Knaller an der Zeitungsfront

Tuesday, April 17, 2007

Tschüssi Friedrichshain, bis danno! (Berliner Zeitung)

Tschüssi Friedrichshain, bis danno!
Flucht aus der neuen Heimat. Die Geschichte eines Irrtums
Sabine Reichel

Du darfst auf keinen Fall nach Friedrichshain ziehen!", beschworen mich meine Freunde, und sie hatten einen sehr drängenden Ton, so als wollten sie mich vor tragischem Unglück bewahren. Diese Westberliner sind schon ein leicht paranoides Völkchen, dachte ich amüsiert und winkte überlegen ab. Ich konnte das viel besser beurteilen, denn ich besaß die authentische Frische eines Fremdlings, der ohne Vorurteile ganz gelassen das Flair des Ostens, oder was ich dafür hielt, auf sich einwirken lassen konnte. Ich bin nämlich Hamburgerin und total westdeutsch in den Fünfziger- jahren aufgewachsen, bis ich dann 1976 nach Amerika ging. Wir hatten keine "Brüder und Schwestern in der Zone", denen wir Päckchen mit Asbach Uralt, HB-Zigaretten und Onko-Kaffee "nach drüben" senden sollten, damit sie sich auch mal einen schönen Abend machen konnten.

Zugegeben, mein Umzug von Los Angeles, Hollywood, um genau zu sein, nach Friedrichshain hatte auch etwas von einem etwas tollkühnen Planetenwechsel gehabt, und mir fehlten schon die Palmen, die Surfer und die alten Chevy Corvettes. Aber ich wollte nach fast 30 Jahren Amerika anscheinend meine alte Heimat durch einen extra Schuss Fremdheit neu entdecken. Und dazu brauchte ich als ehemals lokalpatriotische Hamburgerin den abweisenden Charme von Ostberlin. Ich war während der Wohnungssuche zweimal in Friedrichshain gewesen und mir hatte die bunte Mischung aus jungen Leuten, Indie-Kultur und einer gewissen Schäbigkeit, die Kreativität vortäuschte, sehr gut gefallen. Hamburg ist ja tausendmal schöner, zivilisierter, feiner, sagt man, aber mich zog es nicht in die gediegene Hansestadt, die man neuerdings wegen des hohen Schnarchfaktors "Bad Hamburg" nannte. Meine Güte, selbst berlinvernarrte Amerikaner - und davon gab es dort nicht wenige - schwärmten von "Freedrickshayn" mit seiner rastlosen Party-Atmosphäre.

Die Aussicht aus meinem Fenster mitten im Boxhagener Viertel ging auf große Bäume und zwei kleine Parks. Ich hatte die Wohnung genommen, weil sie ganz oben und billig war. Es war mein erster Winter in zehn Jahren. Man vergisst in Kalifornien schnell die feuchten, kalten Monate, die hochgezogenen Schultern und nassen Füße. Und die deutschen Menschen.

Dinge des Herzens entscheiden sich ja ohne Umschweife. Und Orte zu erfühlen, ist nicht viel anders als ein erstes Date mit einem attraktiven Mann oder einer Frau, bei dem das Typische und Wesentliche schnell klar wird. Herr Friedrichshain, Vorname Detlef oder Hajo, würde ich tippen, das merkte ich zu spät zum Umkehren, ist schlecht erzogen, trinkt viel Bier und raucht rund um die Uhr. Ansonsten schien Friedrichshain folgendermaßen aufgeteilt zu sein: 3 Friseursalons, 17 Kneipen, 25 Mütter mit Augenbrauen-Piercing, 12 randalierende Säufer, 10 Alternative, 5 übellaunige Rentner, 60 aggressive Radfahrer und 79 kläffende Hunde per Straße. Und ja, 96 Prozent der Bewohner sind unter dreißig. Ich versuchte erstmal, diese schreckliche Entdeckung zu verdrängen, indem ich mich auf die hübsch renovierten Häuser konzentrierte und entwickelte mich zur emsigen Spaziergängerin, die abends durch die Gegend streifte und in die gardinenlosen Fenster guckte. Ganz Friedrichshain hatte anscheinend von "Obi" einen unwiderstehlich hohen Rabatt für die Wandfarbe Terrakotta/Orange gekriegt, und der Anblick war verstörend.

