Knaller an der Zeitungsfront

Saturday, November 08, 2008

Das kann ja wohl nur ein Witz sein“ (Tagesspiegel)

„Das kann ja wohl nur ein Witz sein“
Schauspieler Axel Prahl über Peter Sodann als Bundespräsident, Humor im „Tatort“ und Ekel Alfred
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8.11.2008 0:00 Uhr
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Herr Prahl, am Donnerstag haben Sie im „Großen Tatort-Quiz mit Jörg Pilawa“ auf dem Ratestuhl gesessen. Man sieht Sie sonst selten in Quiz- und Talkshows.Ich bin da auch grundsätzlich nicht. Nicht so gerne jedenfalls. Sendungen wie „Clever“, die im Fernsehen Wissen vermitteln, das ist interessant. Talkshows sind in der Regel Verkaufsveranstaltungen. Das „Tatort“-Format hat es aber verdient, in der Form gewürdigt zu werden.Der „Tatort“ „Wolfsstunde“ am Sonntag muss gar nicht groß verkauft werden. Ein eindringlicher Thriller über Sexualmorde und männliche Machtfantasien, weniger burlesk wie sonst der „Tatort“ aus Münster. Ihr Hauptkommissar Frank Thiel zeigt sich von einer ziemlich sensiblen Seite. Fühlen Sie sich in dieser Rolle wohler?Durchaus. Anfangs waren wir skeptisch, ob die Geschichte für unser Format das Richtige sei. Vergewaltigung ist ein heftiges Thema. Der Humor ist bei der Bearbeitung aber nicht gänzlich unter den Tisch gefallen. Ich finde, wir haben da zum ersten Mal einen richtig guten Fall. Das ist ja das, was uns meistens in der Kritik vorgeworfen wird: dass unsere Fälle ein bisschen konstruiert sind.Der Kifferpapa, die zwergenwüchsige Pathologin mit Spitznamen „Alberich“ – das Burleske oder Konstruierte ist beim Münsteraner „Tatort“ zum Markenzeichen geworden. Wie weit kann man das treiben?Das Geheimrezept der Unterhaltung ist immer die Überraschung. Insofern sollte man sich nie in eine Richtung komplett verschreiben. Ich bin mal ganz froh, dass wir jetzt diesen ernsthaften Thriller gemacht haben.Fans von Frank Thiel und Professor Boerne alias Jan Josef Liefers vielleicht nicht.Weil sie einen gewissen Humoranteil einfordern? Abwarten. Ich würde mir für den Münsteraner „Tatort“ schon weitere Experimente wünschen.Die Grundidee mit der ungewöhnlichen Portion Humor, schrägen Ermittlercharakteren und Plots im Münsteraner „Tatort“ wird von Ihnen getragen?Sicher. „Tatort“ ist nun mal einfach … Unterhaltung. Der US-Krimi „Columbo“ war ein Riesenerfolg. Da könnte man in Sachen Ermittlungsmethoden und Sozialkritik auch viele Fragen stellen. Diese vermeintliche sozialkritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart würde ich beim „Tatort“ dann doch eher in Anführungsstrichen sehen. Ist die Kleinstadt Münster eigentlich ein guter Ort für einen Krimi, besser als Köln, Hamburg oder München?Kein schlechterer zumindest. Schauen Sie sich die tollen skandinavischen Krimis an. Kommissar Beck, diese ganzen Sozialstudien, die spielen meistens in der Provinz.Auch in Hamburg wird versucht, mit dem verdeckten Ermittler Mehmet Kurtulus die seit 40 Jahren eingefahrenen Grenzen des ARD-Krimis neu abzustecken, ähnlich wie in Münster. Ich habe den neuen NDR-„Tatort“ leider nicht sehen können. Das werde ich aber garantiert nachholen. Viele Kollegen waren sehr angetan.Das sollten Sie tun. Kurtulus alias Cenk Batu ist ähnlich wortkarg wie Ihr muffiger Kommissar. Wie viel Axel Prahl steckt eigentlich im Griesgram Frank Thiel? Man hat direkt Angst vor Interviews mit Ihnen.Eine meiner Lieblingsserien war „Ein Herz und eine Seele“ mit Ekel Alfred, Heinz Schubert. Solche Figuren sehe ich selten in der deutschen Fernsehlandschaft: der griesgrämige Muffel, der sein Herz auf dem rechten Flecken trägt. Und der Thiel ist beim Publikum durchaus wohlgelitten. Ich wollte den einfach nicht immer freundlich grinsend oder jugendlich-tough schimanskihaft spielen.Das breite Publikum scheint aber schon Schwierigkeiten mit Ihnen zu haben. Wieso?Wenn der Bundespräsident aus der Reihe der TV-Kommissare gewählt würde, könnten sich laut Umfrage nur zwei Prozent der Zuschauer Axel Prahl als Bundespräsidenten vorstellen. Vorne liegt Maria Furtwängler, vor Peter Sodann.Ich würde sagen, laut dieser Statistik habe ich doch wohl anscheinend was richtig gemacht. Sind Sie nicht neidisch auf Ihren Ex-„Tatort“-Kollegen Peter Sodann?Diese Debatte um Sodann, der Bundespräsident werden will, finde ich äußerst fragwürdig. Dass jemand, der niemals Politik studiert hat, seinen Namen für diese Kandidatur hergibt – das kann ja wohl nur ein Witz sein. Es markiert eher den Stellenwert, wo Politik heute gelandet ist: in einer reinen Medienveranstaltung.Haben Sie das Herrn Sodann gesagt?Wir sind uns diesbezüglich leider noch nie begegnet. Okay, man kann Verantwortung übernehmen, auch politische Verantwortung. Aber das sollte man doch in einem angemessenen Rahmen tun, meinetwegen als Ortsteilbürgermeister von Dresden, aber nicht als Amtsträger für die Bundesrepublik. Sie hätten sowieso keine Zeit für eine Kandidatur, drehen einen Film nach dem anderen. Wie lange wollen Sie den Kommissar Thiel im Team mit dem nervigen Professor Boerne überhaupt noch spielen?Puuh, das ist von so vielen Faktoren abhängig. Mal sehen, was den Autoren noch so alles einfällt.Und ohne Boerne, ohne Jan Josef Liefers?Gar nicht mehr.Das Gespräch führte Markus Ehrenberg.(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 08.11.2008)

Tuesday, October 14, 2008

Müllbananen gegen das Kapital (FAZ)

"Freeganer“ in Amerika
Müllbananen gegen das Kapital
Von Katja Gelinsky, Washington

10. September 2006
Adam Weissman ernährt sich aus der Mülltonne. Nicht etwa, weil Not ihn dazu zwingt. Nein, für den jungen Mann ist nur diese ressourcenschonende Art der Nahrungsmittelbeschaffung ethisch vertretbar. „Städtische Futtersuche“ nennen der 28 Jahre alte Amerikaner und seine Gesinnungsgenossen diese Praxis. Im Volksmund nennt man das seltsame obby auch „dumpster diving“ - „Müllcontainertauchen“. Niemand weiß genau, wie viele konsumkritische Futtersucher und Müllcontainertaucher in New York und anderen Metropolen auf Hinterhöfen von Lebensmittelgeschäften und Restaurants nach Eßbarem stöbern. Aber sicher ist, daß es mehr werden.

Einschlägige Internetseiten wie „dumpsterworld.com“ und „dumpsterdiving.net“ verzeichnen einige tausend Einträge. „Wir haben den Eindruck, daß es mehr und mehr Fälle gibt“, heißt es bei amerikanischen Lebensmittelketten mit ökologischem Anspruch wie „Whole Foods Market“, die ein beliebtes Ziel von Abfallstöberern ist. Reges Interesse gibt es auch an den „Trash Tours“ (Mülltouren), die Adam Weissman und andere Aktivisten der radikallinken New Yorker Initiative „Freegan.info“ einmal in der Woche anbieten. Meist kämen 20 bis 25 Teilnehmer, sagt Weissman.

Freeganismus, Guerilla Gardening und Squatting

In der Lehrstunde zur Wegwerfgesellschaft wird zum Beispiel auf Statistiken der amerikanischen Regierung verwiesen, nach denen in den Vereinigten Staaten jedes Jahr ein Viertel aller zubereiteten Mahlzeiten im Abfall landen - mehr als vier Millionen Tonnen. Am Beispiel einer Banane, die Freeganer aus dem Müll eines Lebensmittelgeschäfts klauben, fächern sie dann ihre Kritik am globalen Wirtschaftssystem auf: Umweltzerstörung, Ausbeutung von Arbeitskraft, Armut, Krieg. Dagegen hilft nach Überzeugung der Freeganer nur ein möglichst umfassender Boykott der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

Die Wortschöpfung Freeganismus verbindet den Anspruch, frei zu sein (“free“) und die Ausbeutung von Tieren zu vermeiden (“vegan“). Das Müllcontainertauchen ist für überzeugte Freeganer nur eine von vielen Methoden, ihre Idee von Umweltschutz und sozialer Verantwortung zu verwirklichen. Die Palette reicht von Reparaturlehrgängen und unbezahlten Diensten für sozial Schwache bis zu illegalen Praktiken wie „Guerilla Gardening“ - der Verwandlung urbaner Ödflächen in Gärten - und „Squatting“ - der Besetzung leerstehender Häuser, um sie für soziale Zwecke nutzbar zu machen.

