Knaller an der Zeitungsfront

Thursday, June 07, 2007

Liebeslieder im Rebellencamp (Berliner Zeitung)

Liebeslieder im Rebellencamp
Eine Nacht im Lager der G8-Demonstranten: sympathisches Chaos und ein bisschen Paranoia
Martin Schumacher

REDDELICH. "Wir werden gegen das System nicht mit ein paar Appellen ankommen. Ohne Steine schmeißen und Bullen verprügeln geht's nicht", wischt ein junger Mann in schwarzem Kapuzenpulli beiseite, was sein Gegenüber über die "Kontraproduktivität" von Attacken gegen die Polizei gesagt hat.

Gewaltbereite suchen und fündig werden: das geht hier natürlich. Aber man muss sich schon einen ganzen Tag und eine Nacht umhören in Camp Reddelich, einem der drei großen Lager der G8-Gegner, um auf solche Stimmen zu treffen. Rund 4 000 G8-Gegner - wie viele es genau sind, wissen auch die Veranstalter nicht - haben hier in Zelten oder Bussen Quartier bezogen und bereiten sich auf Demonstrationszüge und Blockaden vor.

Die meisten wollen, dass es friedlich bleibt und halten die Ausschreitungen vom Samstag für "totalen Schmarrn", wie ein schlacksiges Mädchen mit vielen Ringen im Gesicht sagt. "Gewalt ist voll Scheiße." Zwei Tage nach den blutigen Szenen in Rostock dominieren in Camp Reddelich die Distanzierungsrituale, auch wenn sie manchmal nicht ganz überzeugen.

Für eine Spurensuche nach den Krawallmachern taugt der Besuch also kaum. Zumal Pressevertreter den Campern ähnlich verhasst sind wie Polizei, Nazis und G8-Teilnehmer, unbeaufsichtigt eigentlich Lagerverbot haben und bei allzugroßer Neugier und bohrenden Nachfragen schnell auffällig würden. Gefahrlos erkunden lässt sich aber das bunte Panoptikum des Camp-Alltags. Räumlich ist das Lager vielleicht so groß wie sechs, sieben Fußballplätze und auf den Wiesen um ein kleines Gewerbegebiet gelegen, aufgeteilt in verschiedene Bereiche, sogenannte Barrios, wo sich Gleichgesinnte zusammenfinden. Es gibt das Family-Barrio, das Verdi-Barrio, das Queer-Barrio, das Anarchisten-Barrio, das Salsa-Barrio und noch viele andere. Für fast jede linke Splittergruppe findet sich also ein Fleck Wiese, um Zelte aufzuschlagen.
Das Grundorganisationsprinzip für die Teilnehmer, von denen die Mehrzahl kaum älter als Mitte 20 ist, lautet Vertrauen und Freiwilligkeit statt Kontrolle und Zwang. Wunderbarerweise funktioniert es.

Micha, 17 Jahre alt, hat lange dunkle Rastalocken, schwänzt seine Schule in Niedersachsen und schnippelt Kartoffeln für die "Volxküche", wie sich die Kantinen hier nennen. Er ist gekommen, weil er am Info-Point einen Zettel gesehen hat, dass noch Küchenhilfen gesucht werden.
"Na klar, kannst gern ein bisschen mit anpacken", sagt er und schiebt ein Küchenmesser mit abgebrochener Spitze rüber. So hackt man dann gemeinsam vor sich hin, Micha redet - ziemlich ahnungslos - über die Globalisierung und regt sich ein bisschen über die zwei Polizeibusse auf, die vor dem Lager stehen. "Die wollen uns doch nur provozieren. Aber das klappt nicht."
Jeder bekommt gratis zu essen in den "Volxküchen", auch Geschirr wird ohne Pfand ausgegeben. Das kann nur funktionieren, wenn es in der Spendenbox klingelt, auf der steht: "Sonst gibt es morgen nichts zu essen." Es klappt, alle zahlen, genauso wie jeder auch ohne Kontrolle die Campinggebühr von fünf Euro am Eingang hinterlassen hat.

Camp Reddelich ist wie ein riesiger Ameisenhaufen: Im Detail oft chaotisch, aber in der Gesamtschau funktioniert es ganz gut. Abends werden die Wachdienste eingeteilt, für die sich ebenfalls freiwillige Helfer melden. Zuvor wurde unterm Dach des großen, blauen Versammlungszeltes noch ausführlich über die Sicherheitslage diskutiert. Nazis oder Polizei könnten das Camp nachts überfallen, so lautet die etwas abwegige Befürchtung, deshalb werden Sammelpunkte und Abwehrstrategien diskutiert.

Diskutieren heißt, dass sich jeder der etwa 50 Teilnehmer zu Wort melden kann, so lange und oft er will. Und dass jeder Satz anschließend ins Englische übersetzt wird. Zustimmung wird mit dem Schütteln der Hände über dem Kopf signalisiert, Ablehnung mit dem Kreuzen der Arme vor der Brust. Es dauert stundenlang und verlangt eine Menge Disziplin. Kurz wird auch eine Farbbeutelattacke auf ein Technikerteam des ZDF besprochen, das eine Relaisstation neben dem Gelände betreibt. "Wir entschuldigen uns dafür", schlägt der Berichterstatter vor. Die Hände gehen hoch und winken.

Währenddessen hat das Feierabendprogramm für Globalisierungskritiker begonnen. Grüppchen sammeln sich um kleine Feuer, es wird getrunken und gelacht. Auf der Bühne hinter der Bundesstraße wird die Band Ärzte nachgespielt, es schallt "Hip-hip hurra! Alles ist super, alles ist wunderbar" über die Wiese. Im Queer-Barrio singt eine dicke Engländerin schwülstig-lustige Liebeslieder, ein hübscher Südländer klampft Manu Chao auf seiner Gitarre. Zufriedene Gesichter summen mit.

Dem Charme der friedlich-freundlichen Stimmung können sich nicht einmal die zwei Wachhunde der vom Camp eingeschlossenen Fleischerei Hackendahl entziehen. Sie strecken ihre Schnauzen unter dem Hofgatter durch, um sich von einer Kurzhaarigen streicheln zu lassen: "Ihr bekommt zu wenig Liebe, stimmt's?", haucht sie ihnen ins Ohr.

Ein lauter Furz im Nebenzelt; das Tack-Tack-Tack eines Hubschrauberrotors, in das sich der Ruf "Scheißbullen, verpisst Euch" mischt; aus einem Radio brüllt aggressiver Ska-Punk. Das ist die nervige Geräuschkulisse am Morgen um kurz nach neun. Das Lager erwacht, manch einer klagt über einen Kater. Nach einem Emaillebecher Kaffee aus der "Volxküche" sieht die Welt dann schon wieder besser aus. Gut genug für die meisten, um das Refugium Camp Reddelich zu verlassen und sich allmählich aufzumachen, auf zu den Demos und Blockaden, auf zu den Rangeleien mit der Polizei.
Berliner Zeitung, 07.06.2007

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