Knaller an der Zeitungsfront

Monday, March 10, 2008

Sind die Lehrer schuld? (Berliner Zeitung)

Sind die Lehrer schuld?
Jeder zweite Schüler im Osten glaubt, dass die DDR das bessere System war. Ein Beitrag zu einer aktuellen Debatte
Torsten Harmsen

Irgendwo hier soll sich die DDR versteckt halten. Vielleicht dort, in diesem alten roten Backsteinbau. Er gemahnt an preußische Strenge und Räume, die nach Kreide, saurer Milch und öligen Bohnerspänen riechen. So jedenfalls roch die eigene Schule, vor fast vierzig Jahren in der DDR. Und sie sah auch fast so aus wie dieser Bau. Drinnen jedoch ist es ganz anders. Der Flur ist hell, freundlich. Eine Gruppe lärmender Schüler zieht vorüber. Aus dem Büro der Schulleiterin riecht es nach frischem Kaffee.

Karla Werkentin ist dreiundsechzig und kam vor zehn Jahren als Direktorin in dieses Haus - die Heinz-Brandt-Oberschule in Weißensee, im tiefsten Osten Berlins. Zuvor hatte sie im Westen unterrichtet und Politik als grüne Bildungsstadträtin in Schöneberg gemacht. Jetzt übergibt sie das Direktorenamt an ihre Nachfolgerin Miriam Pech, auch aus Schöneberg. Karla Werkentin geht in Altersteilzeit - mit gutem Gefühl. Ihre Schule wurde mehrfach ausgezeichnet: unter anderem als eine der besten Hauptschulen Deutschlands.

Eine Musterschule, eine Direktorin aus dem Westen - wo versteckt sich hier nun die DDR? Irgendwo muss sie sein; schließlich finde man sie überall im Osten, behauptete jüngst eine Studie, die großes Aufsehen erregte. Forscher der Freien Universität (FU) Berlin hatten bundesweit über fünftausend Schüler befragt, mit dem Ergebnis: Das Wissen über die DDR ist überall mangelhaft, besonders schlecht aber in Brandenburg und im Ostteil Berlins. Es herrsche ein nostalgisches, vernebeltes Bild. Jeder zweite Schüler glaube, das DDR-System sei besser gewesen als die Bundesrepublik oder zumindest gleichwertig.

Eine eigene kleine Umfrage zeigt, wie es Kinder von Freunden und Bekannten sehen. Es sind Gymnasiasten, alle um 1990 geboren. Woran denken sie als erstes, wenn sie den Begriff DDR hören? Sehen sie die DDR als Diktatur? An den Antworten erkennt man, wie stark Wissen und Meinungen vom Umfeld abhängen, in dem die Kinder aufwachsen, auch davon, wie kritisch in den Familien mit der DDR umgegangen wird.

Petra aus Bayern zum Beispiel hat gar keine Bindungen zur DDR. Sie spricht viel leichteren Herzens über den Staat, als die Kinder, deren Eltern und Großeltern dort gelebt haben. Marie, Gymnasiastin aus Berlin-Treptow, sagt voller Überzeugung: "Keiner, der in der DDR lebte, redet schlecht über sie. Kein einziger, den ich kenne."

Was fällt dir beim Begriff DDR spontan ein?
Marie, 17 Jahre, Berlin: "Pioniere. Kinder hatten Möglichkeiten, ihre Freizeit zu gestalten. Man konnte auf der Straße spielen, ohne Angst haben zu müssen. Alle Leute hatten Arbeit."
Tim, 19 Jahre, Brandenburg: "Mauer, DDR-Mark, Sozialismus."
Lena, 18 Jahre, Berlin: "Honecker, Mauer, Küchenmöbel."
Petra, 19 Jahre, Bayern: "Stunden-langes Anstehen für Bananen. Eher eine Rückentwicklung des gesellschaftlichen Lebens. Der Film ,Good Bye, Lenin!‘"