Von der Gemüsetheke in die Tasche des Abfallstöberers

Adam Weissman bezeichnet sich denn auch als „revolutionären Antikapitalisten“. Aber längst nicht alle Müllcontainertaucher teilten seine politischen Überzeugungen. Im übrigen lebt Weissman, der sein Geld mit Gelegenheitsjobs bei Bürgerrechts- und Umweltschutzorganisationen verdient, bürgerlicher, als man vermuten könnte. Er wohnt bei seinem Vater und seinen Großeltern in Teaneck in einem Vorort Gutverdienender unweit von Manhattan. Der Vater ist Kinderarzt, und jede Generation bewohnt ihre eigene Etage.
Weissman dürfte zu den Pionieren der „Dumpster Diver“ gehören. Seit fast zwölf Jahren ernährt er sich aus Abfalltüten und Abfallcontainern. Ekel empfindet er dabei nicht. Viele Nahrungsmittel seien noch in Ordnung und landeten nur deshalb auf dem Abfall, um Platz für neue, frische Ware zu schaffen. Außerdem seien die „Dumpster Diver“ schnell zur Stelle. Es sei nur eine Sache von Stunden, bis eine Zucchini von der Gemüsetheke im Geschäft in die Tasche eines Abfallstöberers wandere. Gestank und Ungeziefer machen den Müllcontainertauchern angeblich nicht zu schaffen.

Nur eine einzige Ratte in all den Jahren

Oft rieche es sogar richtig gut, „nach Früchten, Gemüse und Blumen“. Und Ratten? Eine einzige habe er in all den Jahren vorbeihuschen sehen, sagt Adam Weissman. Michael Greger, ein amerikanischer Mediziner und Ernährungsfachmann, der sich auf populärwissenschaftliche Bücher und Vorträge spezialisiert hat, sieht auch keine gesundheitlichen Gefahren, solange Mülltaucher nicht zu Risikogruppen für Lebensmittelvergiftungen gehörten und einige Vorsichtsmaßnahmen beachteten.

Zum Beispiel sollten sie darauf verzichten, Fleisch, Fisch und Eier aus der Mülltonne zuzubereiten. Andere Fachleute dagegen sagen, alles Eßbare, das im Abfall gelandet sei, solle zur Vermeidung gesundheitlicher Risiken auch dort bleiben. Sprecher von Supermarktketten wie „Whole Foods Market“ weisen außerdem darauf hin, daß Nahrungsmittel, die für den menschlichen Verzehr noch geeignet erschienen, nicht weggeworfen, sondern an Suppenküchen und Obdachlosenunterkünfte geliefert würden.

Abwehrmaßnahmen der amerikanischen Supermärkte

Dies genügt manchen Mülltauchern aber nicht. In Washington, zum Beispiel, durchforsten Mitglieder der radikallinken Bewegung „Food not Bombs“ (“Essen statt Bomben“) Müllcontainer nach Gemüse und Obst, um daraus vegetarische Mahlzeiten für Bedürftige zuzubereiten.
Manche amerikanischen Supermärkte haben mittlerweile Abwehrmaßnahmen gegen Mülltaucher getroffen, nicht zuletzt da sie Gerichtsprozesse befürchten, falls doch einmal jemand krank wird. So wurden Zäune gezogen oder offene Container durch geschlossene ersetzt. Ferner haben einige Gemeinden Verbote erlassen. Aber Ärger mit der Polizei hat Adam Weissman noch nie gehabt. Die New Yorker Polizei habe Wichtigeres zu tun, als sich um Mülltaucher zu kümmern.
Text: F.A.Z.Bildmaterial: REUTERS

In den Mülleimern des Kapitalismus (FAZ)

Containerer
In den Mülleimern des Kapitalismus
Von Jochen Stahnke
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Hauke wühlt nachts in Abfalltonnen, um nach Lebensmitteln zu suchen

13. Oktober 2008 Ausgerechnet Butter zieht Hauke aus dem Müllcontainer des Famila-Supermarktes. „Das ist doch hochsymbolisch in Zeiten der Finanzkrise!“ Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist nicht überschritten, die Verpackung einwandfrei. Trotzdem liegt sie im Abfall. „Wahrscheinlich haben sie keinen Platz mehr gehabt, die einzusortieren“, vermutet der 24 Jahre alte Aktivist. Ein bis zweimal die Woche wühlt Hauke im Müll. Nicht, weil er muss, sondern aus Überzeugung. Zehn Pakete Kräuterbutter liegen schon mal in seinem Korb.
Hauke stammt aus einer Bauernfamilie. Für ihn stehen Lebensmittel noch in unmittelbarem Bezug zum Produzieren und Ernten. Ein bis zwei Mal in der Woche zieht er mit seinen Mitstreitern los, um zu „containern“, wie sie es nennen. Das Ziel: sich vollständig aus dem Müll von Supermärkten, Warenhäusern oder Baumärkten zu versorgen.

Hauke möchte alternativ leben

Bad Oldesloe ist kein sozialer Brennpunkt, hier herrscht kein Großstadtelend. „Die Metropolenkiddies“, sagt Hauke, mit denen möchte er sich nicht identifizieren. Um wohlfeilen Protest geht es ihm nicht. Er möchte alternativ leben, er möchte sich aus dem Kapitalismus ausklinken, so weit es geht. Geld benötigt er kaum. 100 bis 150 Euro verdiene er im Monat durch Referententätigkeit auf linken Veranstaltungen. „Das reicht dicke.“ Hartz IV bekommt er nicht. „Das wäre auch viel zu anstrengend, es zu beantragen.“ Ein Jahr lang hat er mal bei Greenpeace gearbeitet.

Bad Oldesloe ist eine Schlafstadt für Menschen, die im 50 Kilometer entfernten Hamburg arbeiten. FDP und Grüne haben hier 15 Prozent, die Linke ist nicht vertreten. Ideal, um in Ruhe gelassen zu werden. Aus dem Ruhrpott, aus Berlin, aus Hannover sind sie nach Bad Oldesloe gezogen. Kennengelernt haben sich die Mitglieder der Wohngemeinschaft bei gemeinsamen Aktionen wie etwa dem Protest gegen den G8-Gipfel.

Zum Thema
„Freeganer“ in Amerika: Müllbananen gegen das Kapital
Bad Oldesloe zieht die Gardinen zu
Sie gehen systematisch vor. Heute ist der äußere Ring von Bad Oldesloe dran. Das Industriegebiet und die drei großen Supermärkte Lidl, Aldi und Famila. So zwischen acht und 26 Menschen leben in der Kommune, sagt Hauke. Meist gehen sie in einer größeren Gruppe los. Heute bleiben schlussendlich zwei dabei. Die Presse ist bei den meisten unerwünscht.
Eine Höhlenlampe um die Schirmmütze, Handschuhe mit der Aufschrift der örtlichen Sparkasse, Lebensmittelkörbe und ein Fahrrad mit großem Anhänger - Hauke ist ausgerüstet. Um kurz nach zehn Uhr geht es los. Die Kunden sind längst gegangen und die Angestellten im Feierabend. Bad Oldesloe zieht die Gardinen zu und schaut fern.

Nach zehn Minuten ist der erste Korb voll

Die erste Station ist der Lidl-Supermarkt in einer gottverlassenen Gegend in der Nähe einer Schnellstraße. Vier große Container und drei kleine Mülltonnen stehen am Ende der Verladerampe. Ein Bewegungsmelder springt an. Neonlicht erhellt den tristen Hinterhof. Geübt wiegt Hauke diverse Paprika, Avocados und eine Melone in der Hand hin und her. Eine Mitstreiterin hält ihre Taschenlampe in den Container. Einiges wird zurückgeworfen, vieles wandert in den Plastikkorb im Fahrradanhänger.

Nach kaum zehn Minuten ist der erste Korb voll. Das Gemüse im Korb sieht aus wie gerade eingekauft. „Es ist doch so“, erklärt Hauke, „nur weil auf irgendwelchen Plantagen Arbeiter ausgebeutet werden, lohnt es sich, das hier wegzuschmeißen.“ Manchmal, sagt Hauke, gehen sie auch in Supermärkte und zeigen alten Frauen, die mutmaßlich schon zu Kriegszeiten gelebt haben, Kohlköpfe, die sie im Abfall gefunden haben. „Da geht manch eine Frau zum Marktleiter und macht den dann zur Sau.“

Auch Kaviar lässt sich finden
Den Unterschied zwischen Warenwert und Nutzwert erklärt Hauke anhand einer Flasche Malzbier. So, wie sie dort mit abgerissener Hülle liegt, habe sie keinen Warenwert mehr. Der Nutzwert allerdings sei der gleiche. Trotzdem werde das Malzbier aus dem Wirtschaftskreislauf genommen.

