Der Last-Minute-Loser (SZ)
28.06.2007 11:35 Uhr
Das Internetvideo der Woche
Der Last-Minute-Loser
Besser als die Tour de France: Ein Radrennfahrer jubelt wenige Meter vor der Ziellinie über seinen Sieg. Jetzt kann er nicht mehr verlieren, scheitern, stürzen... Doch, er kann, und wie - ein ganz bitterer Moment in der Clip-Kritik.Von Christian Kortmann
Regenwetter, verzerrte Lautsprecherdurchsagen, Tropfen auf dem Objektiv des Amateurfilmers, graue Häuser an der Hauptstraße einer Kleinstadt in Belgien oder Nordfrankreich. Menschen mit Regenjacken und Schirmen verfolgen die Zielankunft eines Radrennens. Der sichere Sieger biegt auf die Zielgerade ein. Unterlenkerposition, hoher Gang, er hat sich über die letzten Kilometer einen anstrengenden Zweikampf geliefert und die Muskulatur dabei übersäuert. Lange schwarze Ärmel unterm Trikot, es ist eigentlich zu kühl und nass zum Radfahren, aber er hat sich gequält und jetzt fährt er zu seinem verdienten Sieg.
Doch in letzter Sekunde kippt der Münzwurf des Schicksals und bleibt mit der Pechseite nach oben liegen: Als der Rennfahrer die Arme zum Jubel über den Kopf reißt, rutscht ihm das Rad unterm Körper weg, und er stürzt - wenige Meter vor der Ziellinie. Er erkennt sein fürchterliches Missgeschick und will sofort weiterfahren, doch ist die Kette abgesprungen und er muss schieben. Da wird er tatsächlich noch vom Verfolger überholt. Der sichere Sieger hat sich zu früh gefreut."Cocky Winner..." heißt dieser Clip, und das offene Ende des Titels zeigt, dass die Großspurigkeit des Gewinners Konsequenzen hat, die darin bestehen, dass er einen plötzlichen Wechsel seines Images erleidet: Vom Champion in Gelb mutiert er zum tollpatschigen Verlierer, vom Herrscher hoch zu Ross zum schiebenden Knappen. So unverhofft schnellt sein Rad unter ihm weg, dass er es, so er denn an Gott glaubt, wie einen göttlichen Bestrafungsblitz ob seines Hochmuts empfinden muss. Denn auch ein freihändig gefahrenes Fahrrad ist eine stabile Angelegenheit - eigentlich.
Und von solchen "eigentlich" wimmelt es ja im Leben, völlig unverhoffte Missgeschicke lauern heimtückisch, am liebsten in Situationen, in denen man sich unantastbar glaubt. Ähnlich wie der bereits besprochene Clip "Idiot mit einer Hantel" gehört "Cocky Winner..." in die Rubrik "Pleiten, Pech und Pannen". Hier wie dort wird neben aller Schadenfreude in wenigen Sekunden ein komplexer Sachverhalt illustriert. Man kann "Cocky Winner..." nämlich als Allegorie des Radsports in Zeiten der Doping-Krise betrachten, wo es neuerdings ja nur noch Sieger auf Bewährung gibt: Floyd Landis war bei der Tour 2006 King for a day, bis sein Testosteron-Doping aufflog und ihn zum Verlierer machte.
Eine Portion Killerinstinkt
Die Geräuschkulisse in "Cocky Winner..." verleiht der emotionalen Interaktion zwischen Publikum und Sportler in unnachahmlicher Weise Ausdruck. Ja, die Lautäußerungen der vielen Einzelnen formen einen objektiven Pegel kollektiver Intelligenz, einen akustisch präzisen Abdruck des Geschehens: Zuerst der allgemeine Jubel, bei dem die Fans von Führendem und Verfolger das Ergebnis akzeptiert haben und für die Leistung beider Fahrer klatschen. Dann das Aufschreien beim Sturz, man hört den langgezogenen Fluch "Putain!".
