Knaller an der Zeitungsfront

Wednesday, September 05, 2007

Wilde Jagd auf dem Flughafen (Berliner Zeitung)

BLINDSEIN
Wilde Jagd auf dem Flughafen
Torsten Harmsen

Neulich hatten wir mehrtägigen Besuch. Ein befreundetes Pärchen, das weit im Westen lebt, wollte in Berlin etwas erledigen und fragte, ob es bei uns wohnen könne. Natürlich! So etwas machen wir gerne! Eine Besonderheit hat das Pärchen allerdings: Es ist blind.

"Da brauchen wir wenigstens vorher nicht sauber zu machen", sagte ich, um einen kleinen Witz zu machen. Frau und Kinder riefen empört, ich solle mich gefälligst zusammenreißen und froh sein, dass mir ein solches Schicksal erspart geblieben sei. Worauf ich abergläubisch auf Holz klopfte und Reue zeigte. Am folgenden Tage kamen unsere Gäste, mit langen Stöcken und Rucksäcken. Er: klein und schmächtig. Sie: groß und dick. In der Mitte meine Frau, die sie vom Bahnhof abgeholt hatte. Sie erzählte, dass auf dem Weg ein Mädchen, das diesen seltsamen Aufzug angestarrt hatte, mit einem Mann zusammengestoßen sei. Der habe gerufen: "Ej, Augen auf! Bist du blind?" Die Drei lachten noch immer.

Unsere Gäste eroberten sich ihre neue Umwelt schnell, tasteten sich durch die Räume, ließen sich Bilder erklären, griffen nach Skulpturen und Geräten. Immer hieß es: "Guck doch mal. Das sieht doch schön aus!" Oder: "Schau mal hier, das haben wir doch auch zu Hause." Die Kinder amüsierten sich über das "Guck mal" und fragten den Gästen Löcher in den Bauch: etwa, ob sie sich Farben vorstellen könnten.

Unsere Freunde bestanden darauf, das Essen zu machen. Dazu musste der Hausherr umherflitzen und auf Kommando alle Utensilien zusammenholen. Der Reis kam in eine Glasform, wurde gewürzt, mit Zutaten vermengt - darunter akkurat nach Gefühl geschnittene Tomaten. Mit den Händen im Essen zu matschen - das hatten wir den Kindern spätestens im dritten Lebensjahr ausgetrieben. Nun fragten wir uns plötzlich: Warum eigentlich?

Schnell schlossen die Kinder unsere Gäste in ihr Herz. Wohl auch, weil unsere Freundin - eine gebürtige Australierin - sehr schön Klavier spielte und einen Tierstimmenwettbewerb eröffnete, bei dem wir vor Lachen unter den Tisch rutschten. Sie reüssierte als Hahn, meine Tochter als Hund und ich als Pferd. Vor dem offenen Fenster liefen irritierte Leute vorbei.

Unser Freund - ein Tontechniker mit riesiger Plattensammlung zu Hause - untersuchte mit sehenden Fingern einen kaputten Recorder und erzählte Geschichten. Zum Beispiel, wie er mit zwei blinden Kumpels auf dem Frankfurter Flughafen ein Wettrennen veranstaltet hatte - auf dem Laufband, aber in der Gegenrichtung. Am Piepsen ihrer Signalgeber konnten sie feststellen, wo der jeweils andere war. Während sie mit ihren Stöcken über das Laufband hasteten, als hätten sie sich verirrt, riefen Leute: "Keine Panik, Sie müssen sich nur umdrehen!"

Ein anderes Mal fuhren er und einige Freunde Tandem. Auf dem Vordersitz saß jeweils ein Sehender, hinten ein Blinder. Mitten in der Stadt streiften sich die Sehenden aus Spaß die Blindenbinden über. Während die Räder über den Marktplatz eierten, riefen die Leute panisch nach der Polizei.

So viel unsere Freunde auch über solche Dinge lachten, so sehr spürten wir den Aufwand, den sie treiben mussten, um den ganz normalen Alltag zu bewältigen. "Was isst du gerade?" - "Was steht dort?" - "Zeigst du mir bitte mal den Weg?" Was andere nebenbei machen, das verlangt von ihnen ständige Initiative. Sie schilderten, wie schwer es ist, sich auf dem Bahnhof anhand der Geräusche zu orientieren, während jemand gaffend neben einem herläuft, um mal zu sehen, "wie Sie das machen" - und dabei die Geräuschlandschaft verfälscht. Unser Freund erzählte, wie er im Kaufhaus über einen nachlässig abgestellten Koffer gestolpert und mit ihm die Rolltreppe heruntergesaust sei. Wie Aladin auf dem fliegenden Teppich.

Im Fahrradladen kauften sich beide laute Klingeln für ihre Stöcke, statt der Pling-Pling-Dinger, die sie bisher genutzt hatten. Da kam ein Mann in den Laden, sah die beiden beim Klingeltest und begann zu diskutieren: "Ist das denn nicht zu schrill? Werden Sie denn damit nicht zu aufdringlich?" Nun folgte einer der seltenen Momente, in denen den beiden der Kragen platzte: "Wissen Sie, wie oft uns jemand im Weg steht? Glauben Sie, die Leute gehen weg? Da reicht ein Pling-Pling überhaupt nicht. Oder was denken Sie, wie oft wir im Laden stehen und niemand kommt. Wir werden ganz einfach ignoriert."

Abends imitierten wir dann wieder Tierstimmen, lachten und tranken Wein. Das Leben ist ein Spaß. Trotz allem. Man muss nur immer wieder lernen, es so zu sehen.

Berliner Zeitung, 05.09.2007

0 Comments:

Post a Comment

<< Home