Je edler der Lebensmittelhändler, desto schmackhafter der Abfall. Bei Famila lässt sich ab und an Kaviar finden - im vergangenen Jahr allein sechs Paletten zu je 10 Gläsern. Das Mindesthaltbarkeitsdatum lief bald ab. „Aber bei eingelegter Ware ist das doch lächerlich!“

Das Entwenden von Abfall ist Diebstahl

Heute riecht der Container, in dem der Schatz gefunden wurde, nach gammeligem Fleisch. Es stinkt bestialisch. Zu sehen sind Kleider und eine ausgebeulte Sporttasche. „Hier mal ein Baby zu finden, das ist mein größter Albtraum“, murmelt Hauke. Wie er es sagt, hält er kurz inne, zieht die Tasche dann aber routiniert aus dem Müllcontainer. Gebügelte T-Shirts und Pullover kommen zum Vorschein. Und Briefe, darunter ein Strafbescheid wegen Fahrerflucht.
Plötzlich ein Mann mit Hund, möglicherweise Wachpersonal. Jetzt heißt es ruhig bleiben und nicht den Eindruck erwecken, man sei ein Einbrecher. Denn auch das Entwenden von Abfall ist Diebstahl. In Köln wurde dafür 2004 eine Aktivisitin angeklagt und gegen Ableistung von Sozialstunden freigesprochen. Doch der Mann ist allein und will wohl nicht eingreifen. Er tut, als sei er nicht da und schleicht leise von dannen.

Einige treibt die Not zum Containern

Etwa 3000 Menschen containern in Deutschland, vermutet Hauke, der gut vernetzt ist in der Szene. Einige treibt auch die Not zum Containern. Selbst in einer Stadt wie Bad Oldesloe. Ein alter Mann containert zwei Mal die Woche für sich und seinen Hund, nachts, damit niemand den Hartz-IV-Empfänger auf seinem Mofa sieht. Es ist ihm peinlich. Mit Hauke und seinen Kumpels möchte er nichts zu tun haben. Und mit den Tafeln, die Bedürftige versorgen, auch nicht.
„Wir unterstützen das absolut nicht“, sagt Anke Assig vom Bundesverband der Tafeln in Deutschland. „Containern ist hochgradig gesundheitsschädlich.“ Niemand müsse in Deutschland hungern. Mittlerweile gibt es fast 800 Tafeln, die gegen einen symbolischen Obolus Nahrung an Bedürftige verteilen. Vor drei Jahren hat der Verband eine Schätzung durchführen lassen. So haben die deutschen Supermärkte etwa 100.000 Tonnen Lebensmittel gespendet. Bloß Aldi Nord, sagt Assig, beteilige sich daran nicht.

Gemüse im Müll

„Bei Aldi gibt es Gemüse im Müll“, sagt Hauke, „das ist genau so gut wie im Laden selbst.“ Lebensmittel habe er seit einem Jahr nicht mehr eingekauft. Jede bloß rudimentär eingedellte Paprika, jede kaum eingerissene Käsepackung im Mülleimer - für Hauke ein Fanal wider Verschwendung und Kapitalismus.

Heute liegt auch ein Produzent für Krankenhausbedarf auf dem Weg. Eine Mitstreiterin öffnet einen großen Container, fast fällt eine Matratze hinaus. Niemand hat dafür Bedarf, Hauke schläft bereits auf zwei Matratzen übereinander. Sie finden noch ein Sauerstoffzelt und nehmen es mit. Die Ausbeute ist heute durchschnittlich: Obst und Gemüse für alle, Kräuterbutter für den Rest des Jahres, 30 Törtchen, zehn haltbare Schachteln mit Grillkartoffeln. Nur keine Schokolade. Kurz nach Weihnachten wird es wieder soweit sein. Wenn zum 1. Januar wieder tonnenweise Weihnachtsmänner aus den Regalen genommen werden, dann hat das System keinen Schaden genommen.
Text: F.A.Z.Bildmaterial: Jesco Denzel

Ein Gesang aus der Hölle (Frankfurter Rundschau)

"Terror und Traum"
Ein Gesang aus der Hölle
VON ARNO WIDMANN

Mehr als achthundert engbedruckte Seiten hat Karl Schlögels Buch "Terror und Traum". Es ist ein Gang durchs Moskau des Jahres 1937 in dreiunddreißig, also kleinen Kapiteln. Das gibt dem Buch, dessen erklärtes Ziel es ist, sich jeder eindimensionalen Erklärung durch die Ausbreitung der unterschiedlichsten Moskauer Aktualitäten des Jahres 1937 entgegenzustellen, eine verblüffende Transparenz. Der Umfang muss Niemanden schrecken. Das Buch türmt sich nicht mit einer gewaltigen Erzählung vor dem Leser auf, sondern es besteht aus dreiunddreißig Novellen. Vielleicht auch Gesänge. Vielleicht hat Schlögel - der Verdacht drängt sich bei soviel kompositorischer Reflexion auf - an Dantes "Commedia" gedacht, deren drei Bücher - Hölle, Fegefeuer, Paradies - auch aus jeweils dreiunddreißig Gesängen bestehen.


Schlögels Moskau von 1937 wäre ein Gesang aus der und über die Hölle. Aber eine Hölle, das macht Schlögel klar, in der das ganz normale Leben weitergeht. Freilich so verflochten mit dem sich entfaltenden Terror des Regimes, dass dieser selbst in die intimsten Wünsche eindringt und sie sich zu eigen macht.

Karl Schlögel ist ein Meister des Grundakkords. Hier ist es der im Titel genannte Zusammenklang von Terror und Traum, von Utopie und Gewalt, von Menschheitsbeglückung durch Menschenvernichtung. Das ist der basso continuo der achthundert Seiten. Nicht zu schaffen wäre das für ältere, empfindlicher gewordene Nerven, also auch nicht für die des Autors. Also interessiert er sich für die gegenläufigen Motive ebenso sehr. Er versucht uns klarzumachen, dass auch in einer Welt, in der jeder damit rechnen musste, dass morgens die Herren in den Gummimänteln an seine Tür klopften und er in den Gulag verschleppt oder erschossen wurde, die Menschen davon träumten, zu begehren und begehrt zu werden, dass Liebesgedichte auch mitten im Terror Menschen zu Tränen rühren können.

Das Puschkin-Jubiläum vom 10. Februar 1937 installiert - nicht einmal einen Monat nach dem zweiten Moskauer Schauprozess - ein sozialistisch-sowjetisches Innenleben, das nur schwer zu unterscheiden ist von der traditionellen Puschkinbegeisterung. Das und nicht die auch auszumachenden Differenzen sind die eigentliche Pointe dieser Montage der stalinistischen Ingenieure der Seele. Der Terror, der an einem verübt wird und den man selber verübt, wird leichter erträglich, wenn man sein Innerstes mit einer Samthaut versieht, die einem ein schönes Gefühl gibt. Auch das ist eine Aufgabe der Literatur.

Schlögels Buch ist das Buch eines Historikers. Er hat die Quellen genau studiert. Es ist aber auch das Buch eines Erzählers, eines Mannes also, der die Quellen hat auf sich wirken lassen, damit sie auf uns wirken. Nach der Lektüre von "Terror und Traum" wissen wir deutlich mehr über den Stalinismus als vor der Lektüre. Wir sind klüger geworden. Vor allem aber sind wir empfindlicher geworden. Wir spüren in manchen Passagen wie die stalinistischen Texte durch Schlögels Reflexionen hindurchschlagen. Wir bekommen eine Ahnung von der Faszination, die der Wille, die Welt, die ganze Welt und den ganzen Menschen zu ändern, für Schlögel, aber auch für viele von uns - seinen Lesern - hat.

Wenn Schlögel vom "integralen Zugriff" der stalinistischen Planung auf das neu zu schaffende Moskau spricht, dann hat der Leser noch im Ohr, wie wichtig es ihm in seinen Vorbemerkungen war, dass die Vielfalt des ganzen Geschehens des Jahres 1937 verstanden wird. Der Erzähler ist dem alles überblickenden Gott ebenso nahe wie dem zentralistischen Planer, bei dem alle Daten einer Gesellschaft zusammenlaufen. Das weiß Schlögel. Darum hat er die eine große Erzählung, in die er immer wieder gerät, zerpfählt in die dreiunddreißig Novellen aus dem Moskau der Pest der Verleumdung und des Terrors. Er verzichtet so auf den Traum des einen alles umfassenden Blickes zugunsten einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven.

Jedes einzelne seiner Kapitel aber spielt mit dem Grundmotiv von Terror und Traum. Die Nichtveröffentlichung der Daten der Volkszählung vom 6. Januar 1937 gehört ebenso zu diesem Jahr wie die Tatsache, dass dem Moskauer Adressbuch von 1936 kein neues folgte. Man liest das und beginnt eine Ahnung davon zu bekommen, welche Kraft Gorbatschows Begriff "Glasnost" entfalten musste in einer Welt, in der alle Daten über die soziale Realität Geheimwissen waren. Eine solche Gesellschaft ist nicht reparaturfähig.