Es gibt ja auch eine negative Vertrautheit, und an die gewöhnte ich mich schnell. Als erstes musste ich die Sprache lernen - nein, nicht Deutsch, Ostberlinerisch. Neben all dem icke, weeßte, wat denn, jehabt und verkooft gab es zwei Worte, die mich heute noch verfolgen: "Tschüssi" und das fröhliche "bis danno".

Nach ein paar Wochen hatte ich einen eigenartigen, hüpfenden Gang entwickelt, ein bisschen wie eine angeschossene Ballerina und mein Blick war immer fest auf die Erde gerichtet. Schüchternheit? Exzentrizität? Nein, nur ein Tanz um die Hundekacke herum. Friedrichshain ist ohne Frage the King of Kot, die Hauptstadt der Hundekacke, die sich um jeden Baum häuft, auf Parkwegen und Wesen lauert, aber auch gerne mitten auf dem Trottoir liegt, da Friedrichshainer Hunde Strolche und Anarchisten sind, ebenso wie ihre Besitzer.

Gewisse Lichtblicke gab es bei Rewe, "meinem" Laden gegenüber. Es ging dort recht freundlich zu, denn die kirschrot gefärbte muntere Mecklenburgerin war voll mit praktischen Tipps. Als ich einmal Kaffee kaufen wollte, empfahl sie mir "Mona" oder "Moccafix". Kannte ich gar nicht. "Also, der ist aus den neuen Bundesländern", klärte sie mich auf und man merkte, dass es ihre Lieblingsmarken waren. Sozusagen als Goodwill-Geste an die neue Heimat kaufte ich "Moccafix", und der schmeckte so schauderhaft, dass ich sofort vor Schreck Mitglied im edlen "Nespresso" Club wurde, denn was Testimonial George Clooney in seinem Chalet nippte, sollte auch am Wismarplatz möglich sein. Trotz der gelegentlichen Herzlichkeit beim Shoppen holte mich aber meist die Realität ein. Während ich an der Kasse stand und mit Interesse solche Delikatessen wie Soljanka und das gesamte Sortiment von "Ja!" im Einkaufswagen vor mir betrachtete, spürte ich einen kräftigen Schmerz, denn der junge Rüpel hinter mir hatte mir seinen Wagen in die Kniekehlen gerammt. Ich schrie auf, er guckte angeödet wegen dieser Belästigung. Eine Entschuldigung erfolgte nicht und ich lernte, dass kleine Blessuren an Füßen, Kniekehlen und Oberschenkeln hier zum "Abenteuer Einkauf" dazugehörten. Die noch viel größere Gefahr kam aber von Zweibeinern auf nur zwei Rädern, und ich glaube, ich spreche für die Mehrheit der arglosen Friedrichshainer Fußgänger, wenn ich behaupte, dass wir alle den wilden Ganoven der Gehwege, die uns nach dem Leben trachteten, rasend gerne die Reifen aufgeschlitzt oder sie anderweitig zu Fall gebracht hätten, so dass für das mindere Fußvolk eine gewisse Sicherheit beim Zeitungsholen gewährleistet war.

Es war inzwischen Frühling, und mein erster Ausflug in den kleinen Park am Boxhagener Platz versprach, beschaulich zu werden. Ich setzte mich auf eine Bank neben den überfüllten Abfalleimer. Die Sonne schien, der Flieder blühte, die Vögel trillerten . Ja, und die Hunde bellten, die Dealer dealten, die Säufer prosteten sich zu, die Arbeitslosen machten Musik, und ich machte, dass ich schnell nach Hause kam. Beim zweiten Versuch setzte ich mich lieber gleich auf den Spielplatz und wurde nun zu ganz anderen Fragen verleitet. Da waren zahlreiche Mütter mit Halbglatze, einem breit gefächerten Sortiment von Metall im Gesicht, sowie einer Zigarette im Mundwinkel, die ihren Kindern im Wagen Dönerstücke oder fettige Fritten in den Mund stopften. Ich habe mir dann überlegt, was kleine Kinder wohl so empfinden, wenn ihre Mütter Nasenringe und Zungenklicker tragen und nur einen Streifen lila Haare auf dem Kopf haben. Dass sie einem anderen Stamm angehören? Kein Wunder, wenn sich die armen kleinen Töchter dieser so wenig weiblichen Freak-Muttis später nichts sehnlicher wünschen, als auszusehen wie die Pussy Cat Dolls.