Meinungen, wie die von Marie finden sich in der FU-Studie häufig. Die Kinder hören sie an den sonntäglichen Kaffeetischen ihrer Familien. Und blickt man kritisch auf sich selbst - 1961 geboren - dann zeigt sich, wie leicht man auch heute noch vor allem an die schönen Dinge zurückdenkt: Die erste Lehrerin, die man liebte, obwohl sie streng war. Der erste Kuss im Ferienlager. Die Freunde, mit denen man Musik machte. Die Freundin, mit der man zeltete. Es ist schwer, eine Welt, in der man lebte, jenseits aller Gefühle auf eine Formel zu bringen, wie: "Diktatur". Man braucht viel Wissen über das, was geschah. Man muss das alte Umfeld verlassen, neue Menschen kennenlernen, Freunde finden - auch im Westen, auch in der Arbeit, um Abstand zu sich selbst zu bekommen, zu seinem Leben, zu dem Land, in dem man lebte.
Viele Lehrer im Osten machen diese Erfahrungen offenbar nicht. Sie bleiben in geschlossener Gesellschaft und vermitteln ein nostalgisches DDR-Bild, oder schweigen. Dabei sollten sie erzählen, aufklären! Was ist passiert? Was steckt dahinter?

Als Karla Werkentin vor zehn Jahren an die Heinz-Brandt-Schule in Weißensee kam, traf sie auf eine ihr völlig fremde Mentalität. Da war sie nun im Osten angekommen, die Alt-Achtundsechzigerin aus West-Berlin, stolz auf ihre Demo-Vergangenheit und ihre "dicke Akte beim Verfassungsschutz". Freiheit und Individualismus galten ihr als das Höchste. Und nun stieß sie auf Leute, die organisierte Kollektivität gewohnt waren, die einen "Subbotnik" - organisierten, als es darum ging, die Schule aufzuräumen. Einmal schlug jemand vor, doch wieder einheitliche Sportkleidung einzuführen. "Mehr Zucht, mehr Ordnung, mehr Disziplin! Das hörte ich hier sehr oft", sagt Karla Werkentin. Und noch kürzlich erklärte ein Kollege: "Wenn man sich nichts zu Schulden kommen ließ, hat einen die Stasi auch in Ruhe gelassen." "Wenn das das Resümee der DDR-Geschichte sein soll", sagt Karla Werkentin, "ist das schon bitter!"

Wie bei der Erforschung einer fremden Spezies versucht man nun, dieses seltsame Wesen Ost-Lehrer zu ergründen. Manche haben eindeutige Erklärungen parat. "Vom Beginn der achtziger Jahre an wurden Lehrer in der DDR gezielt aus zuverlässigen Familien ausgewählt", sagte die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier kürzlich bei einer CDU-Veranstaltung im Abgeordnetenhaus zum Thema "DDR-Geschichte im Unterricht". Die Folge: Bis zu achtzig Prozent der Lehrer seien SED-treu gewesen. Anfang der neunziger Jahre habe es einige Demokratisierungsversuche an den Schulen gegeben. "Damals wurden zunächst viele junge Lehrer aus dem Westen gerufen. Die gingen mit Pioniergeist in den Osten. Doch achtzig Prozent von ihnen wurden weggebissen", sagte Freya Klier. Sie berichtete von Kollegien, die Lehrer aus dem Westen mobbten, bis diese entnervt zurückgingen. Und sie machte dafür eine Verschwörung der PDS und ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Leute verantwortlich. Diese - studierte Lehrer - seien in der Wendezeit an die Schulen zurückgekehrt. "Das sind keine Seilschaften mehr, sondern mafiotische Zusammenhänge."

Joachim Gauck, der einst die Stasi-Aktenbehörde leitete, widersprach dem vehement. Alle hauptamtlichen Stasi-Leute seien bei der Überprüfung aus den Schulen entfernt worden. Informelle Mitarbeiter (IM) habe man entlassen oder weiter beschäftigt - je nach Aktenlage und persönlichem Gespräch. Er könne sich nicht vorstellen, dass an den Ost-Schulen aktive Seilschaften tätig sind. Dort herrsche viel mehr "die Normalität der Unaufgeklärtheit". Und diese müsse man überwinden. Sagte Gauck.