Karl Schlögel zitiert immer wieder sowjetische Zahlen, er berauscht sich und den Leser an den ungeheuren Umwälzungen jener Jahre. Leider gibt es kein Kapitel, in dem erklärt würde, wie wir diese Zahlen zu verstehen, zu lesen haben. Sie waren schließlich von Anfang an vor allem Propaganda.

Schlögel macht klar, wie viel Vernichtung der so frenetisch gefeierte Neu-Aufbau voraussetzte. Das alte Moskau wurde systematisch zerstört. Mit ihm die alten Moskauer, die alten Eliten und die alten Bürger. "Terror und Traum" erzählt nicht nur, wie das schön Gedachte umschlägt in blutige Vernichtung oder der befreiende Impuls im Prozess seiner Realisierung bürokratisch verwaltet und damit zu Tode gebracht wird, sondern auch, wie mitten im Terror das Schöne, der Traum davon sich immer wieder Platz schafft.

Karl Schlögel ist auch darin ein Erzähler, dass er ein melancholischer, die Hoffnung aber niemals aufgebender Mitmensch ist, einer, der an die Menschheitsbeglückung nicht mehr zu glauben vermag, der aber gleichzeitig nicht davon ablassen kann, von ihr zu träumen. Das gibt seinen Texten etwas von dem Pathos seiner Gegenstände und der Art, wie sie im vergangenen Jahrhundert betrachtet wurden. Es ist eine in die Jahre gekommene, für mich freilich unwiderstehliche Schönheit.

Karl Schlögel: Terror und Traum - Moskau 1937. Hanser Verlag, München 2008, 812 Seiten, Abb., Karten, 29,90 Euro

Techtelmechtel (Frankfurter Rundschau)

"Schmidt liest Proust"
Techtelmechtel

Was als Blog vor zwei Jahren zu wuchern begann, ist ein vergleichsweise übersichtliches 600-Seiten-Buch geworden: "Schmidt liest Proust" dürfte die abgefahrenste Publikation dieses Herbstes sein. Und die Verleger von Voland & Quist sollten dafür einen Orden bekommen.Wer Proust schon kennt, wird beschenkt, und die anderen - hoffentlich - verführt, ihn kennenzulernen. Mit einer Mischung aus niedrigstapelnder Nonchalance und Lesebühnen-Schnodderigkeit traktiert Jochen Schmidt, Mitbegründer der legendären "Chaussee der Enthusiasten", den französischen Supermythos. Das tut er schlicht und ergreifend, indem er "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" durchliest (in der DDR-Lizensausgabe seiner Eltern). Bildungshuberei geht ihm völlig ab; bei Schmidt wird die Kokotte Odette zum "Techtelmechtelprofi", und Tante Léonie ist ihm schlicht eine "Hypochonderin".

Das tägliche Pensum von 20 Seiten bewältigt Schmidt mit zunehmender Begeisterung. Am Ende ist er richtig stolz auf seine "Lebensleistung". Ja: "Man könnte sagen, dass man nicht sterben sollte, ohne Proust gelesen zu haben. Aber in Wirklichkeit ist man dann noch gar nicht geboren." Von gelegentlichen Disziplindellen abgesehen, über die wir pingelig informiert werden, zieht Schmidt sein Experiment durch - egal, ob er auf seinem Ostberliner Balkon den Pennern lauscht oder auf der Krim Russischkurse belegt.

Seine scheinnaive Intelligenz ist schlicht hinreißend, als Prousts größtes Talent erkennt er die Komik. Im Juli 2006 hat der Verfasser von "Triumphgemüse" begonnen, "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu lesen, im Januar 2007 macht Schmidt seinen letzten Eintrag.
Das letzte Wort lässt er Proust: "Wie viele gewaltige Kathedralen bleiben unvollendet!" I.H.

Das Buch
Jochen Schmidt: Schmidt liest Proust. Mit CD. Verlag Voland & Quist, Dresden 2008, 608 S., 19,90 Euro.

Wednesday, September 17, 2008

http://www.tagesspiegel.de/sport/Fussball-Premier-League-Fan-Proteste-Liverpool;art133,2615775

weißes rauschen

http://www.tagesspiegel.de/medien-news/Webradio-Internet;art15532,2616098

Saturday, September 13, 2008

Unter Krautern (FR)

Unter Krautern
In der Berliner CDU fiel die Mauer nie
VON BERNHARD HONNIGFORT
Berlin. Der dunkle Anzug: tadellos. Das blütenweiße Hemd: kein Fältchen. Die orangefarbene Krawatte: perfekt. Da stand er nun im Flur vor dem Zimmer 311 des Berliner Abgeordnetenhauses, äußerlich eine makellose Erscheinung. Nur das düstere Gesicht sprach die Wahrheit: Es tut so weh. Ich bin ein Wrack, politisch am Ende. "Ich liebe diese Stadt", jammerte der Mann. "Meine Kinder werden hier groß. Ich möchte für sie arbeiten. Das ist meine Lebensaufgabe." Kämpferisch wollte er klingen. Es war Mitleid erregend.Friedbert Pflügers kurze Karriere in der Berliner CDU neigt sich dem Ende zu. Die mächtigen Kreisvorsitzenden wollen ihn nicht, in der Fraktion hagelte es Abwahlanträge gegen den Chef. Am heutigen Donnerstag um elf Uhr wollen sie den Schlussstrich ziehen. Berlins CDU demontiert ihren einzigen vorzeigbaren Politiker.

Das Zerstörungswerk ist schnell beschrieben: Der Fraktionsvorsitzende Pflüger wollte vor einer Woche auch den Landesvorsitz von Parteichef Ingo Schmitt, nachdem ihm Putschgerüchte zu Ohren gekommen waren. Etwas ungeschickt forderte er den Posten. Aber er hatte sich überschätzt und mit den Falschen angelegt. Als hätte er in ein Wespennest gepikst, fiel die CDU über ihren Ex-Hoffnungsträger her. In null Komma nichts machten sie ihn fertig.Die Berliner CDU ist sehr speziell, Pflüger hat das jetzt erfahren. Als er vor knapp drei Jahren kam, sollte er der Retter sein. Er war dritte oder vierte Wahl, denn niemand traute sich, als Spitzenkandidat der CDU in eine Wahl gegen den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) zu ziehen. Nicht so sehr wegen Wowereit, sondern wegen der CDU. Reihenweise hatten Spitzenleute abgesagt wie Friedrich Merz oder Klaus Töpfer. Nicht einmal in Schutzanzügen wollten sie der CDU nahe kommen.

Pflüger scheiterte grandios

Berlins CDU ist der verstaubteste Landesverband im Reiche Angela Merkels. Dort ist die Mauer nie gefallen: Die allermeisten der 12 000 Mitglieder sitzen in WestBerlin, die tonangebenden Figuren stammen aus dem Westen. Dort liegt die Partei bei 25 Prozent in Umfragen, im Osten bei 13. Sie ist eine 80er-Jahre-Partei geblieben, ein Klüngelverein, der sich so anfühlt, als würde der gemütliche Eberhard Diepgen noch regieren, der Rias senden und Harald Juhnke auf dem Ku'damm singen. Eine schlichte Kleinbürgerpartei mit Bulettengeruch, miefig und krautig, eingemauert wie das alte West-Berlin.

So regierte sie noch bis 2001. Dann fegte der Beinahe-Untergang der Landesbank Diepgen und die CDU davon. Mit ihm Jörg Schönbohm, den knarzigen Innenminister, der gerne die Kreuzberger Multikultiszene aufbrachte. Und Volker Hassemer, den angesehenen Kultursenator. Außerdem Fraktionschef Klaus Landowsky, den alten Strippenzieher.Nach den Westberlinern kam der Sozialdemokrat Klaus Wowereit, der erste Gesamtberliner. Er passte zur Stadt, die sich plötzlich Metropole nannte: frech, leichtlebig, nachtaktiv, ruppig, hemdsärmelig. Er regierte rot-rot und sparte wie ein Schwarzer.

2006 packte Pflüger in Hannover die Koffer. Er gab seinen Posten als Staatssekretär im Verteidigungsministerium auf, gab sein Bundestagsmandat zurück, ließ sich ganz auf Berlin ein. Er wollte die alte CDU auffrischen, öffnen für Junge, Ostberliner, Migranten. Er redete über Klimaschutz und schwarz-gelb-grüne Bündnisse. Er wollte die CDU aus ihrem Kiez befreien und fit machen gegen den Partymeister Wowereit.Er scheiterte grandios. An den Berlinern, die ihn weder mochten noch 2006 wählten. An seiner gestelzten Art. Vor allem aber an seinen Parteifreunden, die ihn und das Erneuerungswerk lieber opfern, als ihm das Pöstchen des Parteivorsitzenden zu geben. Könnte ja jeder kommen.

Saturday, August 09, 2008

Allein gegen alle (fr)

Radeln in New York
Allein gegen alle
Radfahrer haben heute Vorfahrt in New York, wichtige Straßen sind für Autos gesperrt. Unser Autor Sebastian Moll fährt jeden Tag mit dem Rad, ihm gefällt der Überlebenskampf.