Der Sonnabendmorgen gehörte immer dem Boxhagener Markt, einer sehr soliden Angelegenheit ohne kulinarische Höhenflüge und schmückende Extras. Es gab sechs teure Bio-Stände mit politisch korrekt aussehendem Gemüse und dazu passenden ultra-alternativen, sehr blassen jungen Leuten mit riesigen jamaikanischen Rastamützen, unter denen wahrscheinlich der Rest der Ernte versteckt war. Sonst gab es nur Ware aus Werder, Wurstbuden und den türkischen Hühnerkönig, 50 Cent der Schenkel. Auch hier die typischen Friedrichshainer Verkaufsgespräche, die an Schmerz so zwischen Zähneziehen und mit dem Kopf hart gegen einen Schrank laufen rangierten.

So hatte ich Aprikosen gekauft, die teuer, aber mehlig und ungenießbar gewesen waren. Ich konfrontierte dann die Marktfrau eine Woche später mit meiner Enttäuschung über die mangelhafte Ware. "Nein", sagte sie unbeugsam. "Das kann nicht sein. Wir haben keine mehligen Aprikosen!" Sie gab mir noch einen geringschätzigen Blick, bevor sie ihren letzten Triumph ausspielte. "Bisher hat sich noch keiner über die Aprikosen beschwert!"

Auch auf dem wöchentlichen Flohmarkt ging es nicht ohne Knirschen in der Kommunikation. Ich sah einen schönen Ring in einem Glaskasten. "Was kostet der?", "Weiß ich doch nicht", sagte die missmutige Verkäuferin. Na ja, ich eben auch nicht. Sie holte ihn widerwillig raus und hielt mir stumm das Preisschild hin. Ich hatte nicht genug Geld dabei. "Wie lange sind Sie noch da?", wagte ich mich weiter vor. "Na, wir müssen och mal nach Hause!" blaffte sie mich an. Letzter Versuch. "Sind Sie nächste Woche auch hier?" Entsetztes Schnorcheln: "Det fehlte noch. Ick arbeite mich hier halbtot, und so viel springt auch nicht raus." Klar, bei der Verkaufstaktik.

Nirgendwo lernt man Land und Leute besser kennen als durch die öffentlichen Verkehrsmittel. Ich hatte mich schon auf die unterhaltsamen Episoden in dem gesamten Berliner Verkehrsnetz gefreut. Und richtig, es gab laute Handy-Klingeltöne, brüllende Kinder, Familienkräche in fremden Sprachen, schmachtende Schmusereien und Schüler, die ohne Protest von Mitreisenden mit Filzstift die Fenster vollschmierten. Ich lernte auch schnell, dass überall gilt, was ursprünglich einmal amerikanisch war: das Faustrecht der Prärie. Wild West Germany. Keiner steht für Schwangere und alte Damen auf, man wird unsanft und wortlos zur Seite geschubst, riesige Tüten bleiben auf Sitzen liegen, auch wenn man sitzen möchte und verzweifelt, aber erfolglos, die Tüten-Anstarr-Taktik probiert. Es bleibt eigentlich nur noch das Rätsel der breitbeinig sitzenden, zwei Plätze einnehmenden Männer dieser Welt zu ergründen, und warum die eingeklemmten Frauen schüchtern die Beine extra eng übereinander schlagen, bis das Blut stockt. Aber das ist sicher ein großes internationales, sexualwissenschaftliches Thema.

"Kevin!", grölte es eines Tages durch den 240er Bus, sächsisch eingefärbt. Kevin, ein dünner sechsjähriger Junge mit einem Ohrring, eingewickelt in Kinderkleidung, die ganz klar von Rapper 50 Cent inspiriert war, aber noch billiger aussah, turnte an der Tür herum. Woher kommt die ostdeutsche Liebe zu Namen wie Kevin? Kevin setzte sich, hampelte herum und flog bei der nächsten Kurve - Ost-Berliner Busfahrer sind Hobby-Sadisten - aus dem Sitz direkt auf den Boden und brüllte. "Siehste!", sagt die Mutter ungerührt und kaute ihren Kaugummi weiter.

