Knaller an der Zeitungsfront

Tuesday, July 03, 2007

Was für ein Land! (Berliner Zeitung)

Was für ein Land!
Die Italiener sehen sich selber mit Selbstironie. Das rettet sie. Das macht sie einzigartig, sexy. Eine Abschiedshymne
Oliver Meiler

ROM. Italien! Kein anderes Land der Welt, diese gefühlte und natürlich völlig haltlose These sei zum Abschied gewagt, macht es einem so schwer, loszulassen und zu gehen, wie eben dieses hier: Italien. Che paese! Was für ein Land!

Dabei macht Italien ja jeden verrückt mit den alltäglichen Sottisen seiner Politiker, dem Kafkaesken seiner Behörden, den Streiks, dem Chaos, den brennenden Müllbergen, den kleinen und großen Affären, Skandalen, Verschwörungstheorien. Italien!

Am meisten macht Italien die Italiener selber verrückt. Was beklagen sie sich nicht gerne über ihr Land. Was preisen sie nicht das Ausland (außer vielleicht Frankreich, aber das liegt am Fußball). Nur weg, sagen sie. Aber keiner geht freiwillig. Das Lamento ist Schein. Weil es schwer fällt, Italien zu verlassen. Weil es einem das Herz einschnürt beim Gehen: Rom, das Dämmerlicht, der Quartierklatsch beim Barbiere (Ciao, Adriano!), die Sprüche der Alten auf der Piazza, der feine Witz, die Selbstironie, der Calcio (Forza Roma! Sempre!), die Schwaden aus der Kaffeerösterei, die ausufernden Sonntagnachmittage mit Freunden, die wunderbar geschwätzigen Zeitungen, die Bar (Ciao, Andrea!), der Fiat 600, unsere Straße. Italien. Che paese.

Ur-Übel Staat

Es ist eine fatale Liebe, die den Menschen (und den Gast im Besonderen) an Italien bindet. Sinnliches, romantisiertes, überzeichnetes Italien. Das war schon bei Goethe so: Zitronen, Zauber, Akazien. Trotz zubetonierter Strände, trotz Disneylandisierung der Kulturstädte bleibt Italien erotisch. Italien macht die schönsten Möbel, die schönsten Kleider und (endlich wieder, Fiat lux!) schöne Autos. Italien hat Geschmack, Stil, schöne Menschen. Italien ist spannend, verschroben, skurril. Zuweilen mutet es an wie ein Selbstversuchslabor. Italien leistet sich Figuren pseudonapoleonesken Zuschnitts als Regierende, über die sich die Welt wundert. Die Italiener stört das nicht, sie lachen mit.

Italien ist voller Widersprüche und lebt sie alle aus. Italien ist das große Nord-Süd-Gefälle im Kleinen: ein Stiefel, zwei Paar Schuhe. Nördlich von Rom schaffen sie vier Fünftel des Reichtums des ganzen Landes; südlich leben sie von Politik, von Subventionen, im Schatten. Kann das gut gehen? Es geht nicht gut. Aber es geht.

Ja, wie geht das überhaupt? Die Sozialkosten explodieren, die Gesellschaft überaltert, die Verschwendung öffentlicher Gelder ist kolossal. Die Steuerhinterziehung ist gewaltig, wie auch die Staatsverschuldung. Italien ist chronisch unreformierbar, die Gewerkschafter sind Maximalisten, die Arbeitgeber Minimalisten. Und die Politiker erst: Sie kümmern sich nur um sich selbst. Und doch geht es. Wie macht Italien das nur? Wie funktioniert Italien?

Nun, es gibt zwei Italien. Es gibt das vordergründige Italien, das sichtbare und scheinbar chaotisch-anarchisch-komische mit seinen schlechten Statistiken und dem barocken Lebenswandel, das man als kollektives Ganzes wahrzunehmen glaubt, als malträtiertes Gemeinwesen. Und es gibt das hintergründige, das wahre und peinlich gut geordnete Italien, das man nur durch die Sonnenbrille sieht, ungeblendet, eine Parallelwelt, geprägt von vielen Individualisten mit ihren Netzwerken und von kartellähnlich organisierten Korporationen, Vereinen, Clans.

Die beiden Welten, die öffentliche und die halböffentliche (bis halbseiden-untergründige), bedingen einander. Sie greifen aber nicht ineinander. Manchmal spiegeln sie sich. Die zweite Welt hinterlässt keine Spuren in den Statistiken, auf den Kassenzetteln, im Haushalt Italiens. Offiziell gibt es sie nicht, doch hat sie klare Konturen, scharfe Grenzen. Sie folgt Gesetzen - sie schon. Ohne sie ginge nichts.

Am Anfang der vordergründigen Welt aber steht, gleichsam als Ur-Übel und Ursprung, der schwache italienische Staat, Frucht einer späten nationalen Einigung, nie gereift. Das Übel ist erkannt, doch niemand trachtet danach, es zu beheben. Dafür müssten zum Beispiel Zentralrechner verschiedener Behörden vernetzt werden, was die Kontrollen unerwünscht effektiv machen würden - für alle. Dafür müssten sich die Polizisten, Hüter des Rechts, einen dämmerfreien Leumund zulegen. Dafür müsste der Staat dem Bürger dienen.

Stattdessen dies: Wer nur irgendwie kann, betrügt den Fiskus, die Mächtigsten und Reichsten am meisten; im Wochenrhythmus fliegen Betrügerbanden, Drogenringe und Spionagezirkel auf, in denen Polizisten mittun; und wer sich schon von einem Beamten mit Lebensstelle, arrogant und voller Unlust, plagen lassen musste, weiß um die Haltung im staatlichen italienischen Dienstleistungsbereich.