Es sind zwei Wörter, die in New York zum Radfahren unbedingt dazugehören. Der kurze Fluch: "Fuck you." Erst vor ein paar Tagen habe ich das wieder gemerkt, als einer dieser idiotischen Taxifahrer im Zentimeterabstand an mir vorbeirauschte, nur, um mich an der nächsten Kreuzung beim Abbiegen zu schneiden und vor die unsägliche Entscheidung zu stellen: entweder scharf zu bremsen oder auszuweichen und damit eine Kollision mit einem parkenden Auto zu riskieren. Ich fluchte laut: "Fuck you." Wie ein Echo antwortete der Taxifahrer: "Fuck you." Und dann raste er mit quietschenden Reifen davon.

Gewöhnlich bin ich kein besonders zorniger Mensch, aber als Radfahrer in New York ist dieses "Fuck you" meist das Einzige, was einem bleibt. Es ist der verzweifelte Aufschrei des schonungslos Ausgelieferten, gerichtet oft an niemanden Bestimmtes, sondern an die ebenso anonyme wie gleichgültige Übermacht der Autofahrer um einen herum.

Es ist ein gnadenloser Überlebenskampf, in New York Rad zu fahren, und man gerät in Not, wenn man versucht zu erklären, warum man das nicht nur tut, sondern es auch noch aufregend findet. Warum man beispielsweise das Konzert von Autohupen und Trillerpfeifen (damit machen Hotelportiers, die auf Taxis warten, auf sich aufmerksam) genießt, als wäre es eine Mahler-Symphonie; warum man das Bouquet von schwarzem Rauch, Fleischgerichten aus exotischen Restaurantküchen und faulendem Müll einsaugt, als wäre es die reinste Atlantikluft; warum es sogar auf seine Art Spaß macht, wie ein Matrose vor sich hin zu schimpfen und beschimpft zu werden; warum es so ein unvergleichliches Triumphgefühl ist, allen Schlaglöchern und sich plötzlich öffnenden Autotüren zum Trotz 30 Blocks lang nicht ein einziges Mal den Fuß auf den Asphalt zu setzen.

Vielleicht kann man die Faszination so erklären: Ich gehe vollkommen auf im Treiben dieser so chaotischen Stadt. Ohnehin ist Fahrradfahren für mich die einzige Art, eine Stadt wirklich zu begreifen. Ich habe noch nie eingesehen, warum man sich in einem Auto - von der Außenwelt abgeschirmt - in einer Metropole bewegen soll, oder, alternativ, unterirdisch eine Großstadt als Abfolge neonbeleuchteter Bahnsteige erleben soll, die sich nur durch die Namensbezeichnungen auf den Stationsschildern voneinander unterscheiden. Gleich, ob ich in München oder Frankfurt gelebt, Paris oder Berlin besucht habe, das Rad erschien mir immer als das beste Fortbewegungsmittel.

Insofern war es für mich auch klar, dass ich mir ein Rad besorgte, als ich vor sechs Jahren nach New York zog. Zumal der Stadtplan Manhattan als optimales Fahrradrevier ausweist. Die Fläche der Stadtviertel, in denen man sich in New York meistens bewegt, also zwischen Battery Park im Süden und der 110ten Straße im Norden, sowie von Flussufer zu Flussufer beträgt gerade mal 10 x 3 Kilometer, und auf dieser Fläche gibt es nicht eine einzige Erhebung, für die man eine Gangschaltung benötigte.

Aus der Lenkerperspektive stellte sich die Sache zunächst anders dar. Schon die erste Testfahrt mit meinem stolz für 30 Dollar von einem Trödler auf der Lower East Side erstandenen Schrottrad sollte mich Demut lehren - Manhattan ist mitnichten für Radler konzipiert. Was hatte ich mir auch gedacht? Wie sollte die verstopfteste Großstadt der westlichen Hemisphäre auch ein Biotop für Pedaleure sein? Der erste Versuch, sich im New Yorker Verkehr zu behaupten, endete im frustrierten Lösen einer Monatskarte für die Subway.

Doch der Gedanke ans Radfahren ließ mich nicht los. Schließlich waren da auch die Fahrradkuriere, die sich scheinbar mühelos durch den Verkehr schlängelten und mit 40 Sachen über den Times Square pfiffen. Es konnte nur eine Frage der Technik sein und der "Attitude" - jener typischen New Yorker "Hoppla, jetzt komm ich"-Einstellung, die man als Zugezogener erst üben muss. Also versuchte ich es noch einmal. Und tatsächlich fiel irgendwann der Groschen. Mittlerweile beherrsche auch ich die Kunst, mit dem eigentlich träge die breiten Avenues herunterrollenden Verkehr mitzuschwimmen. Der Frust ist einem tiefen Glücksgefühl gewichen, das sich jedes Mal einstellt, wenn es mir gelingt, mich wie ein Surfer durch den Verkehr treiben zu lassen.

Es ist allerdings in den vergangenen Jahren auch deutlich einfacher geworden, in New York Rad zu fahren. Der Moloch ist dem Fahrradfahrer heute wesentlich freundlicher gesonnen, als er das noch vor fünf Jahren war. Man liegt heute als Radfahrer in New York im Trend, wird umgarnt nicht nur von der Fahrrad- und der Fahrradmode-Industrie, sondern sogar vom Bürgermeister selbst.

Als Teil seines ehrgeizigen Plans, New York zur grünsten Stadt Amerikas zu machen, will Michael Bloomberg neue Radwege in den fünf Stadtteilen anlegen lassen. An wichtigen U-Bahn-Stationen wurden große Fahrradständer aufgestellt, im Zentralpark verleiht die Stadt Räder. Und nicht nur heute, sondern einmal pro Woche im August wird eine Route vom Südzipfel Manhattans bis an die 72. Straße komplett für den Autoverkehr gesperrt.

Eine erstaunliche Entwicklung: Noch vor zehn Jahren waren die "Critical Mass-Rides" - die monatlichen Fahrraddemonstrationen gegen den Autoverkehr in US-Städten - Veranstaltungen randalierender Anarchos, die mit Massenverhaftungen endeten. Heute fahren regelmäßig Politiker wie der Ex-Präsidentschaftskandidat Al Sharpton oder der Talking-Heads-Musiker David Byrne bei "Critical Mass" mit, die Fahrten sind zum gesellschaftlichen Event geworden. Und kein Promi versäumt es mehr, sich von Paparazzi beim Einkaufen auf dem Rad erwischen zu lassen - ob das nun Madonna oder Gisele Bündchen in Manhattan ist, die Clintons auf den Radwegen rund um ihren New Yorker Wohnvorort Chappaqua radeln oder Barack Obama an seinem wahlkampffreien Wochenende mit Familie am Lake Michigan in Chicago.

Wie sehr sich das Radfahren in New York von der anarchischen Aktivität zum Trend entwickelt hat, lässt sich auch an der Mode der "Singlespeed"-Räder ablesen. Um das Selbstmörderische ihres Jobs zu unterstreichen, begannen New Yorker Radkuriere vor 20 Jahren, mit Fahrrädern ohne Gangschaltung und ohne Bremse durch die Stadt zu jagen. Ihre Dienstfahrten wurden zum Flirt mit dem Tod - man handelte sich entweder Bewunderung ein, wenn man mit Geschick und Glück wieder einen Tag überlebt hatte, oder landete auf der Intensivstation. Es war - ganz im Geist des Punk - eine Anklage gegen die menschenverachtende Umgebung unter vollem Einsatz der eigenen Gesundheit. An Wochenenden veranstaltete die Szene wilde Rennen im Straßenverkehr, nach denen bei viel Dosenbier neben dem Sieg auch spektakuläre Unfälle und die übelste Verletzung prämiert wurden.

Diese Rennen gibt es noch immer. Es gibt aber auch Singlespeed-Räder in den Boutiquen der schicken Viertel Williamsburg oder SoHo zu kaufen. Die Kunden sind bevorzugt Designer, Architekten und sonstige stilbewusste urbane Jungprofessionelle, die sich in denselben Geschäften gleich komplett im Radkurier-Look einkleiden. Die Kunstfertigkeit der Kuriere, sich mit den schwer beherrschbaren Rädern im New Yorker Verkehr zu behaupten, kann man dort allerdings nicht kaufen. Und so geben, wie die Shop-Besitzer berichten, nicht wenige Käufer die teuren Räder schon nach ein paar Tagen wieder zurück. Denn trotz Bloomberg-Plan ist New York noch lange nicht so Fahrrad-freundlich wie etwa Münster oder Kopenhagen. Es bleibt ein Abenteuer, den Broadway hinunter zu radeln, wenn es nicht gerade Samstag ist und Mayor Mike ihn für ein paar Stunden für Autofahrer gesperrt hat. Ein berauschendes Abenteuer allerdings. Diese Mischung aus Spiel und Kampf, aus Sport und Transport macht süchtig. Meine U-Bahn Karte liegt jedenfalls seit langem ungenutzt in der Schublade.

Tuesday, July 29, 2008

Hab acht vor der Sieben! (Tagesspiegel)

Hab acht vor der Sieben!
Noch 32 Tage bis Olympia. Müh-Ling trainiert heute: Zählen
Zahlen werden in China mit arabischen Ziffern notiert, genau wie bei uns. Für das sinnsuchende Westler-Auge hat das erst mal etwas Beruhigendes: In fremden Zeichenfluten wird die Zahl zum Heimathafen.

