Knaller an der Zeitungsfront

Friday, March 14, 2008

Das Leben als Musical (taz)

12.03.2008 Das Web-Video der Woche
Das Leben als Musical
Die US-Gruppe "Improv Everywhere" hat sich auf Flashmob-Theater spezialisiert. Ihre letzte Aktion: Ein spontanes Musical in einem Fastfood-Restaurant. VON MEIKE LAAFF

Ein normales Fastfood-Restaurant mitten in einem Einkaufszentrum in L.A. Eine Frau in der typisch demütigend-häßlichen Kluft amerikanischer Fastfood-Ketten steht hinter dem Tresen einer Burgerbräterei und bedient eine Kundin. Niemand beachtet sie - bis sie plötzlich lauthals in Gesang ausbricht. Singend beklagt sie, dass sie dringend neue Servietten braucht. Die Leute an den Tischen drehen sich um, gaffen sie an - und plötzlich stimmt ein weiterer Mann ein, der ebenfalls Servietten verlangt, weil er sich Senf auf die Hose gekleckert hat. Beide springen auf die Theke und wieder herunter und tanzen Polka durch den Foodcourt in der US-Mall.

Die Gäste an den Tischen sind verwirrt. Es ist wie ein Wirklichkeit gewordenes Musical, wo die Menschen auch immer aus dem Nichts heraus anfangen zu singen und zu tanzen und sich die ganz alltägliche Welt plötzlich in eine Showbühne verwandelt. Immer mehr Gäste stimmen in Gesang und Tanz mit ein: Eine dicke Frau mit einem Baby, ein Reinigungsangestellter mit Kehrschaufel - und schließlich ein Mitarbeiter des Sicherheitsservices, der per Funk Serviettenverstärkung anfordert.


Die Gäste des Fastfood-Restaurants sind Zeuge einer Aktion der US-Gruppe "Improv everywhere" geworden. Die lose Gruppe von Hobbyschauspielern begann 2001 in New York, im öffentlichen Raum komische und provozierende Aktionen zu inszenieren. Das Schema ist immer das gleiche: Aus dem Nichts tauchen die "Agenten" von "Improv everywhere" auf und starten in alltäglichen Situationen mitten im öffentlichen Raum ihre Aktionen. Mal ist es nur eine Handvoll "Undercover-Agenten", die aus dem Nichts heraus anfangen zu schauspielern, manchmal sind es ein paar Hundert.

Im New Yorker Hauptbahnhof froren kürzlich 200 von ihnen mitten in der Bewegung für ein paar Minuten ein, während die restlichen Passanten durch die gespenstisch erstarrte Masse irrten. Ein paar Hundert von ihnen spielte Twister auf einem gepflasterten Platz, fünf zockten Poker im Swimming Pool eines Edel-Hotels. Die "Missionen" der Gruppe sind gut vorbereitet und minutiös geplant - einzige Unbekannte ist, ob Sicherheitsleute oder Polizisten eingreifen. Einen tieferen Sinn sollen ihre Aktionen nicht haben, meint "Improv everywhere"-Gründer Charlie Todd - es gehe einfach nur darum, sich selbst Unterhaltung zu schaffen, nicht auf Massenmedien angewiesen zu sein.

Unterhaltsam sind die Aktionen, die fast alle als Video auf der Homepage der Gruppe abrufbar sind, allemal. Dort kann man zusehen, wie ein Selbstmörder mit großem albernen Trara von einem 50 cm hohen Betonsims gerettet wird, wie eine schlecht verkleidete Band auf einem Hochhausdach das legendäre Dachkonzert von U2 simuliert und wie 20 Menschen in roten Badekappen im Springbrunnen am New Yorker Washington Square ein Wasserballett aufführen.
Längst beschränkt die "Improv Everywhere"-Truppe ihre Aktionen nicht mehr auf New York. Auch in anderen Teilen der USA und der Welt entstehen immer mehr Zweigstellen, die das Spontan-Theater zurück in den öffentlichen Raum bringen. Auch in Deutschland formieren sich derzeit einige Untergruppierungen, die in Foren eifrig erste Missionen aushecken.

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