Mein Leben ging den Bach runter. Friedrichshain, das ich inzwischen auf F'hain gekürzt hatte, presste meine gute Laune und Lebendigkeit aus mir heraus und überzog mich wie eine Schicht mit leichter Depression. Freunde erhielten bittere Bemerkungen und ein Seufzen, wenn sie mich fragten, wie ich denn Berlin nun als neue Heimat fände. Bald stellte sich das Besucherproblem ein, denn nicht nur meine westdeutschen, sondern auch meine neuen ostdeutschen Freunde wollten nichts mit Friedrichshain zu tun haben. Ich musste mir die raffinierten logistischen Ausreden von Autofahrern anhören, die jede Einladung mit einem aufmunternden "Komm doch einfach zu mir!" (was Charlottenburg, Mitte oder Schöneberg hieß) endeten. Und so wurde ich meine von mir sehr geschätzte Rolle als Gastgeberin los und erlebte stattdessen sehr schmerzlich meine neue Rolle als einsame, emotionell verstörte Friedrichshainerin. Als eine junge Freundin, die in Köpenick aufgewachsen ist, nach ihrem ersten Besuch bei mir erklärte: "Fürchterlich. Hier stimmt die Mischung einfach nicht!", war ich beruhigt, denn ich hatte langsam Angst bekommen, dass vielleicht mit mir etwas nicht stimmen könnte. Ich merkte nämlich, wie ich mich langsam verwandelte, ich kam mir tageweise wie Kafkas Gregor Samsa vor, der aus Mangel an Liebe und Aufmerksamkeit ein Käfer wurde. Ich geriet dann allerdings mehr in die Rolle der einsamen Wölfin und strich, innerlich bereits leicht struppig, durch ein seltsam fremdes Revier und bangte um meine kulturelle Identität, die mir hier zu entgleiten drohte.

Ich entwickelte ein Survival-Programm wie ein Bergsteiger auf einer gefährlichen Mission und versuchte, freundliche Nachbarschaft zu praktizieren und mich mit der "Community" anzufreunden. "Immer schön freundlich, ganz doll lächeln", befahl ich mir, wenn ich die Grünberger Straße runterging, "kill them with kindness", sagt man in Amerika. Niemand schien beeindruckt. Ich stellte mich bei meinen ausschließlich jungen Nachbarn vor - die meisten kamen aus Kreuzberg - und erntete ungläubige Blicke, nur die sehr bunten jungen Hip-Hopper, die in dem Anti-Drogen-Center im Erdgeschoss arbeiteten, erwiesen sich als nette und hilfsbereite Truppe.

Als klassische Schreiberin sitzt man ja gern und viel in Cafés rum, klönt auch mal eine Runde extra, nur um dem Schreibtisch zu entfliehen. Eine der ersten Freundlichkeitsattacken galt dann auch der unterkühlten Besitzerin eines guten kleinen Cafés um die Ecke. Meine störrische Ambition war, ihr unbedingt ein herzliches Lächeln zu entlocken. Ich lobte den Latte und den deutschen Käsekuchen - ein irritierter Seitenblick streifte mich. Sah ich aus wie eine Spionin? Nein, ich machte zu viel Wind, denn ich hatte die paffenden Nikotinpiraten, die uns zirka drei Nichtrauchern in ganz F'hain Leben und Luft verpesteten, mal wieder gebeten, die Zigarette ein wenig anders zu halten. Das traf natürlich immer auf kalte Ablehnung und provozierte absurde Vorträge über Demokratie, Selbstentfaltung und das Recht auf Lungenkrebs. Ich fühlte sehr stark, dass ich einfach nicht dazu gehörte. Da war es wieder, das Grenzgänger-Syndrom, aber es hatte längst nichts mehr mit Ost und West zu tun. Und so wurde ich langsam zur Frau vom Mars, auffallend mit meinen amerikanischen Vintage-Klamotten und gleichzeitig unsichtbar, weil weit über vierzig.

Tschüssi Friedrichshain, bis danno!
Flucht aus der neuen Heimat. Die Geschichte eines Irrtums
Sabine Reichel
(Fortsetzung des Artikels - Teil 2 von 2)

