Das Innenministerium der DDR zählt an diesem Tag 126 "Vorkommnisse", die den Tatbestand der "Hetze bzw. Staatsverleumdung" erfüllen.

Am Freitag, den 23. August, verhandelt das Breschnewsche Politbüro mit Teilen der tschechischen Führung, als Thomas Brasch zu Bettina Wegner nach Pankow fährt. "Er ist zu mir gekommen, hat gesagt, er wird wahrscheinlich verhaftet, und ich soll um Gottes willen nichts machen, weil ich an das Kind denken soll. Ich glaube, er hatte nicht so eine große Angst. Er war sehr klar", erinnert sie sich.

Bettina Wegner hält sich nicht an die Bitte von Thomas Brasch. Auch um ihn und die anderen zu decken, fertigt sie Flugblätter an, die sie zusammen mit einem Kumpel in Pankow verteilt. Gegen 16.00 Uhr verlässt Thomas Brasch die Mutter seines Sohnes. Mittlerweile ist klar, dass Rosita Hunzinger und Erika Berthold verhaftet wurden. Um sich zu schützen, fahren Brasch und Sanda Weigl zu Klaus Richter, einem Freund, nach Berlin-Hirschgarten.

Am Samstag, den 24. August, wird Bettina Wegner verhaftet. Sie bleibt sieben Tage in U-Haft, wird auf Bewährung verurteilt. Thomas Brasch verbringt seinen Tag gemeinsam mit Klaus Richter und Sanda Weigl. Florian Havemann erzählt: "Thomas ist verrückt geworden, bei jedem Auto was um die Ecke bog, und an seiner Freundin Sanda, weil die im Bikini im Garten gelegen hat, und Urlaub machen wollte."

Am Montag, den 26. August, kehren Brasch und Sanda Weigl nach Berlin zurück; Brasch geht direkt zu seinen Eltern, die seine Handlungsweise verurteilen und ihn auffordern, sich unverzüglich den Sicherheitsorganen der DDR zu stellen. "Ich sprach mich zunächst dagegen aus, obwohl ich prinzipiell damit einverstanden war, mich zu stellen, wollte dies jedoch nicht auf Weisung meiner Eltern tun, sondern es selbst entscheiden." Er geht in die wenige Minuten entfernt liegende Wohnung von Sanda Weigl. Als er erneut seine Eltern aufsucht, wird er festgenommen. Horst Brasch hatte seinen Sohn angezeigt.

Um 22 Uhr beginnt Thomas Braschs erste Vernehmung im Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit Magdalenenstraße. Sie dauert bis fünf Uhr morgens. Laut Effektenaufstellung trägt er: "1 Sporthemd, bunt kariert, 1 Niethose, blau; 1 Turnhose, grün; 1 Paar Sandaletten, hellbraun". Außerdem hatte er bei der Verhaftung "1 Brieftasche, braun, 1 Zündschlüssel und 1 kl. Sicherheitsschlüssel" bei sich.

Während Brasch aussagt, dass er die Politik der führenden Funktionäre der KPC für richtig hält, weil sie wesentliche Voraussetzungen für einen demokratischen Sozialismus schufen, kehrt Alexander Dubcek nach Prag zurück. Thomas Brasch wird als Häftling Nummer 78 in Zelle 35 der U-Haftanstalt der Staatssicherheit, Magdalenen-straße eingesperrt. Er kommt in Einzelhaft.

Am Dienstag, den 27. August, findet die zweite Vernehmung statt. "Zu den Verhören ist man von sogenannten Läufern aus der Zelle abgeholt worden", berichtet Florian Havemann. "Die brachten dich in den Vernehmertrakt. Du musstest immer um Ecken rum. Dabei musstest du damit rechnen, dass die hinter der Ecke mit der Maschinenpistole stehen und dich umnieten. Es war ein völlig gesetzesfreier Ort, das geheimste Gefängnis, nie wäre etwas rausgekommen."
Am gleichen Tag hält Alexander Dubcek, der nach den erpresserischen Tagen in Moskau nur mit Mühe sprechen kann, eine Rede, in der er das Volk erneut um Vertrauen bittet und versichert, dass der Einmarsch nur eine vorübergehende Maßnahme sei.

Am Mittwoch, den 28. August, steht der Einfluss Robert Havemanns im Mittelpunkt der Vernehmung. Brasch sagt aus, dass die Gespräche bzw. die Lektüre des Havemann-Buches "Dialektik ohne Dogma" ihn in seinem Denken und Handeln in keiner Weise beeinflusst haben.
Thomas Braschs Wohnung in der Boxhagener Straße wird durch das VP Revier 83 versiegelt.
Am Freitag, den 30. August, äußert sich Thomas Brasch zu seinem familiären Hintergrund und seinem Werdegang. Anschließend wird er im Haftkrankenhaus des Ministeriums für Staatssicherheit untersucht. Der Gesundheitsbericht des leitenden Arztes Haarfeldt konstatiert: 23-jähriger Patient in normalem Allgemein- und Ernährungszustand. Haut und sichtbare Schleimhäute sind gut durchblutet. Herz und Lungen klinisch unauffällig. Der Häftling ist haft-, vernehmungs-, und prozessfähig.