Damit hören die Ähnlichkeiten aber schon auf. Die Unterschiede beginnen mit simplen Dingen wie der Auswahl einer Handy-Nummer. Eindringlich warnten meine chinesischen Freunde, ich solle Vieren und Siebenen unbedingt meiden! Beides verheiße Unglück: Das chinesische Wort für Vier (si, fallend betont) sei dem Wort für „Tod“ zu ähnlich (si, fluktuierend betont), während die Sieben (hohes qi) nach „Wut“ klinge (fallendes qi).

Schüchtern wandte ich ein, mein Problem sei eher, dass ich die Wörter für Vier und Sieben kaum von den Wörtern für Achtzehn, Kernschmelze und Zahnersatz unterscheiden könne. Brüsk wurde mir Leichtfertigkeit vorgeworfen: „Ich hatte mal ein ganzes Jahr lang Pech wegen einer schlechten Handy-Nummer“, versicherte einer. Von dem Übel befreit habe ihn erst sein Vater, ein kundiger Sinologe, der die Unglücksnummer mit Hilfe des „Yijing“ entlarvte, eines altchinesischen Orakelbuchs. Mir wurde versichert, dass ich diese fortgeschrittene Methodik nicht zwingend erlernen müsse – aber zugreifen sollte ich unbedingt bei Sechsen (fallendes liu), die „Reibungslosigkeit“ versprechen (fallendes shun), sowie bei der chinesischen Glückszahl schlechthin: der Acht (hohes ba), die „Reichtum“ verheißt (hohes fa). Für eine Nummer mit mehreren Achten zahlen Chinesen gerne ein paar Hundert Euro.

Mir dämmerte, warum die große Olympia-Uhr am Platz des Himmlischen Friedens unaufhaltsam auf das Datum 8.8.2008, 08:08:08 Uhr zutickt. Für chinesische Ohren muss der Eröffnungstermin der Olympischen Spiele ähnlich euphorisierend klingen wie für Deutsche die Formel „Sechs Richtige plus Zusatzzahl“.

Damit im Telefonladen nur ja nichts schiefginge, brachten meine Freunde mir noch bei, wie man mit den Händen zählt – wobei nicht die Anzahl der Finger ausschlaggebend ist, sondern die Nachahmung der Schriftzeichen. Die Glücks Acht sieht aus wie eine europäische Zwei: abgespreizter Daumen und Zeigefinger. Die reibungslose Sechs entspricht der Gebärde, mit der man im Westen ein Telefongespräch symbolisiert, während bei der Todes-Vier alle Finger außer dem Daumen hochgehalten werden. Die ziemlich komplizierte Wut-Sieben schließlich ähnelt ein wenig der Fingerhaltung, mit der man beim Schattenspiel einen Vogel Strauß an die Wand projiziert.

In der „China Mobile“-Filiale legte mir eine schnippische Verkäuferin diverse Nummern zur Auswahl vor, in denen es vor Vieren und Siebenen nur so wimmelte, während Achten gänzlich fehlten und Sechsen rar gesät waren. Ich wollte meiner Verärgerung Ausdruck verleihen, konnte mich jedoch nicht mehr an das chinesische Wort für „Wut“ erinnern, auch die ähnlich klingende „Sieben“ war mir entfallen. Also zeigte ich der Verkäuferin die Vogel-Strauß-Gebärde. Dies wurde komischerweise missverstanden: Ich erhielt eine Handy-Nummer mit besonders vielen Siebenen. Wochenlang kicherten meine Freunde, sobald ich sie anrief.

Aus Protest gegen die Herabwürdigung eines deutschen Pressevertreters durch einen chinesischen Staatskonzern wurde als Eröffnungstermin für diese Kolumne, die bis zum 8. 8. regelmäßig auf den Kulturseiten erscheint, der 7. 7. gewählt!

Unsere „Aufschlag“-Kolumnisten Rainer Moritz und Moritz Rinke machen Sommerpause. Wenn die Tage kühler werden, sind sie wieder zurück, jeden Montag an dieser Stelle.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 07.07.2008)

Der Große Vorsitzende (Tagesspiegel)

Der Große Vorsitzende
Noch 27 Tage bis Olympia. Müh-Ling trainiert heute: Maoismus

Seine Leiche schwimmt in einem trüben Formaldehyd-Aquarium. Vor dem Glaskasten teilen Volkspolizisten den Besucherstrom in zwei Prozessionen, die links und rechts an Mao vorbeidefilieren. Im Akkord legen die Chinesen gelbe Plastiknelken nieder, die nachts zurück in die Verkaufsstände am Mausoleums-Eingang wandern. Der Gründungsvater des chinesischen Kommunismus ist tot, um ihn herum zirkuliert ein ökonomisches Perpetuum Mobile. Ist ja Kapitalismus jetzt.

Die Partei sagt: Mao lag zu 70 Prozent richtig und zu 30 Prozent falsch. Unmittelbar nach dem Tod des Großen Vorsitzenden wurde dieser ideologische Wechselkurs ausgegeben, offiziell notiert Mao bis heute unverändert. 70 zu 30: Was sagt das über die chinesischen Geldscheine aus, die immer noch Maos Konterfei tragen. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum die Chinesen immer so skeptisch ihre Banknoten prüfen. Einen gefälschten 100-Yuan-Schein wird man in Peking mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht los. Man kann ihn höchstens den Ausländern andrehen, von denen allerhöchstens 30 Prozent einen echten von einem falschen Mao unterscheiden können.

Eine französische Galeristin im hippen Pekinger Künstlerviertel „798“ erzählt, sie sei neulich von der Polizei gezwungen worden, ein pietätloses Mao-Porträt abzuhängen. Sie erzählt die Geschichte lachend, fast kokett. Jede dritte Galerie im Viertel verkauft ungehindert Mao-Porträts, mal in knalliger Andy-Warhol-Manier, mal als ironische Cola-Reklame, mal in der Heldenpose des Kulturrevolutionärs. Die westlichen Sammler, heißt es, kaufen das Zeug wie bekloppt. Die Touristen sowieso. Im Backpacker-Viertel zieht jeden Abend ein greiser Chinese von Hostel zu Hostel und verkauft MaoMemorabilia. „Look-a, look-a!“, sagt er. „Mao book-a! Mao clock-a! Mao shirt-a!“ Die Leute reißen ihm das Zeug aus den Händen. Mao sells.

Amerikanische Finanzpolitiker sind der Ansicht, der chinesische Yuan sei massiv unterbewertet, manche sprechen von bis zu 30 Prozent. Ich dagegen finde Mao zu 70 Prozent überbewertet.Am 7. Juli trainierte Müh-Ling das Zählen, als nächstes lernt er, wie man sich chinesisch entschuldigt. Seine Kolumne wird uns bis zum Beginn der Olympischen Spiele in Peking begleiten.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 12.07.2008)

Geheimnisse des Ehelebens (Tagesspiegel)

Geheimnisse des Ehelebens
Noch 25 Tage bis Olympia. Müh Ling trainiert heute: Entschuldigen.

Bis Ende der 1920er Jahre hing am Eingang des Huangpu-Parks im britisch kolonisierten Shanghai ein Schild, das Hunden und Chinesen den Zutritt untersagte – in dieser Reihenfolge.

Ein knappes Jahrhundert später. Im Pekinger Zhongshan-Park steht inmitten einer Menschenmenge ein älterer Chinese mit Hund. Er ist wütend. Die Umstehenden versuchen, den Mann zu beschwichtigen. Es nützt nichts, er lässt seinem Zorn freien Lauf. „Ausländer“, schreit er, „haben in chinesischen Parks nichts zu suchen!“

Zwei Gruselgeschichten, die nichts verbindet – außer geschichtlicher Grusel.Vorausgegangen ist dem Wutanfall des Mannes eine Recherche im Zhongshan-Park, wo sich zweimal in der Woche chinesische Eltern treffen, um ihre unverheirateten Kinder unter die Haube zu bringen. Die Recherche verläuft erstaunlich unkompliziert, die Eltern geben bereitwillig Auskunft, etwa 30 Männer und Frauen drängeln sich förmlich um den deutschen Journalisten, seinen chinesischen Übersetzer und dessen deutsche Ehefrau. Jeder will einen Kommentar abgeben, viele stellen ihrerseits neugierige Fragen: wo man denn herkomme, ob das Leben dort sehr anders sei, ob man zu Hause eine Frau habe oder nicht vielleicht hier eine nette Chinesin kennenlernen wolle. Besonders interessiert die Menschen, wie denn eine Ehe zwischen einem Chinesen und einer Ausländerin funktioniert, viele fragen den Übersetzer, ob er das weiterempfehlen könne.