Wie ich eine Stadt sehe, wusste ich ja - aber wie sieht sie DICH? Bist du der Eindringling, wirst lediglich geduldet? Wird man je warm umarmt werden? Träumt weiter, sentimentale Fremdlinge! Berlin biedert sich nicht an, eigentlich sagt man das auch über Hamburg, die kühle Perle des Nordens. Berlin ist einfach da - fordernd, gleichzeitig gleichgültig, wie ein proletiger, ungewaschener Teenager, dem es wurscht ist, wie es dir geht. Es war so lange gebeutelt, ignoriert, ironisiert, unterschätzt, überfordert, eingeengt, missverstanden und belächelt, dass nur noch Egomanie und Scheuklappen eine verlässliche Identität vortäuschen können.
Bis zum Sommer hatte ich mich an die laute Musik, die Hunde, die klappernden Bierflaschen und die im kleinen Park gegenüber bis spät in die Nacht laut palavernden Nervensägen gewöhnt. "Ohropax" gewann mich als eine freudige und feste Kundin, aber der rasche Verfall meiner Lebensfreude war nicht mehr aufzuhalten, der erste Schmelz des Exotischen längst einem dumpfen Hass auf alle Prolls und Penner gewichen, durchsetzt von meinen billigen Scharfschützen- und Frustkiller-Fantasien à la Hollywood. Dazu passten die Zeitungsmeldungen aus dem Osten. Da war das alkoholisierte Paar, das sich kurz vor Weihnachten auf der Station Bellevue gegenseitig auf die S-Bahngleise schubste und dort verschied. Woher sie kamen? Aus F'hain. Dann gab es die Handtaschenraub-Serie in Treptow, wo zwei Radfahrer den Frauen im Vorbeifahren die Taschen entrissen. Von den Kindesmisshandlungen wollen wir nicht erst anfangen.

Irgendwann fing dann der Fluchtgedanke an. Vielleicht, als ich mich dabei ertappte, dass ich immer stärker hamburgisch sprach, meine Freundinnen mit "min Deern" titulierte, "Moin" zu den Rewe-Damen sagte und auf das Schreckenswort Tschüssi "n' scheunen Tach noch" schmetterte, oder unvermittelt im Boxhagener Park geradezu trotzig das uralte plattdeutsche Kinderlied "An de Eck steiht 'n Jung mit'n Tüdelband" vor mich hin sang, während ich geschickt über die Hundehaufen sprang. Meine Mutter, die in Hamburg wohnt, wunderte sich über meine häufigen Besuche, die ich hinterlistig als "zufällig" hinstellte.

Oh, die Welt war schön in Hamburg. Der Hafen, die Speicherstadt, die Alsterdampfer und der Fischmarkt. Unglück verschärft Nostalgie und setzt eine ganz bestimmte Sehnsucht, die aus lauter kleinen verführerisch schimmernden Bausteinen besteht, frei. Natürlich wusste ich, dass die Frankfurter Allee wenig gemeinsam mit dem Sunset Boulevard hat, aber dass der spießige Hamburger Jungfernstieg wie ein glitzerndes Kleinod gegen diese trübe, laute Straße war, kam doch als Überraschung. Die Sonne strich sanft durch die Torbögen der Alsterarkaden, die Möwen schrien, die Omas sahen aus wie Königin Elizabeth, gepresste Kaltwelle, fein und gediegen. Und zum ersten Mal erschienen mir Perlenketten und Dufflecoats wie eine wunderschöne, lange vermisste friedliche Sicht, die Harmonie und Tradition verströmte. Frauen meines Alters waren schick, souverän und schmal, Männer hatten graue Schläfen und Ski-Urlaubsbräune. Vielleicht waren ein paar zu viele Mini Cooper auf der Straße und reiche Gattinnen mit Schultertuch und Kelly-Bags im Alsterhaus, aber nach dieser täglichen Diät von garstigen Tchibo-Blousons, Nasenringen und mit Taschen übersäten Horrorhosen, fand ich selbst Opas mit Elbsegler auf dem Kopf wunderbar eigen. Der Celebrity Faktor war in Hamburg nicht so hoch, Hans Albers war tot und Klaus Störtebeker auch, aber Jan Delay war doch süß und Christian Ulmen war doch auch Hamburger, selbst Tim Mälzer hatte plötzlich etwas Pfiffiges an sich, wie er Matjes und Büsumer Krabben mit norddeutscher Robustheit traktierte.
Dass man aus einem Bezirk, dem es an Charme und Intellekt fehlt, kein Greenwich Village oder Quartier Latin fabrizieren kann, nur weil ein paar weiße, pickelige Jungs mit verfilzten Rasta-Locken und hängenden Klamotten wie Komparsen "cool" durch die bunt bemalten Kulissen laufen, sieht man an Friedrichshain. Ich hatte Friedrichshain nach zwei Jahren endlich durchschaut. F steht für Fake! Es ist wie ein viel zu schnell zusammengeschludertes generisches Produkt, an dem Ost und West gleichermaßen gearbeitet haben. Und wenn man genau hinguckt, gibt es solche seelenlosen Orte aus der Retorte überall in den europäischen Großstädten. Vielleicht hatte Friedrichshain sogar in seinen alten Tagen mehr Charakter und Authentizität. So aber ist es weder originell noch hipp noch echt alternativ. Es ist einfach öde, gewöhnlich und so stillos aufgetakelt wie ein Kellerkind, das an Geld gekommen ist, aber sein anonymes Profil nicht los wird.