Der 31. August und der 1. September vergehen ohne Vernehmungen. In der Tschechoslowakei sind bis zu diesem Tag 71 Tschechoslowaken getötet und 701 verletzt worden.
Am 3. September wird Thomas Brasch beim Arzt vorstellig: Er klagt über Beklemmungsgefühl, Herzbeschwerden, allgemeine Abgeschlagenheit. Hat Angst, nicht wieder aus der Haft zu kommen. Führt Selbstgespräche, ohne sich an den Inhalt erinnern zu können. Beginnende Haftreaktion. Morgens u. Mittags 1 abds. 2 Librium. EKG wird veranlasst. Thomas Brasch wird in Zelle 112 verlegt."

Immer wieder wird er nach Robert Havemann und Wolf Biermann befragt. Die Staatssicherheit und die Anklagevertretung versuchen, belastendes Material gegen beide zu sammeln, als auch Einflüsse "auf die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen" von außen zu finden. Dazu zählen das Westfernsehen, westliche Zeitungen und Zeitschriften, sowie "feindliche" Bücher. Brasch äußert sich "umfänglich und differenziert zu allen ihm gestellten Fragen". Er bekennt sich zu seiner "Tat" und begründet sie: Er habe am 22. 8. 1968 gemeinsam mit weiteren Personen Flugblätter hergestellt, deren Inhalt sich gegen die Maßnahmen der sozialistischen Staaten richtet und habe anschließend einen Teil der Flugblätter in der Hauptstadt der DDR verbreitet. Mit dieser Handlung verfolgte ich das Ziel, andere Bürger anzuregen, sich über die genannten Maßnahmen Gedanken zu machen und sie zu veranlassen, in Diskussionen gegen die Maßnahmen der sozialistischen Staaten Stellung zu nehmen. Ich wollte damit dazu beitragen, dass es zu einer öffentlichen Ablehnung der Maßnahmen vom 21. 8. 1968 kommt, diese rückgängig gemacht und die strittigen Fragen auf dem Weg von Verhandlungen geklärt werden. In den Vernehmungen verleugnet er nie seine grundsätzliche Überzeugung, dass der Einmarsch falsch ist. Zweifel darüber, ob seine Reaktion richtig war, hat er schon. Immer wieder betont er, dass er prinzipiell den Sozialismus und so wie er in der DDR aufgebaut wird, befürworte. Ablehnende Auffassungen habe ich zu einigen Fragen der Kulturpolitik in der DDR. So bin ich nicht einverstanden, dass noch so viele Filme, Bücher und Fernsehsendungen produziert werden, die nicht zu einer aktiven Auseinandersetzung mit unserer Wirklichkeit anregen.

Die Einzelhaft hat auf Thomas Brasch verheerende Auswirkungen, wie Arztberichte zeigen. Jahre später schreibt er an seinen Vater: "Ich würde Dir gern vom Gefängnis erzählen. Du würdest verstehen, daß es nichts Schlimmeres gibt als in einem Gefängnis zu sein und das nicht richtig zu finden und gleichzeitig dazu stehen zu wollen."

Thomas Brasch stellt sich auf die Situation ein. Am 13. September sind die Herzbeschwerden weg, er fühlt sich "subjektiv" wohler. Im Oktober werden die Beruhigungstabletten auf seinen Wunsch hin abgesetzt. Die Wiegekarte der Haftanstalt weist für August ein Gewicht von 66 Kilogramm aus, für September von 65 und für Oktober 68. Die auf seinen Wunsch ab 1. Oktober verabreichte Verpflegungsänderung - Doppelt-Normale-Kost - wird am 19. Oktober, auch auf seinen Wunsch, wieder in normale Essenportionen umgewandelt.

Er liest viel, zum ersten Mal Ulysses von Joyce, auch Dostojewski, Tolstoi, die er wegen der genauen Beschreibung der Realität schätzen lernt. "Diese Texte waren wie ein Gewicht gegen den Realitätsverlust, wenn man Wochen oder Monate nur die Wand sieht."

Die Realität "draußen" verändert sich während dieser Zeit dramatisch. In der CSSR werden der noch im Amt befindlichen Regierung Dubcek von den sowjetischen Besatzern Maßnahmen auferlegt, die schrittweise die Reformen rückgängig machen. Einen Monat nach dem Einmarsch haben 50 000 der insgesamt 14 Millionen Tschechoslowaken das Land verlassen. In der DDR wurden in der Folge der Ereignisse in der CSSR insgesamt 313 Personen festgenommen. Die SED schloss 223 Mitglieder aus, Tausende wurden "verwarnt" oder mit "Rügen" belegt.