Dann ungläubiges Durcheinanderexklamieren angesichts des Chaos. Der vermeintlich Geschlagene eilt heran: Momente des gelähmten Entsetzens, des Verstehens, welche neue Rennsituation sich eingestellt hat. Nun gewinnen die Fans des doch noch einmal beschleunigenden Verfolgers wieder die Oberhand, jubeln ihn zum Sieg. Kreischen der Kinder ist zu hören, die solch eine Überraschung besonders lustig finden. Am Ende ist der Sound auf dem Niveau vom Beginn, man hat die neue Wirklichkeit akzeptiert, so ist Sport - Hauptsache, es gibt einen Sieger.Und das ist die zweite Geschichte, die hier erzählt wird: die des Verfolgers, der niemals aufgehört hat, an den Sieg zu glauben. Jan Ullrich wurde einst vorgeworfen, er habe keinen Killerinstinkt, als er nach einem Sturz von Lance Armstrong auf seinen Gegner wartete. Diese Bedenken sind dem Verfolger in "Cocky Winner..." fremd. Das Publikum akzeptiert dies, bestraft sein kühles Ausnutzen des Missgeschicks nicht mit Pfiffen.
Scheitern am Selbst
Doch das Schöne an diesem Film ist, dass nicht der tatsächliche Sieger, sondern der Verlierer im Vordergrund steht. So macht der "Cocky Winner..." die Scheinhaftigkeit von Siegen transparent: Denn Ziellinien sind ja immer nur relativ. Ob die Verfehlung kurz vor oder kurz nach dem Ziel geschieht, ist deshalb nur oberflächlich relevant. Am Ende bleibt auch von einem formalen Sieg - wie jenem von Floyd Landis - nach der Enthüllung nichts übrig.In Zeiten, da sportliche Höchstleistungen zweifelhaft geworden sind, ist der Verlierer ohnehin die interessantere Figur: der Verweigerer, der an den Zwängen des Systems und sich selbst scheiternde Rebell, der Körperkünstler, der das Recht hat, das Werk, das er geschaffen, im letzten Moment zu zerstören. Und hier ist er, besser als drei Wochen Tour-de-France-Live-Berichterstattung: der Last-Minute-Loser.
Das Internetvideo der Woche
Der Last-Minute-Loser
Besser als die Tour de France: Ein Radrennfahrer jubelt wenige Meter vor der Ziellinie über seinen Sieg. Jetzt kann er nicht mehr verlieren, scheitern, stürzen... Doch, er kann, und wie - ein ganz bitterer Moment in der Clip-Kritik.Von Christian Kortmann
Regenwetter, verzerrte Lautsprecherdurchsagen, Tropfen auf dem Objektiv des Amateurfilmers, graue Häuser an der Hauptstraße einer Kleinstadt in Belgien oder Nordfrankreich. Menschen mit Regenjacken und Schirmen verfolgen die Zielankunft eines Radrennens. Der sichere Sieger biegt auf die Zielgerade ein. Unterlenkerposition, hoher Gang, er hat sich über die letzten Kilometer einen anstrengenden Zweikampf geliefert und die Muskulatur dabei übersäuert. Lange schwarze Ärmel unterm Trikot, es ist eigentlich zu kühl und nass zum Radfahren, aber er hat sich gequält und jetzt fährt er zu seinem verdienten Sieg.
Doch in letzter Sekunde kippt der Münzwurf des Schicksals und bleibt mit der Pechseite nach oben liegen: Als der Rennfahrer die Arme zum Jubel über den Kopf reißt, rutscht ihm das Rad unterm Körper weg, und er stürzt - wenige Meter vor der Ziellinie. Er erkennt sein fürchterliches Missgeschick und will sofort weiterfahren, doch ist die Kette abgesprungen und er muss schieben. Da wird er tatsächlich noch vom Verfolger überholt. Der sichere Sieger hat sich zu früh gefreut."Cocky Winner..." heißt dieser Clip, und das offene Ende des Titels zeigt, dass die Großspurigkeit des Gewinners Konsequenzen hat, die darin bestehen, dass er einen plötzlichen Wechsel seines Images erleidet: Vom Champion in Gelb mutiert er zum tollpatschigen Verlierer, vom Herrscher hoch zu Ross zum schiebenden Knappen. So unverhofft schnellt sein Rad unter ihm weg, dass er es, so er denn an Gott glaubt, wie einen göttlichen Bestrafungsblitz ob seines Hochmuts empfinden muss. Denn auch ein freihändig gefahrenes Fahrrad ist eine stabile Angelegenheit - eigentlich.