War die DDR eine Diktatur?
Marie: "Für mich war sie das nicht, da es ja genug Freiheiten gab, und die meisten Menschen sich, zumindest bevor die Mauer fiel, nicht eingeschränkt gefühlt haben. Es gab auch keinen Diktator im eigentlichen
Sinne. Die DDR war einfach ein leider nicht vollendeter Versuch, ein für alle geordnetes und gerechtes Leben zu finden."
Tim: "Ja, sie war ’ne Diktatur."
Lena: "Ja."
Petra: "Da muss ich jetzt passen, spontan kann ich jetzt dazu nichts sagen. Müsste ich mich mehr mit auseinandersetzen."

Stimmt es wirklich, dass die meisten Ost-Kollegien hermetisch abgeschlossene Nostalgie-Verbände sind? Und wenn ja, werden sie sich verändern lassen? Bei der CDU-Veranstaltung im Abgeordnetenhaus wurde gefordert, die kritische Beschäftigung mit der DDR nun durchzudrücken, und sei es mit Sonder-Projekttagen. Dabei war es die CDU, die nach der Wende schnell zum Tagesgeschäft übergehen wollte, auch an den Schulen. "Die CDU leitete die Verbeamtung der Ost-Lehrer ein", sagte der FU-Forscher Klaus Schroeder, "wohl in der Hoffnung auf künftige stramme Wähler." Joachim Gauck verwies darauf, dass ehemalige Parteisekretäre oder SED-Mitglieder oft "viel verheerender" gewirkt hätten als Stasi-Leute, auf die sich nun alles konzentriere. Doch man habe die Lehrerschaft großzügig übernommen, um vor allem die DDR-Fachlehrer nicht zu verlieren.

War das falsch? Wäre es eine bessere Lösung gewesen, die staatsnahen Lehrer massenhaft zu entlassen? Auf alle Fälle hätte es die Betroffenen noch weniger zu Anhängern der bundesdeutschen Demokratie gemacht. Karla Werkentin bedauert etwas anderes: "Unser Hauptfehler war, dass wir nicht berlinweit gemischt haben." Andere Bereiche, etwa die BVG oder die Berliner Museen, haben in den neunziger Jahren ihre Ost-West-Belegschaften zusammengeführt. "Aber die Lehrer sind sakrosankt", sagt sie. "Die West-Kollegen konnten nach ein paar freiwilligen Jahren im Osten Freudenfeste feiern, weil sie wieder in den Westen zurückdurften."

Bis heute hat die Berliner Politik nicht viel dafür getan, die Auseinandersetzung mit der DDR an der Schule zu vertiefen. Von eintausendachthundert Weiterbildungsveranstaltungen für Berliner Lehrer drehen sich ganze vier um die Geschichte der DDR. Junge, neu ausgebildete Lehrer für Geschichte und Weltkunde finden keine Stellen, weil Lehrer in anderen Fächern dringender gebraucht werden. Der Senat will nicht "brutal kontrollieren", ob die Schulen in ihrem Unterricht die DDR behandeln. Andere Bundesländer dagegen haben bewusst Schlüsse gezogen. In Brandenburg etwa verabredeten der Bildungsminister und die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, besser zusammenzuarbeiten.

Auch im Ostteil Berlins finden sich Lehrer, die ihre Schüler kritisch mit der DDR konfrontieren. Zu ihnen gehört Manfred Quick. Er ist seit einunddreißig Jahren Lehrer, ausgebildet für Mathe und Chemie. Seit einiger Zeit unterrichtet er in seiner Klasse an der Heinz-Brandt-Schule auch Geschichte. Karla Werkentin schwärmt für den kräftigen Mann im weißen Kittel, der wie ein Hausmeister berlinert. "Das ist ein echter Ossi, sehr beliebt bei den Kindern. Streng, aber auch gerecht", sagt sie.

"Ich bin ganz ehrlich", sagt Manfred Quick, "ich habe damals auch nicht gesagt: Weg mit der DDR! Damit hätte ich auch nicht Lehrer werden können. Aber dass sich so gar nichts bewegt hat, das war doch zum Kotzen. Und das muss man auch darstellen können, um den Vergleich zu ziehen." Wenn er etwa an die Erpressbarkeit der Leute durch die Stasi denke. Oder an die Häftlings-Freikäufe durch den Westen. "Da sage ich mir auch: Schmierig! Da ließ sich dieser Staat die Leute abkaufen. Wie moderne Sklavenhändler." Neulich sagte eine Schülerin: "Bei uns war die Stasi nie zu Hause." Quick antwortete: "Natürlich, die war bei vielen nicht zu Hause. Trotzdem ist die Stasi ein Merkmal dafür, wie repressiv ein Staat mit seinen Mitteln gegen Leute vorgehen kann, die nicht konform laufen."