In Mexico-City beginnen die Olympischen Spiele. Die erstmals eigenständig auftretende DDR-Mannschaft belegt in der Länderwertung hinter den USA und der UdSSR den dritten Platz. Ihre Stars sind der 17-jährige Rückenschwimmer Roland Matthes, der Boxer Manfred Wolke und die Kugelstoßerin Margitta Gummel.

Fünf Tage später, am 23.Oktober 11.00 Uhr, findet die Urteilsverkündung vor dem Strafsenat 1c des Stadtgerichts Berlin statt. Auch Thomas Braschs Mutter ist gekommen. Eines der Bilder, das sich in die Erinnerung Braschs einbrennt, werden die Möwen sein, die an den Fenstern des Gerichtssaales vorbei fliegen - das Bild einer Freiheit, von der er sich für lange Zeit abgeschnitten weiß: Thomas Brasch erhält zwei Jahre und drei Monate Gefängnis wegen staatsfeindlicher Hetze.

Einige Tage später schreibt Gerda Brasch einen Brief an ihren Sohn im Gefängnis, indem sie ihm mitteilt, dass sie und Horst Brasch ihm helfen werden, "sobald die reale Möglichkeit gegeben ist". Bald, wie sie hofft.

In der Filmhochschule werden die Studenten über das Urteil gegen Thomas Brasch an dem Tag informiert, als in Frankfurt Andreas Baader, Gudrun Ensslin und andere wegen der Brandstiftung in zwei Frankfurter Kaufhäusern zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt werden. IM Ruth Blume berichtet, dass das Strafmaß mit eisigem Schweigen quittiert wurde. Die Studenten seien regelrecht zusammengezuckt, als sie von der Höhe der Strafe hörten, auch als das Wort "verbrecherische Handlung" gebraucht wurde.

Wenige Tage später werden Frank Havemann, Thomas Brasch, Rosita Hunzinger, Sanda Weigl, Erika-Dorothea Berthold und Hans-Jürgen Uzkoreit, gemäß §349 der Strafprozessordnung Strafaussetzung auf Bewährung zugebilligt, "da die Verurteilten reuevolle Einsicht zeigten und dazu beitrugen, Klarheit über die Hintergründe der von ihnen begangenen Gesetzesverletzungen zu schaffen".

In Hamburg erscheint die Zeitschrift "Konkret" mit einem Text Ulrike Meinhofs: "Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch."

Am 11. November wird Thomas Brasch nach 77 Tagen Haft entlassen. Gegen 13.00 Uhr verlässt er in einem roten Wartburg den Gefängnishof. Ein Jahr später schreibt er über sein Gefühl an diesem Tag: "Alles leer. Keine Freude."

Die Haftentlassung ist mit rigiden Bewährungsauflagen verbunden. Zur "Wiedereingliederung" gehört die "Arbeitsaufnahme in einem sozialistischen Großbetrieb", verbunden mit der Hoffnung, dass "die Arbeiterklasse die Jugendlichen auf den Boden der Tatsachen des Sozialismus holt". Brasch versucht, sich dem zu entziehen, indem er Kontakt mit der Filmhochschule aufnimmt, um im Filmarchiv oder in der Filmbibliothek zu arbeiten, was aber kategorisch abgelehnt wird. Auch eine Bewerbung im Brecht-Archiv scheitert.

Am 6. Dezember füllt er schließlich einen Personalbogen im VEB Transformatorenwerk Oberschöneweide aus. Er arbeitet als Fräser; als Haftentlassener mit dreijähriger Bewährung hat er eine unbefristete Arbeitsplatzbindung. Er wird offiziell vom Meister der Abteilung und von einer Genossin der Kaderabteilung betreut. Sie geben alle vier Wochen eine Einschätzung über sein Verhalten an Genossen des ZK. Zwei Monate später wird ihm in einem Bericht "gute Arbeit" bescheinigt: Seine Normerfüllung mit 90 % ist ebenfalls gut. Er benimmt sich anständig und ist zurückhaltend. Über politische Äußerungen ist bisher nicht bekannt geworden...

Das Jahr endet für Thomas Brasch nur scheinbar, wie es begonnen hatte. Barbara Honigmann ist die Gastgeberin einer Silvesterparty, bei der 40 bis 50 Leute anwesend sind. Ein Mitarbeiter der Staatssicherheit berichtet, dass politische Diskussionen kaum aufkamen.

Der Autor Stephan Suschke lebt in Berlin und arbeitet als Schauspiel- und Opernregisseur.

0 Comments:

Post a Comment

<< Home