Bis plötzlich ein älterer Mann, der zuvor schweigend seinen Hund an der Leine gehalten hat, vor sich hin zu murren beginnt, leise zunächst und ohne jemanden anzusehen, dann immer lauter und lauter. Von „Geheimnissen“ spricht er, über die man mit Ausländern nicht reden solle, weil man nicht wisse, was die Fremden damit anfangen. Trotz aller Beschwichtigungsversuche redet sich der Mann in Rage, sein Zorn richtet sich besonders gegen den chinesischen Übersetzer, dem er immer wieder mit dem Finger droht: Was ihm einfalle, chinesische Geheimnisse zu verraten! Bestraft gehöre er dafür, dass er eine Fremde geheiratet habe! Den meisten Umstehenden ist der Vorfall sichtlich unangenehm, bittend bedeuten sie den Ausländern, weiterzugehen und das Gezeter nicht zu beachten.

Später kommen mehrere Menschen aus der Gruppe den Ausländern im Park hinterhergelaufen, um sich aufgewühlt für den Vorfall zu entschuldigen. Man solle nichts darauf geben, sagen sie, sie selbst fänden es gut und richtig, dass man mit Ausländern heute über alles reden könne, eigentlich gefalle das allen Chinesen, der Mann sei eine Ausnahme, man schäme sich sehr für ihn.

Hat sich Europa jemals für das Schild am Huangpu-Park entschuldigt?
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 14.07.2008)

Runter damit! (Tagesspiegel)

Runter damit!
Noch 22 Tage bis Olympia. Müh-Ling trainiert heute: seinen Magen.
Diesmal würde es kein Zurück geben. Lange hatten meine chinesischen Freunde über der Speisekarte gebrütet, und ihre prüfenden Seitenblicke waren mir nicht entgangen. Schicksalsergeben starrte ich den Kessel in der Mitte des Restauranttischs an, in dem bereits der Höllensud der Provinz Sichuan brodelte.

Wie oft hatte ich dankend abgelehnt, wenn mir Chinas kulinarischer Reichtum demonstriert werden sollte, wie oft hatte ich abgewunken, wenn Hundeherzen und Gänseköpfe gepriesen wurden? Aber heute würde ich nicht kneifen, was immer auf den Tisch käme. Es war dies zunächst eine Platte grob gehackter Ochsenfrösche, die der Kellner umstandslos in den brodelnden Kessel leerte. Neugierige Blicke maßen mich, als ich die Stäbchen in den Sud tunkte und eine glitschige Froschhälfte an Land zog. Während ich den langgliedrigen Fremdkörper prüfend mit der Zunge betastete, bemühte ich mich, mir keinerlei Irritation anmerken zu lassen. Knackend gab eine Ochsenfroschwirbelsäule dem ungeschickten Druck meiner Backenzähne nach. Lächelnd lobte ich Konsistenz und Würze des Gerichts.

Derweil hatte der Kellner eine Schüssel undefinierbarer Fleischfetzen in den Kessel geleert. Ich verstand „DachsKinn“, als ich betont beiläufig nach der Art der Speise fragte. „Dog skin?“, hakte ich nach. „Duck skin“, präzisierten meine Freunde. Entenhaut. Es gibt Schlimmeres. Den nächsten Menüpunkt zum Beispiel: eine flache Schale, gefüllt mit einer dunkelroten Masse, die beim Zerschneiden widerlich wabbelte. Zum Glück hat gestocktes Schweineblut wenig Eigengeschmack. Auch im weiteren Verlauf des Mahls – bei dem ich nur noch Schafsmagen und Hühnerhirn eindeutig zuordnen konnte – stellte ich Gleichmut unter Beweis, und fast schon wollte ich glauben, dass meinen Freunden die Ideen ausgingen. Just in diesem Moment aber trug der Kellner eine Platte heran, deren Geheimnis unter einer voluminösen Servierhaube verborgen war. Als sie gelüftet wurde, stockte mir der Atem. „Ist es das, wofür ich es halte?“, fragte ich kühl. Vor meinen Augen lag ein immenser Rinderpenis.

Der Kellner schickte sich an, das Gemächt in mundgerechte Scheiben zu zersäbeln. Ein beißender Stellvertreterschmerz trieb mir den Schweiß auf die Stirn, deutlich spürte ich, dass hier eine Schwelle erreicht war, deren Überschreitung mir nicht möglich sein würde. Fieberhaft suchte ich nach Ausflüchten: Könnte ich behaupten, meine Religion verbiete den Verzehr von Genitalien? Aber was für eine Religion sollte das sein? Freudianisch-Orthodox? Genital-Pietistisch? Ödipal-Klerikal?

Unterdessen erzählte einer meiner Tischnachbarn, er habe früher in einem kleinen Restaurant in der Provinz gearbeitet, in dem die örtlichen Parteikader zu besonderen Anlässen gerne Rinderpenisse verzehrt hätten. Da diese Köstlichkeit nur auf Vorbestellung zubereitet wurde, hätten im Kühlschrank mitunter diverse Gemächte nebeneinander gelagert, versehen mit Zetteln, auf denen der Name des jeweiligen Bestellers vermerkt war: „Parteisekretär Wu“, „Ortsvorsteher Li“ und so weiter. Daraufhin überwältigte mich ein epochaler Schluckauf.

Dies wiederum beängstigte meine Freunde so sehr, dass sie mir das Weiteressen untersagten. Ich bin überzeugt, dass meine Enttäuschung glaubwürdig wirkte.
Bisher trainierte Müh-Ling: Zählen (7. 7.), Maoismus (12. 7.), Entschuldigungen (14. 7.). Als nächstes: Propaganda
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 16.07.2008)

T wie Tibet (Tagesspiegel)

T wie Tibet
Noch 18 Tage bis Olympia: Müh-Ling trainiert heute: Propaganda
Wenn Sie mal erleben wollen, wie ein ansonsten liebenswerter Chinese Gift und Galle spuckt, erwähnen Sie einfach das T-Wort. Leises Flüstern reicht: „Tibet“. Fast jeder Chinese wird sofort in die Defensive gehen, lauthals die Errungenschaften der chinesischen Tibet-Politik preisen, den Dalai Lama einen CIA-Agenten schelten und dem Westler ein völlig verzerrtes Tibet-Bild vorwerfen – noch bevor sich der Westler überhaupt zum Thema positioniert hat.

Wenn Sie gleichzeitig mal erleben wollen, wie sich ansonsten vernünftige Deutsche in kitschbekiffte Ethno-Fundamentalisten verwandeln, erwähnen Sie ebenfalls einfach das T-Wort. Funktioniert auch ziemlich zuverlässig. Ein chinesischer Bekannter erzählte mir neulich, er sei in Deutschland mehrfach von bunt gekleideten, ihm gänzlich unbekannten Menschen als Repräsentant eines völkermordenden Regimes beschimpft worden – noch bevor er sich zu Tibet überhaupt geäußert hätte.

Im Pekinger Kulturpalast der Nationalitäten wird derzeit eine große Tibet-Ausstellung gezeigt. Sie ist in zwei Teile gegliedert: das „alte“ und das „neue“ Tibet, vor und nach der kommunistischen Angliederung. Das alte Tibet ist eine feudale Sklavenhaltergesellschaft, deren gottesstaatliche Herrscherclique politischen Gefangenen die Haut abziehen lässt. Das neue Tibet ist eine blühende Region Chinas, deren Bewohner „in Erwartung einer noch besseren Zukunft singen und tanzen“, wie es unter einem Foto folkloristisch gewandeter Bauern heißt.

Verblüffend ist die durchweg defensive Haltung der Propaganda-Schau. Jedes Exponat wirkt hier wie eine trotzige Anfechtung des Tibet-Bildes, wie es seit den Ausschreitungen im März dieses Jahres im Westen kursiert. Manches Gezeigte hätte sogar das Potenzial zum klärenden Dialog – wenn es nicht so unsäglich ideologisch präsentiert wäre.

Andererseits: Deutschlands Hobby-Tibeter romantisieren die vorkommunistische Feudal-Epoche und verdrehen Chinas unabweisbare Modernisierungsleistungen zum „kulturellen Völkermord“. Auch das ist Geschichtsklitterung. Man muss sich nur mal den deutschsprachigen Tibet-Eintrag bei Wikipedia und die zugehörige Editionsgeschichte ansehen. Da räumt eine selbst ernannte Gesinnungspolizei gnadenlos mit Abweichlern auf.Beim Verlassen des Kulturpalasts spricht mich ein älterer Chinese auf Englisch an. „Wie fanden Sie die Ausstellung?“, fragt er. Ich zögere. „Etwas parteiisch“, sage ich. „Da haben Sie recht“, antwortet er lächelnd, „aber nicht ganz so parteiisch wie der westliche Blick auf Tibet, oder?“ Wieder zögere ich. „Doch“, sage ich dann, „noch parteiischer“. Der Mann nickt. „Sie haben das Recht auf Ihre eigene Meinung.“ Dann lässt er mich stehen.

Man muss den Chinesen lassen, dass sie unsere Vorurteile besser kennen als wir die ihren.