War die Stasi ein Geheimdienst, wie ihn jeder Staat hat?
Marie: "Mit Sicherheit nicht, wobei man ja auch nicht wissen kann, wie der Geheimdienst in den anderen Staaten war oder heute ist - was sich da unter manchem Deckmantel verbirgt."
Tim: "Eigentlich schon, aber sie hat radikalere Mittel benutzt. Es gab ein sehr eingeschränktes Feindbild. Bürger mit anderer Meinung wurden bespitzelt."
Lena: "Sie war ein Geheimdienst, wie ihn jeder Staat hat. Aber von Staat zu Staat variiert die Art und die Härte des Geheimdienstes. Die Stasi war gewiss härter als manch anderer Geheimdienst."
Petra: "Puh . ich würde auf alle Fälle behaupten, dass die Stasi kein Geheimdienst war, wie ihn jeder Staat hat. Allerdings entwickeln sich die modernen Staaten immer mehr und mehr zu einem Überwachungsstaat. Ob das allerdings mit der Stasi zu vergleichen ist, wage ich zu bezweifeln."

Warum sind nicht alle Lehrer so offen wie Manfred Quick? Lernten sie nicht auch die neuen Freiheiten schätzen, die mit dem Ende der DDR kamen? Hatten nicht manche von ihnen ihrer Wut, ihren Tränen freien Lauf gelassen bei jenem Gespräch im Oktober 1989 in der Berliner Kongresshalle? Tausende Lehrer waren dabei, als sich vor Vertretern des DDR-Volksbildungsministeriums die Demütigung entlud, unter der viele gelitten hatten - weil sie "schweigen und lügen" mussten, wie einer sagte. Niemals mehr wollten sie das erdulden. Und heute? Heute gibt es Freiräume, von denen viele damals nicht einmal träumten.

Etwa den Freiraum, von dem Manfred Quick erzählt: "Während ich vorher dreizehn Jahre lang als Lehrer meinen Lehrplan abzuarbeiten und abzurechnen hatte, gab es jetzt zwar den Rahmenplan, aber mir war freigestellt, daraus Dinge zu machen, wie ich das will." Der neueste Plan schreibt ihm nicht einmal vor, sich explizit mit der DDR zu beschäftigen. Quick weiß nur: Er soll in der zehnten Klasse die Zeit von 1945 bis zur Wiedervereinigung behandeln. Seine Schüler sollen dabei unter anderem "den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur herausarbeiten". Quick versucht das ausführlich am Beispiel der DDR. Viele andere nicht.

Warum nicht?
"Demokratieauffassungen hängen eng von den Bedingungen der Gesellschaft ab", sagte der FU-Forscher Klaus Schroeder. Viele Westdeutsche hätten sich vor allem zur Demokratie bekannt, weil diese Wohlstand brachte. Das Sein bestimmte auch hier das Bewusstsein. So wie bei der deutschen Einheit. Sie hat für die Lehrer im Osten Neues und Gutes gebracht, aber auch Verschlechterungen. An den Schulen wird gespart, Lehrer sind überlastet. Für hundert aus Altersgründen ausscheidende Lehrer stehen bundesweit nur sechzig Absolventen bereit. Lehrer betreuen immer größere Klassen. Oft müssen sie im Unterricht gegen Desinteresse kämpfen und in Pausen Gewalt schlichten. Da bleibt kaum Zeit, sich über Inhalte auszutauschen.