Und von solchen "eigentlich" wimmelt es ja im Leben, völlig unverhoffte Missgeschicke lauern heimtückisch, am liebsten in Situationen, in denen man sich unantastbar glaubt. Ähnlich wie der bereits besprochene Clip "Idiot mit einer Hantel" gehört "Cocky Winner..." in die Rubrik "Pleiten, Pech und Pannen". Hier wie dort wird neben aller Schadenfreude in wenigen Sekunden ein komplexer Sachverhalt illustriert. Man kann "Cocky Winner..." nämlich als Allegorie des Radsports in Zeiten der Doping-Krise betrachten, wo es neuerdings ja nur noch Sieger auf Bewährung gibt: Floyd Landis war bei der Tour 2006 King for a day, bis sein Testosteron-Doping aufflog und ihn zum Verlierer machte.
Eine Portion Killerinstinkt
Die Geräuschkulisse in "Cocky Winner..." verleiht der emotionalen Interaktion zwischen Publikum und Sportler in unnachahmlicher Weise Ausdruck. Ja, die Lautäußerungen der vielen Einzelnen formen einen objektiven Pegel kollektiver Intelligenz, einen akustisch präzisen Abdruck des Geschehens: Zuerst der allgemeine Jubel, bei dem die Fans von Führendem und Verfolger das Ergebnis akzeptiert haben und für die Leistung beider Fahrer klatschen. Dann das Aufschreien beim Sturz, man hört den langgezogenen Fluch "Putain!".
Dann ungläubiges Durcheinanderexklamieren angesichts des Chaos. Der vermeintlich Geschlagene eilt heran: Momente des gelähmten Entsetzens, des Verstehens, welche neue Rennsituation sich eingestellt hat. Nun gewinnen die Fans des doch noch einmal beschleunigenden Verfolgers wieder die Oberhand, jubeln ihn zum Sieg. Kreischen der Kinder ist zu hören, die solch eine Überraschung besonders lustig finden. Am Ende ist der Sound auf dem Niveau vom Beginn, man hat die neue Wirklichkeit akzeptiert, so ist Sport - Hauptsache, es gibt einen Sieger.Und das ist die zweite Geschichte, die hier erzählt wird: die des Verfolgers, der niemals aufgehört hat, an den Sieg zu glauben. Jan Ullrich wurde einst vorgeworfen, er habe keinen Killerinstinkt, als er nach einem Sturz von Lance Armstrong auf seinen Gegner wartete. Diese Bedenken sind dem Verfolger in "Cocky Winner..." fremd. Das Publikum akzeptiert dies, bestraft sein kühles Ausnutzen des Missgeschicks nicht mit Pfiffen.
Scheitern am Selbst
Doch das Schöne an diesem Film ist, dass nicht der tatsächliche Sieger, sondern der Verlierer im Vordergrund steht. So macht der "Cocky Winner..." die Scheinhaftigkeit von Siegen transparent: Denn Ziellinien sind ja immer nur relativ. Ob die Verfehlung kurz vor oder kurz nach dem Ziel geschieht, ist deshalb nur oberflächlich relevant. Am Ende bleibt auch von einem formalen Sieg - wie jenem von Floyd Landis - nach der Enthüllung nichts übrig.In Zeiten, da sportliche Höchstleistungen zweifelhaft geworden sind, ist der Verlierer ohnehin die interessantere Figur: der Verweigerer, der an den Zwängen des Systems und sich selbst scheiternde Rebell, der Körperkünstler, der das Recht hat, das Werk, das er geschaffen, im letzten Moment zu zerstören. Und hier ist er, besser als drei Wochen Tour-de-France-Live-Berichterstattung: der Last-Minute-Loser.
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