Knaller an der Zeitungsfront

Thursday, June 28, 2007

Ein Abend in der Hölle (Berliner Zeitung)

Ein Abend in der Hölle
Lou Reed spielt im Tempodrom sein "Berlin"-Album
Jens Balzer

BERLIN. Am Dienstag hat Lou Reed im Tempodrom in Berlin sein 34 Jahre altes Album "Berlin" zu Gehör gebracht. Es war ein historischer Abend: das schlechteste, grauenerregendste Konzert, das seit langem auf einer Berliner Bühne zu sehen war; ein künstlerischer Bankrott, wie man ihn selbst von dem zeit seiner Karriere immer mal wieder zu Ausrutschern neigenden Reed nicht erwartet hätte.

"Berlin" erzählt in zehn Liedern die Geschichte einer scheiternden Liebesbeziehung. "In Berlin by the wall" treffen sich Caroline und Jim; erst küssen sie sich, dann schlagen sie sich, später schlitzt sich Caroline die Pulsadern auf. Im Original trägt Reed diese erschröckliche Geschichte im nüchternen Moritatenton vor. Auch wenn "Berlin" nicht sein bestes Album ist - diese Kühle, dieser spartanische Stil sind immerhin interessant.

Nicht so im Gedächtniskonzert: Hierfür hat sich Reed von dem Produzenten Hal Willner ein ultradickes Classic-Rock-Arrangement schneidern lassen, das mit den abgegriffensten Mitteln versucht, der Musik Groove und Fülle zu stiften. Unter den traurigen Weisen gurgelt jetzt unablässig ein Schulmädchenchor in bläulich-weißen Gewändern; eine voluminöse Frau mit soulvoller Stimme kreischt sich öde die Seele aus dem Leib. Ein Bläserquartett behupt jeden Taktwechsel, als befände man sich in einem "Blues Brothers"-Film; der schon bei früheren Lou-Reed-Tourneen unangenehm aufgefallene Fernando Saunders klebt mit seinem weichen Bass von unten an der Musik wie Schlick an einem Dampfer.

So zeitlos die "Berlin"-Songs in den Siebzigerjahren auch klangen, so verrottet wirkt jetzt ihr Retro-Makeup. Im Hintergrund flimmern Videofilmchen, in denen zwei Schauspieler die Story nachstellen - allerdings spielen sie nicht in Berlin, sondern in irgendeiner amerikanischen Stadt. Das Konzert hingegen findet direkt in der Hölle statt: in einer Hölle, in der die Betrunkenen ihren Banknachbarn hundert Mal erzählen, dass "der Lou" jetzt bestimmt gleich seinen "Klassiker" spielen wird, "Take the ride on the wild road, damit isser berühmt geworden in den Sechzigern, düd-de-düd-dü-düd-düd-düd"; in einer Hölle, in der Zombies mit Pferdeschwänzen und in schlabbernden Lederhosen noch die leisesten Stellen durch unermüdliches "Lou"-Rufen zerfetzen. "Ich hätte niemals begonnen", singt Lou Reed am Schluss von "Berlin", "hätte ich gewusst, wie das endet."

Berliner Zeitung, 28.06.2007

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