Das Schulsystem ist nicht gerecht. An der Heinz-Brandt-Schule etwa lernen zweihundert Schüler aus sogenannten bildungsfernen Familien. Viele Eltern sind arbeitslos, kümmern sich nicht um ihre Kinder, manche sind Alkoholiker. Die meisten kommen nie aus ihrem Bezirk heraus, nicht mal die paar Stationen bis zum Alex oder Zoo. "Wir haben viele enttäuschte Kinder. Die letzten einer Grundschulklasse, die es nicht auf die Realschule schaffen, kommen zu uns an die Hauptschule", sagt Karla Werkentin. Nur ein Drittel ihrer Schüler erhält am Ende eine Lehrstelle. "Dieses Schulsystem ist diskriminierend und gehört grundlegend erneuert oder abgeschafft."

Viele Ost-Lehrer sehen keinen Grund, das DDR-Schulsystem, das sie einst selbst mitprägten, zu verurteilen. Zumal einiges, das ihnen vertraut vorkommt, heute "neu erfunden" wird: Gemeinschaftsschulen, das Abitur nach zwölf Jahren, zentrale Prüfungen. Dass sich Finnland einst an der DDR orientierte, als es 1973 die "Schule für alle" einführte, bestätigte 2004 Markuu Suortamo von der finnischen Schulbehörde.

Die Finnen haben erkannt, wie wichtig es ist, Schüler möglichst lange zusammen lernen zu lassen und sie nicht zu früh zu auszusortieren. Die Lehrer begegnen in ihren Klassen auch einer Sehnsucht nach einer sozial sicheren Welt. "Die Mehrheit der Ost-Schüler wünscht sich heute einen Staat, der plant und lenkt", sagte der FU-Forscher Klaus Schroeder.

Wenn Joachim Gauck von "Inseln der Aufgeklärtheit" spricht, meint er ein offenes geistiges Klima an den Schulen. Aufklärung kann es aber nur geben, wenn man die alten Denkmuster aufbricht. Mit der Ost-West-Mischung hat es nicht geklappt. Nun hofft mancher auf eine ganz neue Entwicklung: nämlich die jungen Kollegen, die nach und nach an die Schulen kommen.
Daniela Tschiersch ist eine von ihnen. Die heute Vierzigjährige kam 1998 als Englischlehrerin an die Heinz-Brandt-Schule und gehörte zu einer neuen Generation von Lehrern, die noch in der DDR aufgewachsen waren, aber schon im Westen studierten. Plötzlich, so Karla Werkentin, gab es an der Schule keine Spannungen mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Jung und Alt. Auch zwischen den Ansprüchen.

Daniela Tschiersch ist es gar nicht egal, welche Haltung ihre Schüler haben. Auch aufgrund ihrer eigenen Geschichte. Sie wuchs in einem katholischen Elternhaus auf. Ihr Vater wollte mit siebzehn flüchten, wurde erwischt und kam ins Gefängnis nach Bautzen. "Ich hatte also nicht die allerbeste Meinung von meinem Staat", sagt sie. "Als die Wende kam, hatte ich aber auch nicht die Vorstellung, dass der Osten jetzt alles vom Westen übernehmen solle."

Die damals Zwanzigjährige ging zu den Runden Tischen, suchte nach einem neuen Weg, auch in der Bildung. Sie will, dass sich ihre Kinder eigene Gedanken machen. "Ich habe den Eindruck, dass sie keine Vorstellungen von Ost-West mehr haben, dass ihnen das Thema nicht wichtig ist", sagt sie. Viele Schüler sprächen einfach nach, was ihre Eltern erzählten. "Geschichtlich und tagespolitisch sind sie leider nicht interessiert", bedauert Daniela Tschiersch, "auch nicht daran, ihre Rechte wahrzunehmen, zu erkennen, in welcher Umwelt sie aufwachsen." Sie höre oft Vorurteile, vor allem in Richtung Türken oder Araber. "Alle paar Monate halte ich ihnen ’ne Gardinenpredigt, aber es gibt wenige, die man erreicht."

Die Schulen sind damit überfordert, nicht nur zu bilden, sondern auch zu erziehen - Probleme zu lösen, die auch in anderen Bereichen der Gesellschaft bestehen. Lehrer wie Daniela Tschiersch oder Manfred Quick versuchen es dennoch. Der Geschichtslehrer läuft mit seinen Schülern Stationen der Mauer ab, bis zu der Stelle am Humboldthafen, wo der erste Mauerflüchtling, Günter Litfin, erschossen wurde. Quick geht es aber nicht nur um Mauer, Stasi und Gewalt, sondern um das alltägliche Leben in der DDR: Aus welcher Situation entstand sie nach dem Krieg? Welche Rolle spielte die SED? Warum gab es vieles nicht? Wie lebte die Jugend? Was war die FDJ? Was machte man in der Freizeit?