Das Theater der "Kaste"

Der Staat ist der Feind der Italiener - außer natürlich jener etwa vier Millionen, die vom Staat leben. Sie stehen an der Drehtür zur Parallelwelt. Für sie ist der Staat schon die private Dimension. Viele hohe Beamte leben gut vom Staat. Am besten aber lebt jene halbe Million Italiener von ihm, die am Tropf der Politik hängt: als Parlamentarier, Parteifunktionäre, Minister, Provinzräte. Oder als deren Chauffeure, Kofferträger, Berater. Kein anderes westliches Land leistet sich einen größeren und teureren Politapparat als Italien. Man nennt ihn "la casta". Die Kaste zeichnet sich durch einen geringen moralischen Anspruch an sich selbst und durch starken inneren Zusammenhalt aus. Die Politiker treffen sich in so genannten "Salotti", in Hinterzimmern der Macht, untergebracht in den Palazzi des Halbadels. Dort gehen Kommunisten und Faschisten Arm in Arm hin. Dort entscheidet sich das Schicksal des Landes.

Im Parlament läuft dann das Theater für die Plebs, inszeniert als Zirkus mit wüsten Szenen, Tumulten, Injurien. Viel ist selten dran. Auch an den Krisen nicht. Regierungskrisen gehören dazu. Sie tragen zur Stabilität der Kaste bei, halten den Postenschacher lebendig, ermöglichen erst den Markt der Gefälligkeiten. Das politische Personal ist seit Jahrzehnten dasselbe. Die Kaste hat einen Instikt zur Selbsterhaltung. Die Politik spült alle weich, auch jene, die als Revolutionäre angetreten waren, etwa Umberto Bossi von der Lega Nord. Oder Silvio B. Alle werden eingesumpft. Links, rechts, egal.

Das Volk ist nur Publikum. Die Distanz zur Bühne, zur Politik und zum Staat, wächst. Im Volk herrscht die Meinung vor, Politik und Staat fräßen sich auf Bürgerkosten fett. In diesem Klima schwindet der ohnehin schwache Sinn fürs Kollektive, Staatliche. Den Fiskus zu umgehen, gilt als legitime Rache, vor allem im prosperierenden Norden. Geschätzte 270 Milliarden Euro, so die jüngsten Zahlen des nationalen Statistikamtes, verliert der Staat jährlich an Steuereinnahmen: zweihundertsiebzig Milliarden! Wahrscheinlich ist es viel mehr. Das Geld bleibt im Volk, in der der Parallelwelt, im Gespinst der privaten Netze. Es garantiert vielen das Überleben, etlichen ein gutes, manchen ein sehr gutes Leben.

Die Politik gelobt, das Phantom zu bekämpfen, lebt aber gut mit ihm.

Am Anfang des hintergründigen, des wahren Italiens steht die Familie. Immer noch. Sie hilft den Kindern aus der Falle ihrer 700-Euro-Jobs, meist mit einer Wohnung als Startkapital. Dafür arbeiten viele Eltern ein Leben lang. Studienabgänger können im besten Fall auf einen Job "al nero" hoffen: schwarz, ohne Sozialabgaben. Selbst im Parlament sind neun von zehn Assistenten illegal angestellt. Ein Skandal? So wachsen junge Italiener auf, illusionslos. Ohne Startkapital und ohne Familie geht nichts. Hat die Familie einen Betrieb, arbeiten die Kinder dort. Gehört der Vater einer organisierten Berufskategorie, einem Verband, einer Gewerkschaft an, sorgt er für den Nachzug des Nachwuchses. Fährt der Vater Taxi, tut das wahrscheinlich auch der Sohn. Das sind alte, unmoderne Muster.

Familiäre und freundschaftliche Empfehlungen sind in Italien alles, Befähigungen höchstens sekundär. In der politischen Kaste sind sie Meister im Platzierungsspielchen. Jeder kommt unter. Jobausschreibungen sind meistens fiktiv, Wettbewerbe manipuliert. Die meisten Korporationen funktionieren so. Natürlich auch die Mafia, nur halt kriminell. Die Mafiaclans sind nichts anderes als geschlossene, streng hierarchisierte Korporationen, die sich als Alternative zum schwachen Staat gerieren. Am oberen Ende der moralischen Skala stehen Millionen freiwilliger Helfer, engagiert in humanitären, religiösen und sozialen Organisationen. Nirgendwo in Europa gibt es mehr Nächstenliebe als in Italien, mehr Herz für Schwache. Die "volontari" sorgen sich um jene, die keiner einflussreichen Subgesellschaft angehören, die der Staat nicht tragen kann oder mag.

Das Leben, ein Fest

Der Groll auf den Staat müsste groß sein, viel größer als das rituelle Lamento, er müsste sich in Protesten entladen. Wenigstens jene Millionen müssten doch protestieren, die den Fiskus nicht täuschen können, weil ihnen die Steuern vom Lohn abgezogen werden. Doch der Groll löst sich in Selbstironie auf. Che paese!

Die Italiener können mit ihren Schwächen umgehen, sie können über sich lachen. Das ist eine ihrer großen Stärken, vielleicht die größte. Das macht sie einzigartig, leichtfüßig, sexy. Die Selbstironie nimmt dem Alltag die Kanten, dämpft die Strenge, stimuliert die Kreativität. Sie verhindert jede Reform, jede Veränderung. Sie konserviert. Und sie feiert das Leben. Immer, trotz allem.
Und jetzt der Abschied. Ganz schnell. Dann fällt es leichter. Ciao.
Berliner Zeitung, 03.07.2007

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