Bisher trainierte Müh-Ling: Zählen (7. 7), Maoismus (12. 7), Entschuldigungen (14. 7.), den Magen (16. 7.). Als Nächstes: Radfahren
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 21.07.2008)

Masse und Macht (Tagesspiegel)

Masse und Macht
Noch 11 Tage bis Olympia. Müh-Ling trainiert heute: Radfahren.
Man sagt gerne, China stehe mit einem Bein im 19. und mit dem anderen im 21. Jahrhundert. An vielerlei lässt sich diese Spagatmetapher festmachen: verwitterte Ziegeldächer neben funkelnden Wolkenkratzern, Pferdekarren, turmhoch beladen mit Flachbildfernsehern, KFC und Konfuzius, Marx und McDonald’s.

Nicht fehlen dürfen in solchen Aufzählungen die omnipräsenten Fahrräder, die gerne in Kontrast zum Transrapid in Schanghai gesetzt werden, dem schnellsten Personenzug der Welt. Vollkommen ungerechtfertigt wird das Fahrrad in solchen Bildern zur Rücktrittbremse der chinesischen Modernisierung stilisiert – obwohl es das chinesischste aller Verkehrsmittel war, ist und bleibt. China steht auf Pedalen. Mit beiden Beinen.

Wie sonst wäre zu erklären, dass in der explodierenden Irrsinnsmetropole Peking jeder noch so verschlungene Verkehrsknoten penibelst mit Fahrradspuren ausgestattet wird? Mehrere Meter breit schlängeln sich diese Pfade durch Tunnel unter Straßenkreuzungen hindurch, auf Stelzen über Autobahnen hinweg, nicht selten auch quer durch den Pkw-Strom hindurch. Da komme ich nie rüber, denkt der Ausländer, wenn er zum ersten Mal mit dem Rad vor einer zehnspurigen Trasse steht, deren andere Seite nur verschwommen hinter Lkw-Kolonnen und Smogwolken zu erahnen ist.

Durch aber kommt man immer – solange man ein paar simple Grundregeln beachtet, die der fahrradfahrende Chinese den soziopolitischen Verkehrsregeln seines Landes entlehnt. Mit dem Strom schwimmen, lautet die erste dieser Devisen. Mag beim ersten Hinsehen der Eindruck entstehen, im heutigen China komme nur voran, wer sich möglichst rücksichtslos durchdrängelt, so entlarvt genaueres Hinsehen diese Strategie als grundverkehrt. Wer voranprescht, begibt sich in Gefahr. Gleiches gilt für den, der zurückbleibt. Der kluge Radler schmiegt sich in den Strom. Stetig sei das Auf und Ab seiner Pedale, nie bremse er ruckartig, auch meide er hektische Sprints. Nur wer sich treiben lässt im weisen Mittelmaß der Zweiradkarawane, den wird sie sicher ans Ziel geleiten.

Zweite Regel: Die Regierung steht über dem Gesetz. Der Radfahrer poche nicht auf schriftlich verbürgte Rechte, wo ihnen mündliche Anordnungen von Autoritätspersonen entgegenstehen. Wenn die Fahrradampel rot ist, der Verkehrslotse aber zur Weiterfahrt drängt, so ist dem Folge zu leisten, alles andere wäre lebensgefährlich. Die Ampel ist dumm, sie kennt nur Rot und Grün – dem Menschen aber ist kein Grauton fremd. Gerade für Ausländer sind die omnipräsenten Lotsen mit ihren knallroten Chinaflaggen eine nützliche Orientierungshilfe. Wer gedankenlos auf eine grüne Ampel zurollt, weil er das von zu Hause nun mal so gewohnt ist, bekommt umgehend die Flagge gezeigt – und weiß sofort, wo er sich befindet: rot, China, stopp, nicht Rechtsstaat, sondern Volksrepublik.

Dritte Regel: Die Vorfahrt gehört der Masse. Wer links abbiegen will und dazu eine mehrspurige Autotrasse queren muss, der suche sich Gleichgesinnte. Erst, wenn sich eine kritische Masse von Linksabbiegern versammelt hat, wird die Kreuzung eingenommen, Reifenbreite für Reifenbreite, Pedal um Pedal. Durch ein wütend brandendes Meer aus Blech bahnt sich dann die Zweiradkolonne unaufhaltsam ihren Weg, und wer Teil eines solchen Triumphzuges ist, wer innerlich jubelnd dem Fluchen der Kraftfahrer lauscht, der spürt ein unbeschreibliches Glücksgefühl in sich aufsteigen: die Macht der Masse. Wir könnten jetzt, sagt dieses Gefühl, immer so weiterrollen, und nichts kann uns stoppen. Die geballten Streitkräfte der Nato, gegen 1,3 Milliarden fahrradfahrende Chinesen wären sie machtlos.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 28.07.2008)

Saturday, July 26, 2008

Sonntag ist Schlachttag (taz)

26.07.2008
Schrift
Gemüseschlacht auf der Oberbaumbrücke
Sonntag ist Schlachttag
Nach dreijähriger Pause gehen Kreuzberger und Friedrichshainer wieder mit Glibber und Gemüse aufeinander los. Auf der Oberbaumbrücke hoffen die Kreuzberger auf einen historischen Sieg. VON MARTIN KAUL

Verfaulte Mettwürste über Totalveganern ausdrücken, fremden Menschen mit eigens kultiviertem Faulwasser die Haare waschen, mit schimmeligen Brotbelägen den Nebenmann füttern - das alles sind keine perversen Fantasien. Am Sonntag ab 12 Uhr herrscht auf der Oberbaumbrücke Krieg. Nach dreijähriger Abstinenz rüstet die Berliner Ekelavantgarde wieder zur Wasserschlacht auf.

Zu klären sind die Gebietsstreitigkeiten über die Hoheitsgewalt von Friedrichshain-Kreuzberg, die mit den Plänen zur Berliner Bezirksgebietsreform Ende der 90er-Jahre ihren Ausgang nahmen. Seitdem beanspruchen die Gemüsesöldner beider Kieze die Gesamthoheit jeweils für sich. Kreuzberg gilt für Friedrichshainer als Unterfriedrichshain; umgekehrt heißt Friedrichshain in der Oranienstraße nur Ostkreuzberg - beides freilich als Ausdruck des Protestes gegen die Berliner Annexionspolitik.
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Dabei könnte es in diesem Jahr schwer für die Kreuzberger Brigaden werden, die in den vergangenen Kämpfen durch die Kreuzberger Patriotischen Demokraten/Realistisches Zentrum (KPD/RZ) vertreten waren und zusätzlich mit Unterstützung aus Neukölln rechnen konnten. Nach taz-Informationen ist die revolutionär-demokratische Riege der KPD/RZ mittlerweile geschlossen in den Untergrund gegangen. Die Nachfolgeorganisation Freier Kreuzberger Heimatschutz (FKH) hat die Kampfleitung aufgenommen.

Außerdem haben die ehemaligen Neuköllner Sympathisanten ihre Abspaltung erklärt. Nach jahrelangen Solidaritätskämpfen an der Seite der Kreuzberger Obstverwerter fühlt sich eine Neuköllner Minderheit nun bedroht von der "Yuppisierung" des Nachbarkiezes - und will diese aktiv bekämpfen. Am letzten Sonntag überfiel die Anti-Dehydration League Neukölln (ADLN) die Kreuzberger bereits an der Thielenbrücke. Für Sonntag hat die ADLN angekündigt, den Kreuzbergern bei der großen Schlacht an der Oberbaumbrücke in den Rücken zu fallen. Das wäre gar nicht nötig, denn aufgrund der massiven Armeepräsenz der Wasserarmee Friedrichshain (WAF) konnten die diversen Kreuzberger Bündnisse auch sonst noch nie einen Sieg für sich verbuchen - auch wenn die Kreuzberger Faulveteranen das gerne anders darstellen.

Doch trotz kampfbetonter Großbezirkansprüche hegen beide Bezirke auch gemeinschaflich separatistische Ziele. Denn bei allem Hass, der die Kiezparteien trennt, vereint sie doch eine aufrührerische Ablehnung gegen die staatliche Autorität: Als die Gesamtberliner Polizei im Jahr 2004 Auflagen erteilte und das Mitbringen von Weichmachern und Wurfgeschossen unterbinden wollte, flogen die Stinkbomben, Wackelpuddings und Gemüsegeschosse vereint auf die übergeordneten Ordnungshüter. Die Folge: eine Unordnung, die den Uniformierten den Rückzug bescherte - und dem Polizeipräsidenten später eine öffentliche Kapitulation im Innenausschuss abnötigte. Seitdem hält sich die Polizei zurück und kommentiert gegenüber der taz pflichtbewusst: "Unser Auftrag ist es, die angekündigte Kundgebung zu schützen."
Damit die Polizei nicht in zu große Versuchung gerät, dies offensiv zu tun, haben die Kommandostäbe bereits eigene Maßnahmen angekündigt: Erstmals wird es Wurfgeschosskontrollen und eigene Ordnungshüter auf dem Kampffeld geben, auch um sicherzustellen, dass wirklich nur weiche und glitschige Materialien Verwendung finden. Zuletzt war es vereinzelt auch zu Flaschenwürfen gekommen. Erlaubt ist nur Wasser, Mehl - und alles, was weich und glitschig ist.

Wasser- und Gemüseschlacht auf der Oberbaumbrücke, Sonntag ab 12 Uhr