War die DDR-Regierung durch demokratische Wahlen legitimiert?
Marie: "Wäre sie das nicht gewesen, hätten die Menschen dann nicht schon von Beginn an rebelliert? Das kam mir spontan in den Sinn."
Tim: "Eher nein."
Lena: "Nein, sie wurde einfach gegründet, und bei späteren Wahlen konnte man sich nur für oder gegen eine vorgegebene Partei entscheiden."
Petra: "Definitiv nicht."

Es ist schwer, Schülern Zusammenhänge zu erklären. Die Lehrbücher seien in ihrer Sprache oft "keine dolle Hilfe", sagt Manfred Quick. Also setzt er sich hin und formuliert die Texte um, schülergerecht. Als er mit seinen Schülern durchs ehemalige Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen lief, sagte er: "Stellt euch das mal vor, das hätte euch auch passieren können. Erst mal weg! Ohne offizielle Anklage, ganz willkürlich! Du weißt nicht, wo du bist, wie lange du drin bist und was aus dir wird." Die Schüler seien dann meist betroffen, sagt er. Denn sie spürten: Das war eben kein normales Gefängnis. Und die Stasi war eben kein normaler Geheimdienst.

Das Klima in der Schule ist immer auch ein Spiegel des Klimas in der Gesellschaft. Wer von "verbohrten Ost-Lehrern" redet, vergisst, dass Menschen eine Umgebung brauchen, die ihnen mit Verständnis entgegenkommt, wenn sie über ihr Leben reden. Stattdessen sieht man Demokratie-Missionare, die zuallererst Buße einfordern. Nicht alle haben ein so breites Kreuz wie Manfred Quick: "Ich glaube, bei vielen ist es irgendwo Scham. Man denkt: Da hast du mitgemacht, und das sollst du erklären, rechtfertigen. Da hast du keinen Bock drauf. Aber ich sag mir: Was soll das? Gerade weil es mein Leben gewesen ist, will ich es nicht vergessen." Nostalgie entsteht immer dort, wo man sich nicht zu Hause fühlt.

Wie interessant wäre doch eine Veranstaltung im Abgeordnetenhaus, in der Ost-Lehrer über ihr Leben reden und Westlehrer über ihres. Woran sie glaubten, wie ihr Alltag war, woran sie verzweifelten. Die meisten DDR-Lehrer haben in ihrem engen Rahmen mehr oder weniger kreativ gearbeitet. Die wenigsten haben Kindern bewusst geschadet.

Doch der Blick zurück nützt nichts, wenn er Pflichtübung bleibt, ohne Erkenntnisgewinn. Die Lehrer im Osten müssen Kinder zu Demokraten erziehen wollen. Genauso wie die Lehrer im Westen. Es geht nicht um Lippenbekenntnisse, sondern um den Umgang mit Unrecht und Vorurteilen, um einfache menschliche Haltungen.

Das zeigt auch das Beispiel eines Schülers der Heinz-Brandt-Schule. Kevin aus der neunten Klasse begegnete beim Praktikum zum ersten Mal in seinem Leben einem Schwarzen. Zu Hause erzählte er das seinem Vater. Dieser fragte seinen Sohn, warum er dem Schwarzen die Hand gegeben und mit ihm die Pause verbracht habe. Na ja, sie hätten sich eben unterhalten, antwortete der Junge. Später erzählte er der Direktorin, er habe einfach wissen wollen, warum der Mann nach Deutschland gekommen sei und so weiter. "Jetzt stellte er sich plötzlich Fragen", sagt Karla Werkentin. Das ist das, was sie will. Da könne sie hier argumentieren, wie sie wolle: "Ohne Kennenlernen verändert sich nichts." Das gilt auch für Lehrer.
Berliner Zeitung, 08.03.2008

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