Wie beliebig Friedrichshain wirklich ist, merkte man am Bahnhof Warschauer Straße, der wie ein Sammelplatz für alles Junge und Vergnügungssüchtige von Überall schien. Jeden Abend marschierten die Massen wie auf einem riesigen Treck auf der Flucht über die Brücke in Richtung Simon-Dach-Straße. Ich fädelte mich dann in den Strom ein und lief mit wie ein Lemming, aber nach einer Zeit nahm ich einen Umweg, nur um mir Exklusivität vorzugaukeln. Ich wollte nicht dazugehören.

Irgendwann ging ich spätabends hinter einer Gruppe von jungen Leuten nach Hause. Die Mädchen waren in Schwarz, mit Netzstrümpfen, Stiefeln, Schnallen überall, die Jungs schlaksig, mit Gel-Haarspitzen und Riesenhosen unterhalb der Po-Ritze. Sie lachten, rauchten, die Mädchen kreischten. Eigentlich ganz normale junge Menschen, die einfach versuchen, einen Ort der Selbstbestimmung zu finden, auch wenn es Friedrichshain war. Und plötzlich sah ich mich vor 30 Jahren durch das damals gefährliche und verrottete New Yorker East Village düsen, glücklich und unter Meinesgleichen. Die Rituale der Jugend sind immer noch dieselben. Und dann dämmerte mir, dass ich ein anderes Ritual versäumt hatte und es versetzte mich kurz in Schrecken. Ich, der eigentlich ewige Hippie, die Systemkritikerin, immer noch verkabelt mit einer gewissen Szene, war alt und erwachsen geworden. Das innere Establishment, Feind meiner aufrührerischen Jugend, hatte Besitz von mir ergriffen. Oh mein Gott! Ich hatte einen alarmierenden Grad von Angepasstheit und Normalität erreicht, denn ich wollte absolut nichts mehr mit Hundescheiße, Tatoos und Piercings, torkelnden, zahnlosen Hartz-IV-Empfängern, paffenden Müttern mit rasierten Köpfen und alten, übellaunigen DDR-Bürgern mit verkniffenen Lippen zu tun haben. Ich wollte gutaussehende, schick angezogene Menschen mit Stil, Witz und Bildung um mich sehen, elegante Gebäude, gepflegte Parks mit britischem Charme, gut erzogene Scotch Terrier mit karierter Schleife, hübsche, artige Kinder - kurz und gut - Bourgeoiseville. Hamburg sah plötzlich perfekt aus.

Ich bin dann nach Hamburg gezogen, vielleicht auch, weil alle Welt nach Berlin will - da muss man doch so einem hübschen Städtchen die Stange halten.
Die eine Frage blieb bestehen. Gilt die erste Liebe unauslöschlich dem Ort, wo die Wiege stand und das erste Fahrrad, wo gespielt, gesegelt und Lollies gelutscht wurden, wo es den ersten Kuss gab und den letzten Schultag? Immerhin hatte ich hier im "Star-Club" zwar knapp die Beatles verpasst, aber Jimi Hendrix live gesehen, bin gegen den Vietnam-Krieg marschiert und habe rasende Reporterin bei einer Tageszeitung gespielt. Sind wir also durchprogrammiert und konditioniert, oder gibt es wirklich Orte und Landschaften, die ja auch emotionelle Landkarten sind, die einem grundsätzlich gegen den Strich gehen? Vielleicht war ich nie wirklich dafür vorbereitet gewesen, in so einem Jahrmarkt-Ort wie F'hain zu leben. Oder Neugierde und Toleranz lassen ab einem bestimmten Alter ganz einfach nach.

Eine Woche bevor ich aus Friedrichshain verschwand, war besonders schönes Wetter, kein Säufer weit und breit, der Busfahrer hatte ein winziges Lächeln parat, und die Verkäuferin bei Rewe sagte: "Schade, dass Sie wegziehen!" "Ja, schade", log ich. "Na denn Tschüssi!" rief sie mir nach. Es dauerte keine drei Wochen, bis mich eine Verkäuferin in Hamburg bei "Budnikowsky" mit eben diesem Wort verabschiedete. Ich sollte wohl nicht so einfach davonkommen.
Berliner Zeitung, 14.04.2007

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